Spielstädte als Aneignungsräume und temporäre Partizipationsorte in der Bildungslandschaft – Eine rekonstruktive Sozialreportage am Beispiel „Mini-München“

Ulrich Deinet

Einleitung

Den Hintergrund für diesen Beitrag bildet ein dreitägiger Besuch bei der zum 18. Mal stattfindenden Kinderspielstadt Mini-München im August 2016 sowie eine ebenfalls dort durchgeführte Fachveranstaltung zum Thema dieses Beitrags [1]. Die Spielstadt Mini-München gilt heute als Vorbild für zahlreiche ähnliche Spielstädte in anderen Kommunen in Deutschland, z. B. dem „Düsseldörfchen“ in Düsseldorf. Spielstädte sind temporäre Städte, die von Kindern regiert, belebt und gestaltet werden und die durch spezielle Arrangements von Sozialformen, Angeboten, Gebäuden und Institutionen charakterisiert sind.

Die Spielstadt Mini-München findet auf einem ehemaligen Industriegelände statt, das über große Hallen und Außenflächen verfügt. Von Montag bis Freitag (10.00 bis 17.00 Uhr) können maximal 2.500 Kinder zwischen sieben und 15 Jahren kostenlos an der Spielstadt teilnehmen, die Eltern und Gästen gegenüber weitgehend verschlossen ist, so können Eltern maximal ein Visum für eine Stunde bekommen! Als dreiwöchiges Ferienangebot zieht Mini-München sehr viele Kinder aus dem gesamten Stadtgebiet an, die zum Teil jeden Tag anreisen. Erwachsene als Pädagog/innen, Künstler/innen, Handwerker/innen sind die Initiatoren der Spielstadt Mini-München, besonders der Verein Kultur und Spielraum e.V. Zahlreiche Sponsoren unterstützen das Projekt, etwa auch Handwerkerinnungen, und viele städtische Dienststellen, wie z. B. das Gartenamt, sind als Kooperationspartner in der Spielstadt mit einer Werkstatt etc. vertreten.

Die Grundidee besteht darin, eine richtige Stadt im Kleinen nachzustellen und zu spielen, in der es auch alle Einrichtungen gibt, wie Rathaus, Verwaltung, Betriebe, Universität, Arbeitsamt etc. In über 68 verschiedenen Einrichtungen konnten 2014 die Kinder dann Rollen vom Arbeiter bis zum Hochschullehrer übernehmen. Es finden Bürgermeisterwahlen statt, der Stadtrat nimmt Steuern ein, es gibt eine eigene Währung, so dass ein komplettes Eigenleben dieser Ministadt entsteht. Kreatives und künstlerisches Gestalten steht auch deshalb an vorderer Stelle in der Kinderstadt Mini-München, weil die Initiatoren vor allen Dingen aus dem Bereich der Kulturpädagogik kamen und kommen, so dass kulturelle Bildung in ihren unterschiedlichen Facetten ein wesentlicher Hintergrund für die Gestaltung der Stadt bildet.

Im Jahr 2016 besuchten knapp 13.000 Kinder allein in der ersten Woche die Spielstadt (vgl.: http://www.mini-muenchen.info/). Diese können durch ihre Arbeit in Werkstätten und Institutionen sowie ein vierstündiges Studium an der eigenen Hochschule den Status eines Vollbürgers erreichen um dadurch auch selbst wählen, sich zur Wahl zu stellen (z. B. für den Stadtrat) und eigene Betriebe einrichten und damit wirtschaftlich tätig sein. In einer eigens eingerichteten Botschaft sind Abgesandte aus anderen Kinderstädten bis hin zu Mini-Yokohama als Gäste zu Besuch in der Kinderstadt.

Der Besuch und die Eindrücke waren der Anstoß dafür, in diesem Beitrag aus pädagogischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive ansatzweise die gewonnenen Eindrücke zu reflektieren und zu interpretieren, um damit insgesamt zu einer ersten Einschätzung zu kommen, inwieweit Kinderstädte wie Mini-München auch als temporäre Bildungsorte in der Bildungslandschaft gesehen werden können.

Hierzu wird in diesem Beitrag das Format der Sozialreportage (vgl. etwa Braun/Wetzel 2010) gewählt, die die Eindrücke schildert, verdichtet und dann analysiert. Entsprechend beginnt der Beitrag mit Impressionen aus einem Rundgang, der an die Vorstellung der Spielstadt anschließt und zentrale Aspekte besonders herausstellt. Im zweiten Teil geht es darum, die Praxis der Kinderstadt vor dem Hintergrund des Aneignungskonzeptes (Deinet 2014; Deinet/Reutlinger 2009; 2014) zu verstehen und entsprechend zu interpretieren. Im dritten Teil werden erweiterte Bezüge, Vergleiche und Interpretationsrahmen genutzt. So geht es um eine sozialräumliche Betrachtung der Kinderstadt und um die Frage, inwieweit Kinderstädte heute Parallelen aufweisen zu den Kinderrepubliken (vgl. etwa Möbius 1981; Kamp 1995), insbesondere im Bereich der Reformpädagogik. Ein weiteres Thema ist, inwieweit eine Kinderstadt wie Mini-München auch als Planspiel, als kurzzeitpädagogische Maßnahme verstanden werden kann und wie dort die breite Frage politischer Bildung und Partizipation verhandelt wird, die in Mini-München eine besondere Resonanz findet in Bezug auf Wahlen, das Agieren des Stadtrats und die Praxis unterschiedlicher Versammlungs- und Entscheidungsforen. Teil vier reflektiert die Frage, inwieweit Kinderstädte als eigene Sozialräume verstanden werden können. Im fünften Teil geht es um die Entwicklung lokaler Bildungslandschaften und die Frage, inwieweit Kinderstädte dort eingebunden sein könnten, insbesondere unter dem Aspekt der temporären Orte, die bisher dort keine Rolle spielen. Der sechste und letzte Teil beschäftigt sich mit Transfer- und Evaluationsfragen, die möglicherweise in einem Forschungsprojekt bearbeitet werden sollten.

1. Rundgang durch Mini-München, Eindrücke und erste Interpretationen

Der folgende Absatz hat keinen wissenschaftlich systematischen Anspruch, sondern stellt aus Sicht des Betrachters einige interessante Aspekte vor, die besonders auch mit der Organisation, der Struktur und den zahlreichen Facetten der Kinderstadt Mini-München zu tun haben.

1.1 Die organisatorische Leistung

Im Vergleich zu anderen Großveranstaltungen im sozialpädagogischen Bereich, etwa großen Ferienlagern oder den zum Teil sehr weit ausgebauten Ferienprogrammen von Jugendämtern und Trägern ist die Kinderstadt Mini-München mit maximal 2.500 Kindern pro Tag und 12.730 Kindern allein in der ersten Woche in diesem Jahr (Quelle: www.mini.muenchen.info) wohl eine der größten Veranstaltungen bundesweit. Auch auf Grund des offenen Formates (s. u.) stellt die Durchführung einer solchen Veranstaltung (und das über drei Wochen) eine organisatorische Großleistung dar, jenseits aller pädagogischen Inhalte etc. So ist etwa der Einlass bis ins Detail geplant: In einer Kombination von inhaltlichen und organisatorischen Aspekten, wenn etwa Kinder vom Vortag oder Kinder, die in einzelnen Betrieben und Institutionen schon gearbeitet haben etwas früher in die Stadt eingelassen werden, damit die Betriebe auch dann um 10.00 Uhr mit der offiziellen Öffnung zahlreiche Kinder aufnehmen können. Unter dem Aspekt der Projektplanung, Entwicklung und Durchführung stellt Mini-München allein schon ein interessantes Untersuchungsprojekt dar, vor allem was die Binnenstruktur, Kommunikation und die politisch administrative Steuerung mit den Kindern gemeinsam angeht:

12.730 Kinder besuchten in der ersten Woche die Spielstadt, 210 Vollbürgerausweise wurden ausgestellt. Das bisherige Steueraufkommen beträgt 28.030 MiMüs, Betriebseinnahmen von rund 45.634 MiMüs füllen die Stadtkasse – dadurch konnten die Zuschüsse der Betriebe größtenteils bewilligt werden. Die Monster Fruit Aktie hat nach anfänglichen Schwierigkeiten und einem ersten Börsen-Crash am Dienstag um 150 % zugelegt und so konnten 1085 Aktien gezeichnet werden“ (http://www.mini-muenchen.info/)

 

 
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1.2 Das Format: Strukturiert, aber offen

Bei der gewaltigen Zahl von Kindern, die an Mini-München jedes Mal teilnehmen, kann man eigentlich von einem sehr weit durchstrukturierten Anmeldungssystem ausgehen um die Massen irgendwie bewältigen zu können. Und im Gegensatz zu den meisten (viel kleineren) Kinderstädten in Deutschland, bei denen es feste Anmeldungen im Vorfeld gibt, entspricht das Format der Kinderstadt Mini-München den Strukturprinzipien der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Die u. a. von Sturzenhecker immer wieder formulierten Strukturprinzipien „freiwillige Teilnahme, wechselnde Teilnahme, unterschiedliche Teilnehmer/innen, offene Ziele, Inhalte [und] Arbeitsweisen, geringe institutionelle Macht, Diskursivität, Beziehungsabhängigkeit, Haupt-/Ehrenamtlichkeit“ (Sturzenhecker 2015) werden aktuell z. B. in der Frage der Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule diskutiert, wenn es etwa um die Frage geht, inwieweit sich OKJA im Bereich der Ganztagsschule mit kontinuierlichen Angeboten beteiligen soll, bei denen sie einen Teil ihrer Strukturprinzipien aufgeben muss, z. B. weil diese Angebote nicht wirklich freiwillig sind. Die meisten Ferienangebote und auch viele Spielstädte arbeiten mit fester Anmeldung und verlassen damit die Strukturprinzipien der OKJA; Mini-München als größte Spielstadt bleibt diesen weitgehend treu.

Die Spannung zwischen Offenheit und Verbindlichkeit wird durch die Spielregeln strukturiert, die den Kindern, die mitspielen wollen, Regeln auferlegt, etwa dass man erst dann zu einem Vollbürger (mit Wahlrecht, Wählbarkeit und der Möglichkeit einen eigenen Betrieb aufzumachen) werden kann wenn man bestimmte Voraussetzungen erfüllt hat (Vier Std. Arbeit, vier Std. Hochschule und eine Std. „Zoffakademie“). An jedem Vormittag gibt es eine strukturierte Zuordnung von Kindern (mit grüner Karte!), die bereits am Vortag in Mini-München gearbeitet haben und deshalb (natürlich auf freiwilliger Basis) ihre Werkstatt vor der offiziellen Öffnung der Kinderstadt schon wieder aufsuchen können. Der Großteil der Kinder kommt aber zur Kinderstadt und ist relativ frei in der Auswahl der Werkstätten und Betriebe (es stehen ca. 80 zur Verfügung), die einzeln natürlich nur eine begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen können. Deshalb spielt das sogenannte Arbeitsamt eine große Rolle, weil man als Kind dort neue Arbeitsmöglichkeiten finden kann, um sich damit weiter am Spiel beteiligen zu können.

Ohne jetzt weiter in die Aspekte des Planspiels (s. u.) eingehen zu können, ist die Betonung des Formats deshalb auch noch einmal wichtig, weil mit diesem Format Mini-München kein wirkliches Ferienprogramm darstellt (diese laufen immer mit Anmeldung), sondern eine Mischung aus Projekt und offenem Betrieb, das den Kindern damit auch einiges abverlangt, aber auch viele Möglichkeiten bietet. Kinder, die keinen Arbeitsplatz finden (weil sie zu spät kommen oder weil im Augenblick alles belegt ist), können sich im Außengelände aufhalten, werden also nicht abgewiesen, erst bei einer maximalen Zahl von 2.500 Kindern ist dies auch aus Sicherheitsaspekten notwendig.

1.3 Bezüge zwischen der Spielstadt und „realen“ Welt

Bei dem Rundgang fällt auf, dass es zahlreiche Betriebe gibt, die durch Kooperationspartner/innen betrieben werden. Beispiele sind etwa die Gärtnerei, die durch das Gartenamt der Stadt München betrieben wird, oder eine Werkstatt, die durch Handwerksinnungen jeweils eine Woche betrieben wird. Hier stehen dann auch über Pädagog/innen hinaus Fachkräfte aus den jeweiligen Bereichen bereit, so z. B. eine Gärtnerin, die den Kindern zeigt, wie z. B. Sträuße gebunden werden oder Auszubildende aus dem Bereich der Bauwirtschaft, die mit Kindern Gipsmodelle bearbeiten etc. Aus pädagogischer Sicht ist dies besonders interessant, weil Kinder hier über Pädagog/innen hinaus Personen aus dem Bereich von Wirtschaft oder anderen gesellschaftlichen Bereichen erleben, mit denen sie normalerweise wenig Kontakt haben. Diese Arbeitsplätze wecken seitens der Kinder ein hohes Interesse und werden stark nachgefragt und hier lernen Kinder auch Dinge kennen, die sie im schulischen Bereich oder auch in ihrer Freizeit sonst nicht erleben würden. In gewisser Weise kann man hier auch von einer sehr frühen Berufsorientierung (s. u.) sprechen, ähnlich wie beim Stöbertag oder anderen Aktionen in dieser Altersstufe. Über die Werkstätten entstehen auch starke Bindungen der Kinder, die zum Teil ja über mehrere Jahre die Spielstadt Mini-München besuchen. So erklärte uns ein ca. zwölfjähriges Mädchen, dass sie schon mehrere Male als Kind jeweils drei Wochen in der Gärtnerei gearbeitet habe und jetzt endlich als Mitarbeiterin dabei sein könne!


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1.4 Verwaltung und Organisation spielen in der Kinderstadt eine große Rolle

So gibt es in jeder Werkstatt, jedem Betrieb ein Sekretariat, in dem z. B. die Arbeitsleistungen der Kinder in den Mitspielpass eingetragen werden, ebenso wie andere erbrachte Leistungen etc. Dahinter steht zum einen die Notwendigkeit, dass auch in diesem großen System mit sehr vielen Kindern die Regeln eingehalten und das Spiel damit am Laufen gehalten werden muss, aber auch die Möglichkeit für Kinder „Arbeitsplätze“ zu finden, die über die handwerklichen Aspekte auch andere Fähigkeiten in den Vordergrund stellen. Nach Aussage der Mitarbeiter/innen sind diese Arbeitsplätze auch sehr beliebt, auch weil sie eine gewisse Nähe zu den Betreuern herstellen, die sich auf ihre Sekretariate verlassen können müssen!

1.5 Weitere Eindrücke und Zusammenfassung

2. Die Spielstadt als Aneignungsraum

Bei dem Rundgang fällt auf, wie intensiv die Kinder in den einzelnen Werkstätten arbeiten, ebenso der Anregungsreichtum und Aufforderungscharakter von Materialien, Werkzeugen, die in den Werkstätten nicht nur in großen Mengen, sondern auch in hoher Qualität zur Verfügung stehen.


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Diese „Arbeit“ der Kinder würde ich mit dem Aneignungskonzept der kritischen Psychologie als Aneignungstätigkeit interpretieren und damit über die „Beschäftigung“, die im Spiel notwendige Arbeit als Erwerbsarbeit hinaus als gesellschaftliche Tätigkeit der Kinder verstehen. Das Aneignungskonzept, das auch als Tätigkeitskonzept bezeichnet wird, geht von der Vorstellung aus, dass die tätige Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt die Grundlage der Entwicklung eines Menschen darstellt. Im Konzept der sozialräumlichen Aneignung, welches auf die kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie zurück zu führen ist, wird die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt begriffen, die vordergründig in den Orten des informellen Lernens erfolgt (vgl. Deinet 2004: 178). Das Aneignungskonzept wurde in Deutschland in einem ersten Schritt von Holzkamp (1983) auf eine gesellschaftliche Ebene übertragen. Demnach vollzieht sich Entwicklung der Heranwachsenden in der eigentätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt durch die „Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur“ (Deinet 2004: 178). In einem zweiten Schritt kann der Gesellschaftsbezug des Aneignungskonzeptes vor dem Hintergrund sozialökologischer Raummodelle auf die konkreten räumlichen Strukturen übertragen werden. Dieser Schritt ist entscheidend, um den Zusammenhang von Raum und Aneignung für die sozialräumliche Entwicklung von Heranwachsenden untersuchen zu können.

Vor dem Hintergrund der sozialräumlichen Veränderungen von Kindheit und Jugend (z.B. der Verhäuslichung) bietet das Aneignungskonzept der kritischen Psychologie und seine Weiterentwicklung in der sogenannten Activity Theory (Deinet 2014; Deinet/Reutlinger 2014) eine Grundlage, um das Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu verstehen und im Sinne der Intention dieses Beitrages auch in Bezug zu Bildungsprozessen zu stellen. Ausgehend von der tätigen aktiven Erschließung der Welt, deren gegenständliche symbolische und kulturelle Bedeutungen sich das Subjekt handelnd erschließt, gewinnt der Aspekt der „Materialität“ und der „Motorik“ besondere Bedeutung.

Ohne hier vertieft auf das Aneignungskonzept/Activity Theory eingehen zu können, sollen im Folgenden einige wichtige Operationalisierungen dieses Konzepts benannt werden, die auch den flexiblen Raumbegriff (s. u.) aufnehmen; „Raumaneignung“ kann verstanden werden als:

Hier könnten nun einige dieser Aneignungsformen auf die Kinderstadt bezogen (und untersucht) werden, im Folgenden soll hierzu exemplarisch nur der Aspekt der Erweiterung motorischer Fähigkeiten kurz aufgenommen werden.

2.1 Aneignung als Erweiterung motorischer Fähigkeiten

In vielen Werkstätten können die Kinder ihre motorischen Fähigkeiten einbringen, ausprobieren und erweitern:


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Von Leontjews (1973) grundlegender Gegenstandsbedeutung ausgehend, kann Aneignung als Erweiterung motorischer Fähigkeiten als erste Aneignungsdimension betrachtet werden. Sie ist auf den Umgang mit Gegenständen, Werkzeugen, Materialien und Medien zurückzuführen, die Bestandteile der gegenständlichen und symbolischen Kultur sind, und von Heranwachsenden über Tätigkeiten erschlossen werden müssen. Indikatoren für die Erweiterung motorischer Fähigkeiten werden u. a. in der wiederholten Erprobung erweiterter Fähigkeiten in neuen Situationen gesehen. Mit dieser Bestimmung bezieht sich Aneignung als Erweiterung motorischer Fähigkeiten nur auf – hinsichtlich des Erwerbs von Kompetenzen – relativ folgenreiche Angebotssituationen. Es geht um konkrete Aneignungssituationen, in denen es tatsächlich gelingt, zuvor erworbene motorische und mediale Fähigkeiten zu erweitern.

Ausgehend von der grundlegenden Auffassung des Aneignungskonzeptes, dass der Umgang mit Gegenständen, Werkzeugen, Materialien und Medien als Bestandteil unserer gegenständlichen und symbolischen Kultur von Kindern über Tätigkeiten erschlossen werden muss, ist zu fragen, inwieweit dies im Rahmen der heutigen Ganztagsschule möglich ist und welche Entwicklungsräume hier entstehen müssten.

Aus der Sicht des Aneignungskonzeptes geht es darum, dass sich Heranwachsende gegenständliche und symbolische Kultur, die sich im historisch-gesellschaftlichen Prozess in Gegenständen und Medienwelten, aber auch in der Architektur, den Räumen manifestiert haben, erschließen und damit aneignen können. Die Frage ist auch, wie die verbreiteten Spiel-, Beschäftigungs-, Betreuungsangebote zu dieser Aneignungsdimension passen, inwieweit tatsächlich die Erweiterung motorischer Fähigkeiten von Kindern erreicht werden kann, z. B. durch die wiederholte Erprobung erweiterter Fähigkeiten in neuen Situationen.

3. Kinderstädte und die historischen Vorbilder der reformpädagogischen Kinderrepubliken

Bei der Suche nach Bezügen, Vergleichsmöglichkeiten und Interpretationsrahmen für das Phänomen der Kinderstädte am Beispiel der Kinderspielstadt Mini-München stößt man insbesondere bei der Betrachtung ihrer Strukturen auf historische Vorbilder und auch auf aktuell noch laufende bzw. funktionierende Kinderrepubliken, die sich aus einer reformpädagogisch, politischen Motivation speisen.

Hintergründe für die zahlreichen Kinderstädte in Deutschland sind u. a. sogenannte Kinderrepubliken, die sehr stark politisch motiviert in Spanien, Italien und Ländern in Südamerikas entstanden.

In Deutschland wurde 1973 hierzu ein Buch von Eberhard Möbius publiziert: „Die Kinderrepublik Benposta und die Muchachos“. Hier beschreibt Möbius einen Besuch bei der Kinderrepublik Benposta in der Provinz Galizien in Spanien, die von einem Padre Silva gegründet wurde, der 1956 anfing, sich um verwaiste und verlassene Kinder zu kümmern. Diese Kinderrepublik, die wie ein eigenes Staatssystem funktioniert, wird von Möbius dezidiert beschrieben. Es geht um Wirtschaft ohne Subventionen, die insbesondere über eine Tankstelle und den damals in Europa sehr bekannten Circus Muchachos organisiert wurde, die Verwaltung, die Schule, Recht und Gesetze etc.

Die Benposta Kinderrepublik steht damit auch in der Tradition anderer reformpädagogischer Bemühungen, etwa jener von Anton Semjonovic Makarenko, der mit seinem pädagogischen Poem über die Gorkikolonie zu Beginn dieses Jahrhunderts pädagogische Berühmtheit errungen hat. Ebenso in dieser Tradition steht der amerikanische Theologe Father Flanagan, der zu Beginn dieses Jahrhunderts in Boystown eine ähnliche Kinderrepublik schaffte. Zudem ist besonders Alexander Sutherland Neill bekannt, der 1965 in seinem Internat Summerhill in England eine Kinder- und Jugendstadt schaffte. Peter Struck fasste in seinem Vorwort für das Buch von Möbius (1981) die wichtigsten Aspekte dieser Kinderstädte in folgender Weise zusammen:

Johannes-Martin Kamp beschreibt in seiner Studie „Kinderrepubliken, Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregulierung in Kinder- und Jugendheimen" im Rahmen einer Dissertation (Wiesbaden 1995) sehr genau und historisch umfassend die einzelnen Kinderrepubliken in ihrer Entwicklung. Dabei steht für ihn der Aspekt der Selbstregulierung im Vordergrund.

3.1 Zwischenresümee

Vergleiche zwischen den Kinderrepubliken und den heutigen Kinderstädten bieten sich vor allen Dingen in Bezug auf die Struktur, die Bedeutung wirtschaftlicher Tätigkeit, das hohe Maß der Selbstorganisation der Kinder, aber auch der politisch partizipativen Ausgestaltung.

Dennoch muss man fragen, ob kurzzeitpädagogische Maßnahmen wie Mini-München mit einer Dauer von drei Wochen überhaupt mit den Kinderrepubliken, in denen Kinder zum Teil über Jahre lebten bzw. leben, vergleichbar sind. Demgegenüber erscheinen Kinderstädte heute eher als eine Art Planspiel zum Funktionieren einer Stadt, die insbesondere durch Wirtschaft, Handel, Verwaltung, Kommunalpolitik geprägt ist. Dadurch, dass die Kinder sich nur tagsüber in den Kinderstädten aufhalten, fehlen natürlich wichtige Lebensbezüge, die in den Kinderrepubliken gegeben sind, weil die Kinder hier tatsächlich leben (auch unter starker Abwesenheit der Eltern, die zum Teil ja auch nicht mehr vorhanden sind).

Die Zitate zweier Kinder: „Wir müssen erst mal einen Job kriegen!“ und „ich studiere jetzt, weil dann kann ich Vollbürger werden“ zeigen, wie sehr die Spielregeln und Strukturen das Verhalten der Kinder in der Kinderstadt bestimmen. Die Aspekte eines Planspiels, in dem unter relativ realistischen Vorgaben eine Echtsituation simuliert wird, lassen sich auf Kinderstädte wie Mini-München durchaus übertragen. Im Gegensatz zu Planspielen für Erwachsene (z. B. im Rettungsdienst etc.) und besonders durch die Bedeutung des Spiels als kindlichem Medium, seiner gesellschaftlichen Verwirklichung, kommt es in der Spielstadt Mini-München zu einer interessanten Vermischung zwischen Spielwelt und realer Welt. Ein Beispiel dafür ist die Polizeistation, die tatsächlich mit vier realen Polizeibeamt/innen – die auch bewaffnet sind – besetzt ist, die aber gleichzeitig Teil des Spiels sind und auch eine eigene Kinderpolizei organisieren. Diesen Aspekt könnte man sicher noch weiter analysieren, auch durch hinzuziehen aktueller Spieltheorien, die insbesondere die Bedeutung von Rollenspielen für ältere Kinder betonen und einen Interpretationsrahmen für Kinderstädte darstellen könnten.

4. Kinderstädte als Orte politischer Bildung und Partizipation

Die aktuelle Diskussion um Partizipation und Beteiligung sowie um die politische Bildung von Kindern und Jugendlichen wird oft vor dem Hintergrund ihrer (Parteien-)Politikverdrossenheit geführt und spitzt sich oft zu auf Kinder- und Jugendparlamente, die es in zahlreichen Kommunen gibt. Ohne hier breiter auf den Diskurs eingehen zu können, muss in Anlehnung an Raingard Knauer (2004) das Feld der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen insgesamt viel breiter gesehen werden, weil es sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche bezieht, wie Familie, Schule, Einrichtungen der Jugendhilfe sowie öffentlichem Raum/Kommunen.

Vor dem Hintergrund dieses Ordnungsversuches würde ich die Kinderstadt Mini-München und andere Kinderstädte in den Bereich des öffentlichen Raums/der Kommunen einordnen, also in einem Bereich, in dem z. B. auch Kinder– und Jugendparlamente angesiedelt sind.

Während diese sehr stark an dem von Erwachsenen dominierten politischen System unserer Gesellschaft orientiert sind, haben Kinderstädte und auch andere Bereiche der Jugendhilfe andere Ansätze entwickelt, wie politische Bildung, Partizipation und Beteiligung gestaltet werden kann.

So gibt es interessante Verbindungen auch zwischen den Kinderrepubliken und den Partizipations- und Beteiligungsformen, so wie sie heute z. B. auch in großen Kinder- und Jugendlagern der Jugendverbände, z. B. des Jugendverbandes SJD Die Falken realisiert werden. Diese in einer sozialistischen Tradition stehenden Jugendverbände haben ein sehr basisdemokratisches Verständnis von Demokratie, in dem z. B. Zeltgruppen als Gruppe aller Kinder in einem Zelt eines Ferienlagers in einer täglichen Zeltversammlung alle Angelegenheiten besprechen und ihre Zeltsprecher/innen wählen. Diese treten dann in einem Dorfrat zusammen in dem es eine Dorfvollversammlung gibt, aber auch einem Dorfzentrumsrat bzw. einen Lagerrat, in dem weitergehende Entscheidungen getroffen werden, die aber immer wieder mit der Basis rückgekoppelt werden müssen.

Insbesondere unter dem Eindruck reformpädagogischer Bemühungen hat es auch im schulischen Bereich immer wieder Anstrengungen gegeben, die Schule als Lebensort und auch als politischen Ort zu beleben und entsprechende Strukturen einzuführen. Diese im Staatsschulwesen nie realisierten Bemühungen sind vor allen Dingen in Reformschulen sichtbar und arbeiten z. B. auch mit der Gewaltenteilung zwischen Schulversammlung, Schulregierung und Schulrechtsprechung, in denen es zum Teil sehr interessante und auch konsequente Formen der Selbstregulierung von Kindern und Jugendlichen gibt.

Theoretische Hintergründe für diese Art der Partizipation und Beteiligung bieten vor allen Dingen die Ansätze des amerikanischen Sozialphilosophen John Dewey (1916), der fordert, dass Demokratie nicht nur eine Regierungsform sei, sondern auch als Lebensform erfahrbar werden müsse. Der Entwicklungspsychologische Lawrence Kohlberg (1971) folgerte aus sein empirische Studien zu Moralentwicklung, dass Demokratisch gedanklich moralisches Handeln nicht durch kognitive Übungen, sondern nur durch die konkrete Erfahrung der Einbindung in eine "gerechte Gemeinschaft" mit demokratischem Charakter angeeignet werden könne (vgl. zu beiden Autoren: Oser/Althof 2001).

Es wäre also zu diskutieren, inwieweit die Spielstadt Mini-München dem Konzept einer Just Community entspricht, die Demokratie konkret erlebbar macht und welche Aspekte der Selbstregulierung hier tatsächlich verwirklicht werden können. Von großer Bedeutung spielt dabei die Frage, inwieweit es tatsächlich reale Mitbestimmung und Durchsetzungsmöglichkeiten für die Kinder gibt, die ja insgesamt genauso wie die Erwachsenen in den Spielregeln des Planspiels agieren. Die Frage ist, ob hier die von Richter formulierte „Erziehung zur Mündigkeit in Mündigkeit“ (Richter 1991, S. 150) tatsächlich angewandt wird oder ob der Spielcharakter die Partizipation dann doch nur zu einer Spielwiese in einem großen Planspiel macht.

Auf jeden Fall bietet die Spielstadt Mini-München sehr unterschiedliche Formen der Beteiligung wie z. B. punktuelle und alltägliche Formen, die den Kindern auch sehr niedrigschwellige Formen von Mitbestimmung, z. B. in ihren Betrieben und Institutionen, ermöglicht.

Darüber hinaus gibt es repräsentative Formen wie Stadtrat etc., die vergleichbar mit Kinder- und Jugendparlamenten arbeiten. Auch offene Versammlungsformen sowie projektorientierte Formen der Partizipation und Beteiligung sind in der Spielstadt auffindbar, so dass sie insgesamt ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Partizipationsformen im Rahmen des Spiels ermöglicht. Die Frage, ob dies ein Beitrag zur politischen Bildung sei, kann sehr kontrovers diskutiert werden. Dafür spricht aber auch die große Zahl von Kindern, die zumindest ansatzweise Partizipationserfahrungen in der Spielstadt macht und diese auch in andere Bereiche übertragen könnte (dies wäre sicher auch eine Frage von Evaluation und Wirkungsforschung – s. u.). Nicht nur mit der Frage der politischen Bildung verbunden ist die grundsätzliche Frage nach Transfer, d. h. inwieweit Kinder und Jugendliche die in der Spielstadt gemachten Erfahrungen auf ihre anderen und alltäglichen Lebensbereiche übertragen können oder ob dies nicht passiert.

5. Kinderstadt als eigener Sozialraum

In diesem Kapitel soll die Frage behandelt werden, inwieweit Kinderstädte wie die Spielstadt Mini-München als temporäre Orte einer Bildungslandschaft und damit auch als eigene Sozialräume verstanden werden können. Deshalb muss zunächst auch die Frage geklärt werden, was den Ort bzw. Raum einer Spielstadt ausmacht und inwieweit diese als Sozialraum betrachtet werden kann.

Die auf dem Weg von der U-Bahn zur Spielstadt Mini-München gestellte Frage eines Jungen: „Ist Mini-München auf dem Stadtplan eingetragen?“ bringt uns auf die Frage, inwieweit Mini-München als eigener Sozialraum überhaupt betrachtet werden kann. Zunächst ist Mini-München an einem Ort lokalisiert, zunächst jahrelang im Olympiagelände der Stadt München und heute im Areal der Zenithalle im Münchener Stadtteil Freimann. Das Konzept der Spielstadt ist damit nicht an einen geographischen Ort gebunden, sondern kann auch einen Ortswechsel vertragen und muss diesen demnächst wahrscheinlich auch realisieren, weil die augenblickliche Location nicht weiter geeignet erscheint. Es müssen bestimmte ortsspezifische Voraussetzungen (große Hallen, Außengelände etc.) gegeben sein, damit der Sozialraum Mini-München entstehen kann, aber dieser Ort kann auch flexibel sein.

Um die Kinderstadt über diesen eher geografischen Bezug sozialräumlich fassen zu können benötigt man einen erweiterten Raumbegriff, sowie er von Martina Löw in ihren „Raumsoziologie“ entwickelt wurde: Räume entstehen demnach durch die Interaktion von Menschen und können für diese sehr unterschiedlich gestaltet sein. Insofern geht Löw davon aus, dass an einem bestimmten Ort (als eindeutig bestimmbare sozialgeografische Lokalisierung, eine bestimmte Stelle unserer Erdoberfläche) unterschiedliche Räume entstehen können, je nachdem, welche Bedeutungen, Veränderungen Menschen den Orten verleihen. „Raum ist eine relationale (An)-Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten” (Löw 2001: 271).

Mit einem flexiblen Raumbegriff kann man das Verhalten von Kindern auch in der Spielstadt so verstehen, dass sie sich eigene Räume schaffen durch Kommunikation, durch Handlung an Orten, die von anderen Gruppen und zu anderen Zeiten auch anders genutzt werden. Die Erkenntnis, dass an einem Ort mehrere Räume entstehen können, schafft auch eine Sicht auf temporäre Räume, in denen sich vielleicht Gleichaltrigengruppen zu einer bestimmten Uhrzeit oder in einem bestimmten Zeitraum treffen, ihre Peerkommunikation aushandeln, dazu die Spielmöglichkeiten der Stadt nutzen und sich so ihren Raum schaffen.

Diese aktive Gestaltung eines eigenen Raums nennt Löw Spacing, und unterscheidet Spacing von der Syntheseleistung als dialektischen Aspekt der Raumaneignung: „Unter Spacing fasse ich das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen. Spacing bezeichnet also das Errichten, Bauen oder Positionieren. Unter einer Syntheseleistung verstehe ich die Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse, in denen soziale Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst werden“ (Löw 2001: 178f.).

Auf der Grundlage dieser Definition kann man von einem eigenen Sozialraum Mini-München sprechen, der jeweils durch die Handlungen der Personen, ihre Verbindungen zu den konkreten Orten etc. entsteht.

Mit einem eher subjektorientierten Blick auf die sozialräumliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stößt man in einer sozialräumlichen Betrachtung der Kinderstadt auch schnell auf die sogenannten sozialökologischen Modelle, die einen Zusammenhang zwischen Entwicklung von Menschen und den Räumen, in denen sie leben, herstellen. In diesen Modellen, insbesondere jenem von Dieter Baacke, spielen aus dem Alltag herausgehobene Räume, die als „ökologische Peripherie“ beschrieben werden, eine besondere Rolle und ermöglichen auch besondere Wirkungen (Baacke 1980: 504). Es ging Baacke darum, „den Handlungs- und Erfahrungszusammenhang Heranwachsender – zunächst ohne weitere theoretische Prätentionen – zu ordnen nach vier expandierenden Zonen, die der Heranwachsende in bestimmter Reihenfolge betritt und die ihn ihrem räumlich-sozialisatorischen Potential aussetzen” (Baacke 1980: 499). In Anlehnung an Bronfenbrenner beschreibt Dieter Baacke die Lebenswelt in vier ökologischen Zonen, die das Kind nacheinander betritt:

In diesem Sinne könnte man die Spielstadt Mini-München als Bestandteil der ökologischen Peripherie für Kinder und Jugendliche beschreiben, die als temporärer Raum besondere Erfahrungsmöglichkeiten bietet, weil sie eine aus dem Alltag herausgehobene Situation darstellt.

Mit Blick auf die Veränderungen von Kindheit und Jugend, die u. a. durch die Aspekte der Verhäuslichung von Kindheit in pädagogischen Institutionen des Wegfalls von Freiräumen etc. geprägt sind, könnte man Mini-München auch als einen komprimierten Erfahrungsraum interpretieren, der Möglichkeiten zusammenfasst, die sich früher quasi natürlich vor der Haustür eines Kindes erschlossen haben in einem lebendigen Umfeld in dem z. B. Kinder vergangener Generationen Handwerker bei ihrer Arbeit erleben konnten etc.

Die heutige Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen und die Struktur des großstädtischen Lebensraumes von Kindern und Jugendlichen kann eher mit dem Inselmodell beschrieben werden: „Der Lebensraum ist nicht ein Segment der realen räumlichen Welt, sondern besteht aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln verstreut in einem größer gewordenen Gesamtraum liegen, der als ganzer unbekannt oder zumindest bedeutungslos ist” (Zeiher 1983, S. 187). Die Wohninsel ist das ökologische Zentrum, von dem aus die anderen Inseln aufgesucht werden, wie der Kindergarten, die Schule, das Kinderzimmer eines Freundes in einem anderen Stadtteil. Die Entfernungen zwischen den Inseln werden mit dem Auto oder anderen Verkehrsmitteln zurückgelegt.

Vor dem Hintergrund dieses Inselmodelles könnte man die Spielstadt Mini-München auch als eine Erfahrungsinsel von Kindern in einer großstädtischen Umwelt beschreiben. Die meisten Kinderstädte in Deutschland entstehen in größeren Städten.

6. Kinderstadt in der Bildungslandschaft

Der Zusammenhang zwischen dem Diskurs zu Bildungslandschaften und der Bedeutung temporärer Bildungsräume kann hier nur kurz skizziert werden und stellt ein eigenes Thema in der Interpretation von Kinderstädten dar.

Die anfangs sehr institutionell geführte Diskussion um die Entwicklung kommunaler oder lokaler Bildungslandschaften bezog sich zunächst primär auf die Institution Schule und Institutionen, die mit Schule kooperieren etc. Nicht nur durch die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung kommunaler Bildungslandschaften (Deutscher Verein 2009) ist es inzwischen zu einer Erweiterung dieser Diskussion gekommen: Zitat Deutscher Verein: „Denn Bildungsförderung kann nur dann für alle erfolgreich sein, wenn sie über die Schule hinaus den Blick auf die Vielfalt der nonformalen und informellen außerschulischen Bildungsorte öffnen und diese einbezieht“.

Auch wenn es (inzwischen) zahlreiche Aspekte und Gründe für eine Öffnung lokaler Bildungslandschaften gibt, erscheint die Einbeziehung außerschulischer Lernorte doch schwierig, weil diese auch sehr unterschiedlich sind und aus schulischer Sicht zum Teil als schwer fassbar erscheinen. Dabei geht es z. B. auch um die Kinder- und Jugendarbeit, die nach wie vor Schwierigkeiten hat, sich in die lokalen Bildungslandschaften einzubeziehen.

Auch die Bildungsberichterstattung vieler Kommunen ist nach wie vor sehr stark schulzentriert bzw. orientiert sich an formellen Bildungsbegriffen und bezieht deshalb insbesondere auch Institutionen (Musikschulen etc.) mit ein. Zeitlich befristete Projekte, die typisch sind für den Ansatz der Kinder- und Jugendarbeit, werden bisher in Bildungsberichten oder auch in den Entwicklungen lokaler Bildungslandschaften so gut wie nicht thematisiert. Aktionen und Projekte z. B. im Zusammenhang mit einer Kommunalwahl oder der Landtagswahl werden in zahlreichen Kommunen und Kreisen von Jugendverbänden, Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit etc. durchgeführt und haben möglicherweise einen hohen Bildungswert, sind aber durch ihre zeitliche Befristung wenig fassbar und auch nicht steuerbar. Ebenso sind die Spielplätze im Bereich des öffentlichen Raums nicht im Blick der regionalen oder kommunalen Bildungslandschaften, auch weil sie als Räume informeller Bildung schwer fassbar erscheinen.

Die Bildungsforschung hat sich in den letzten Jahren allerdings stärker mit diesen Räumen beschäftigt und auch Begriffe entwickelt, die versuchen, die Bedeutung solcher Räume zu bestärken, etwa wenn Thomas Coelen (2000) von „lokaler“ oder „kommunaler Bildung“ spricht oder Thomas Rauschenbach (2009) von „Alltagsbildung“.

Die praktische Umsetzung der Einbeziehung von temporären Bildungsorten (auch im öffentlichen Raum) in die Bildungslandschaften erscheint schwierig: Freiraum, Spielraum, Spielplatzplanung etc. wären einzubeziehen, aber nicht jeder Bolzplatz ist Bestandteil einer Bildungslandschaft, obwohl er Ort informeller Bildung sein kann. Insbesondere pädagogisch intendierte Projekte mit Kindern und Jugendlichen im Bereich der Kurzzeitpädagogik – wozu auch die Kinderstädte gehören – sind in den lokalen Bildungsberichten und den Bildungslandschaften nicht sichtbar. Dies hängt sicher auch mit einem sehr statischen Verständnis des Begriffes Bildungslandschaft zusammen (vgl. Reutlinger 2009 etc.), und erst der Blick auf subjektive Bildungskarten kann die subjektive Bedeutung solcher Orte erfassen. Studien zur Bedeutung und Wirkung temporärer Bildungsorte liegen zurzeit kaum vor, würden aber die Grundlage bilden, um solche Orte in den lokalen Bildungslandschaften in Zukunft stärker zu betonen. Dies würde insgesamt den Bereich der außerschulischen Bildung stärken und auch neue Kooperationsformen erschließen.

7. Transfer- und Forschungsfragen

Nicht nur der letzte Abschnitt zum Thema Bildungslandschaften macht deutlich, wie wichtig eine Einschätzung der Wirkungen von Kinderstädten wie der Spielstadt Mini-München ist. Damit sind jene Transfer- und Evaluationsfragen gemeint, die sich auf die unterschiedlichen Bereiche der Spielstadt beziehen, etwa im Bereich der Partizipation und Beteiligung könnte man fragen:

Auch wenn es zahlreiche biographische Hinweise auf mögliche Wirkungen der Spielstadt gibt, etwa durch Berichte ehemaliger Kinder oder ehemaliger Bürgermeister der Spielstadt, die in aktuellen Diskussionen davon sprechen, dass sie nachhaltig durch ihre Erfahrung in der Spielstadt geprägt wurden, so interessant und wichtig solche einzelnen biographischen Berichte sind (die man natürlich im Sinne einer rekonstruktiven Methodologie in einer Forschung auch systematischer untersuchen könnte), fehlen jedoch Hinweise auf Wirkungen in anderen Bereichen, etwa der Berufsorientierung etc.

Mit diesen Themen ist auch die Frage des Transfers noch einmal von Bedeutung, also die Frage, inwieweit in der Spielstadt gemachte Erfahrungen in andere Lebensbereiche transferiert werden können.

Schon die Kinderrepubliken haben ein solches Transferproblem, denn sie sind gekennzeichnet durch eine relative Abschottung von ihrer politischen Umwelt, also der Kommune oder der Gesellschaft, in der sie sich befinden. Sie erzeugen eine pädagogische Insel, und der Übergang bzw. Transfer der Erfahrungen von der Insel in die Gesellschaft erscheint als schwierig.

Transferfragen werden insbesondere in der Erlebnispädagogik intensiv diskutiert, in der man sich auch immer wieder fragt, inwieweit z. B. die Erfahrungen einer Bergtour in einer Gruppe auf Alltagssituationen übertragen werden können. In der Erlebnispädagogik werden von zahlreichen Autoren unterschiedliche Transfermodelle diskutiert: Reflektion, „The mountains speak for themselves“, metaphorisches Modell etc.

Betont wird etwa die Reflexion nach dem Ende eines Projektes oder das metaphorische Modell, in dem die Spiel- bzw. Lernsituation möglichst ähnlich sein soll zur Lebensrealität der Teilnehmer/innen. Beispiele, Geschichten und Metaphern sollen den Transfer in die reale Welt fördern. Hier könnte man z. B. fragen, inwieweit der Transfer, der in der Kinderstadt gemachten Erfahrungen, in den Schulbereich intendiert ist, inwieweit dieser unterstützt, gefördert und auch evaluiert, d. h. bewertet werden kann.

So wichtig und interessant diese Fragen erscheinen, so gehen sie doch in einen Bereich der Wirkungsforschung der sozialwissenschaftlich als ausgesprochen anspruchsvoll und forschungsmethodologisch kompliziert erscheint. Wie soll man etwa den Einfluss einer Erfahrung aus der Kinderstadt nachweisen in Bezug auf die Gestaltung demokratischer Prozesse in einer Schule?

Realistischer ist eine vergleichende und eher prozessorientierte Evaluation, in der z. B. mehrere Kinderstädte miteinander verglichen werden, um so den Chancen und Problemen der unterschiedlichen Strukturen auf die Spur zu kommen. Dies geschieht meiner Meinung nach nur durch die Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen als Expert/innen ihrer Lebenswelt und den Einsatz entsprechender rekonstruktiver Methoden, wie z. B. Fotodokumentationen, die durch die Kinder durchgeführt werden, subjektive Land- und Bildungskarten, Nadelmethode, Kinderfragebogen, Gruppeninterviews mit Kindern und Jugendlichen etc. Parallel dazu könnten Interviews mit Fachkräften, Lehrer/innen oder auch ehemaligen Kindern geführt werden, die z. B. heute als Mitarbeiter/innen in den Kinderstädten aktiv sind. Ein solcher Ansatz würde zwar noch keine Wirkungsforschung im engeren Sinne bedeuten, aber einen pädagogischen Bereich unter die Lupe nehmen, der auf Grund der dargestellten Strukturen als ausgesprochen interessanter Ort und als temporärer Ort in der Bildungslandschaft von Kindern und Jugendlichen gesehen werden kann.

Literatur

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Weitere Quellen

Mini-München: http://www.mini-muenchen.info

Spiellandschaft Stadt Bremen: http://spiellandschaft.de


Fussnote

[1] Alle Fotos von Ulrich Deinet


Zitiervorschlag

Deinet, Ulrich (2016): Spielstädte als Aneignungsräume und temporäre Partizipationsorte in der Bildungslandschaft – Eine rekonstruktive Sozialreportage am Beispiel „Mini-München“. In: sozialraum.de (8) Ausgabe 1/2016. URL: https://www.sozialraum.de/.php, Datum des Zugriffs: 25.04.2024