Digital erweiterte Bildersäulen – Ein räumliches Medium zur Entdeckung postmigrantischer Familienkulturen in einem Hamburger Quartier

Diana Lölsdorf

1. Einleitung

Litfaßsäulen werden üblicherweise mit Werbung für unterschiedliche kulturelle Ereignisse plakatiert – Kinofilme, Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen. Doch was, wenn die Litfaßsäule selber zur Ausstellung und damit zum kulturellen Ereignis wird? Dieses Experiment hat das Projekt Pomiku gemeinsam mit den Bewohner*innen der Hamburger Lenzsiedlung gewagt. Sie haben persönliche Familienfotos zusammengetragen, die unterschiedlichste Anlässe und Personen im Laufe der letzten 100 Jahre darstellen. Verknüpft mit Audiodateien, auf denen die dazugehörenden Geschichten zu hören sind, bilden die Fotografien die Aktion Bildersäule.

Wie kam es zu dieser Aktion? Wie wurde sie durchgeführt? Welchen Nutzen hat sie?

Diesen Fragen widmet sich dieser Beitrag und wirft dabei auch einen Blick auf den Sozialraum, in dem die Aktion stattfand, sowie die beteiligten Akteur*innen. Eine größere Bedeutung nimmt die postmigrantische Perspektive ein, mit der die Aktion Erlebnisse, Haltungen und Sichtweisen in Szene setzt, die sonst selten in den Fokus genommen werden.

2. Die Lenzsiedlung

Die Lenzsiedlung ist eine Großwohnsiedlung im Bezirk Hamburg-Eimsbüttel. Sie wurde im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus zwischen 1974 und 1984 auf einer Fläche von 7,6 ha errichtet. In den bis zu 15-stöckigen Häusern leben heute etwa 3.000 Menschen in 1.200 Haushalten. Damit ist die Bevölkerungsdichte von 400 Personen pro ha eine der höchsten in Hamburg (Stadtteilbüro Lenzsiedlung 2007: 11).

Wie für Großwohnsiedlungen dieser Zeit typisch, wurde auch die Lenzsiedlung eher monostrukturell geplant, Treffpunkte oder ergänzende Freizeit- und Beratungsangebote wurden ursprünglich nicht mitgedacht. Allerdings ist die Lenzsiedlung infrastrukturell dahingehend gut angebunden, dass das Herz des angrenzenden beliebten Stadtteils Eimsbüttel zu Fuß und die Innenstadt mit der U-Bahn in 15 Minuten gut zu erreichen ist. Damit unterscheidet sich die Lenzsiedlung von vielen anderen Hamburger Großwohnsiedlungen, die in eher abgelegenen Stadtteilen am Stadtrand errichtet wurden.

Im Laufe ihrer über 40jährigen Geschichte hat die Lenzsiedlung viele Veränderungen durchlebt. Das anfänglich beliebte Quartier für den „deutschen Mittelstand“ (Gülay/Kuhn 2009: 21) wurde in den 1990er Jahren Austragungsort sozialer Konflikte. Einige Häuser verwahrlosten aufgrund langjähriger Konkursverwaltung, der Innenhof wurde von der Wohnungswirtschaft zunehmend vernachlässigt. Die Teilnahme am Programm „Aktive Stadtteilentwicklung“ läutete 2000 eine Kehrtwende ein. Bis 2012 etablierte das Programm ein professionelles Quartiersmanagement und brachte der Lenzsiedlung Verbesserungen auf unterschiedlichen Ebenen (Stadtteilbüro Lenzsiedlung 2007: 14). Es wurden sowohl bauliche Maßnahmen an den Häusern und im Innenhof ergriffen als auch die Vernetzung und Zusammenarbeit von unterschiedlichsten Akteur*innen im Quartier gefördert. Dies betrifft insbesondere Institutionen der Sozialen Arbeit, aber auch die Wohnungswirtschaft, Sportvereine usw. Der Quartiersentwicklung gelang es gemeinsam mit den beteiligten Akteur*innen – Bewohner*innen und Professionelle – viele soziale Problemlagen in der Siedlung zu entschärfen.

Die heutige Bewohner*innenschaft der Lenzsiedlung ist von einer großen Diversität geprägt und weist im Hamburger Vergleich einige Besonderheiten auf. Etwa 28 % der Haushalte bestehen aus Familien mit minderjährigen Kindern, damit ist der Anteil an Familien im Vergleich zum Hamburger Schnitt von 18 % überdurchschnittlich hoch. Dies gilt auch für die kulturelle Vielfalt: Während 36 % der Bevölkerung Hamburgs über eine persönliche oder familiäre Migrationsgeschichte verfügen, trifft dies auf über 72 % der Bewohner*innen der Lenzsiedlung zu. Insgesamt leben hier Personen aus 60 unterschiedlichen Herkunftsländern (Statistikamt Nord 2020). In der Lenzsiedlung finden sich viele strukturelle Merkmale sozialer Benachteiligung, wie z. B. ein relativ hoher Anteil an Alleinerziehenden sowie Erwachsenen und insbesondere Minderjährigen mit SGB-II-Bezug.

 Bildersäule in der Lenzsiedlung

Abbildung 1: Bildersäule in der Lenzsiedlung. Quelle: Annette Abel.

3. Der Lenzsiedlung e. V.

Für die Lenzsiedlung und deren Bewohner*innen sieht sich der Lenzsiedlung e. V. zuständig. Er ist im Bürgerhaus angesiedelt, das direkt am Rande der Lenzsiedlung steht. Der Verein, ursprünglich in den 1980er Jahren als Jugendhilfeverein gegründet, hat im Rahmen der „Aktiven Stadtteilentwicklung“ und deren Verstetigung sein Angebot über die offene Kinder- und Jugendarbeit hinaus erweitert und ist zur Anlaufstelle für viele soziale Belange der Bewohnerschaft und weiterer Nutzer*innen geworden. So werden vom Lenzsiedlung e. V. u. a. Treffpunkte für verschiedene Alters- und Interessengruppen sowie Beratung für unterschiedliche Problemstellungen angeboten. Dabei gehört die sozialräumliche Orientierung schon lange zur sozialarbeiterischen Grundhaltung des Vereins.

Ein Teilbereich des Lenzsiedlung e. V. ist die Gemeinwesenarbeit, deren Ziel ist, Menschen zu aktivieren, sich gemeinsam mit ihnen für ihre Belange bzw. Belange ihres Quartiers einzusetzen. Gemeinwesenarbeit unterstützt Menschen dabei, ihre individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit zu erhöhen ebenso wie aktiv am politischen und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben (Oelschlägel 2012).

4. Das Verbundprojekt Pomiku

Im Jahr 2018 startete das Verbundprojekt Postmigrantische Familienkulturen (Pomiku) in der Lenzsiedlung. Projektpartner sind die HAW Hamburg, der Lenzsiedlung e. V. und die Universität Hamburg. Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Themenfelds „Diversität und kultureller Wandel durch Zuwanderung“ in der bundesweiten Maßnahme „Migration und gesellschaftlicher Wandel“ über die Dauer von vier Jahren gefördert. Die Projektpartner erforschen in der Lenzsiedlung mit unterschiedlichen Methoden Aspekte der vielfältigen Familienkulturen der Bewohner*innen und des Zusammenlebens in der Siedlung.

Hauptaufgabe des Lenzsiedlung e.V. im Rahmen von Pomiku ist die Gestaltung einer beteiligungsorientierten Ausstellungsreihe, die auf der Basis vielfältiger Aktionen und Projekte entsteht und sich kontinuierlich weiterentwickelt. Der gesamte Prozess, von der Entwicklung der Projekte und der Ausstellung bis hin zu ihrer Durchführung und Rezeption, wird vom Team der HAW Hamburg u. a. durch teilnehmende Beobachtungen sowie leitfadengestützte Interviews begleitend erforscht.

Der im Bürgerhaus verortete Teil von Pomiku ist dem Bereich der Gemeinwesenarbeit zugeordnet und erweitert das Repertoire des Lenzsiedlung e. V. um soziokulturelle Aspekte, die Formen des Ausdrucks für möglichst alle Menschen bieten sollen (Knoblich 2018: 54). Die für das Projekt eingestellte Kollegin kommt entsprechend aus dem Bereich der bildenden Kunst und der Erwachsenenbildung und konzipiert die unterschiedlichen Aktionen [1] der Ausstellungsreihe. Alle Aktionen fokussieren das weit gefächerte Themenfeld „Familienkultur“ und werden unter Berücksichtigung und mit der Beteiligung von Bewohner*innen der Lenzsiedlung inhaltlich und konzeptionell ausgestaltet.

Unter Familienkultur wird in diesem Kontext ein Begriff verstanden, der Zusammenleben und Rollenverteilung in der Familie wie auch Beziehungen der Familien zum sozialen und institutionellen Umfeld erfasst. Von besonderem Interesse ist dabei, wie unterschiedliche traditionelle Wertvorstellungen und neue Orientierungen im Alltagshandeln vermittelt und verbunden werden. Das Anliegen der Ausstellungsformate ist es, Begegnungssituationen zu schaffen und dabei auch Personen zusammenzubringen, die sich sonst überwiegend in familiärer Binnenorientierung und herkunftsorientierten Communities bewegen. Die gemeinsame Arbeit an den Ausstellungen soll so auch die Möglichkeit zum interkulturellen und /oder intergenerativen Dialog herstellen und sozialen Schließungsprozessen entgegenwirken (vgl. auch Abel/Lölsdorf 2020). Die Ausstellungen und auch die zugehörigen Aktionen finden in der Regel im Cafébereich des Bürgerhauses statt.

5. Die Aktion Bildersäule

Eine der dabei stattfindenden Aktionen sind die Bildersäulen. Die Idee dafür entstand aus einem Familienfotoalbum, in das alle Interessierten Kindheits- und Familienfotos frei einkleben konnten. Dieses Format wurde von den Bewohner*innen der Lenzsiedlung allerdings nur zögerlich angenommen. Die verantwortliche Mitarbeiterin fasste daher Anfang 2020 zusätzlich ins Auge, die von den Bewohner*innen abgegebenen Fotos in Absprache mit ihnen ebenfalls auf zwei Litfaßsäulen zu plakatieren, um die Reichweite der Aktion rund um die Familienbilder zu erweitern. Die Litfaßsäulen stehen im Innenhof der Lenzsiedlung bzw. auf dem Vorplatz des Bürgerhauses. Beide Orte werden von Bewohner*innen der Lenzsiedlung gut frequentiert, liegen aber auch für weitere Passant*innen auf dem Weg zur nächsten U-Bahnstation und den umliegenden Wohngebieten.

Bildersäule vor dem Bürgerhaus

Abbildung 2: Bildersäule vor dem Bürgerhaus. Quelle: Annette Abel.

Neben dem Ziel, die Fotos einem größeren Publikum zugänglich zu machen, sollten auch weitere Personen zum Mitmachen und zum Austausch über die Fotos angeregt werden. Die Umsetzung fand ab Sommer 2020 statt, wobei die Plakatierung der Litfaßsäulen in mehreren Schritten erfolgte. Die hauptverantwortliche Kollegin nutzte zuerst Fotos von Bewohner*innen, die bereits Bilder in das Fotoalbum geklebt hatten und generierte einige weitere bei Kolleg*innen aus dem Lenzsiedlung e. V. Durch die Veröffentlichung der ersten Bilder an der Säule vor dem Bürgerhaus stellte sich der gewünschte Effekt ein, dass andere Bewohner*innen auf die Aktion aufmerksam wurden und sich ebenfalls an dieser beteiligen wollten. So standen innerhalb weniger Wochen ausreichend Bilder zur Verfügung, um die erste Säule vollständig zu plakatieren und sich der zweiten Säule im Innenhof zuzuwenden. Hervorzuheben ist, dass nicht nur die Bilder, sondern auch der Akt des Plakatierens für Aufmerksamkeit sorgte, zahlreiche Gespräche zwischen der Kollegin und interessierten Bewohner*innen initiierte und zur Folge hatte, dass weitere Bewohner*innen eigene Fotos beisteuerten.

Bei der Abgabe berichteten viele der Bewohner*innen über die Fotografien und die dazugehörigen Ausschnitte aus ihrem Leben oder dem Leben von Familienangehörigen. Aufgrund der vielen interessanten und bewegenden Geschichten entwickelte sich die Aktion Bildersäule weiter. Eine der Kolleginnen von der HAW Hamburg führte an den Litfaßsäulen Interviews mit den Beteiligten und ließ sich die Geschichten zu den Bildern erzählen. Die Interviews wurden aufgenommen, in einem nächsten Schritt jeweils zu kurzen Texten zusammengefasst und dann professionell eingesprochen. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Zum einen sollte der Wunsch der Beteiligten nach Anonymität berücksichtigt werden. Die Aktion war bewusst auf Fotografien ausgerichtet, die entweder aufgrund ihres Alters und/oder der abgebildeten Personen nicht zurückverfolgt werden können. Die daraus entstandene Anonymität sollte nicht durch die Erkennbarkeit der Stimme aufgehoben werden. Zum anderen äußerten einige Beteiligte, dass sie ihre Stimme nicht mögen würden bzw. nicht gut genug deutsch sprächen, als dass die aufgenommenen Interview-Audios direkt verwendet werden sollten. Auch im Hinblick auf die Länge und Konzentration der Texte war eine Kürzung und erneute Aufnahme sinnvoll. Die so entstandenen Audiodateien haben nun jeweils eine Länge von etwa anderthalb Minuten und sind damit genau richtig für einen kurzweiligen Hörausflug.

Die Bildersäulen waren nach dem Winter aufgrund von Witterungsverhältnissen und anderen Einflüssen unansehnlich geworden. Daher wurden sie neu plakatiert, dieses Mal mit Collagen aus Bildausschnitten und QR-Codes. Scannt man einen der QR-Code ein, wird man jeweils zu einer Geschichte mit dem dazugehörenden Bild weitergeleitet. Wir gehen davon aus, dass auch diese Plakatierung der Litfaßsäulen gut rezipiert werden wird.

Bildersäule neu plakatiert

Abbildung 3: Bildersäule neu plakatiert/QR-Codes. Quelle: Annette Abel.

QR-Code: Olga, die Kakaokuh

QR-Code: Olga, die Kakaokuh

QR-Code: Familie

QR-Code: Familie

6. Nutzen der Aktion

Die Aktion Bildersäule bringt zahlreiche positive Aspekte für die Bewohner*innen der Lenzsiedlung mit sich, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen:

Eigeninitiativebei den Bildersäulen handelt es sich um eine niedrigschwellige Aktion, die es unterschiedlichsten Personen ermöglicht, zu partizipieren. Dies zeigt sich an der hohen Diversität der Teilnehmenden in Bezug auf kulturelle Hintergründe, Sprachkenntnisse, Geschlecht, Alter, Bildungsgrad und Familienstand. Dies ist besonders hervorzuheben, da viele Bewohner*innen der Lenzsiedlung es nicht gewohnt sind, in die Öffentlichkeit zu treten und sich als Individuum mit eigener Geschichte und Meinung sichtbar zu machen. Die Bildersäulen verfolgen das Ziel, den Bewohner*innen eine Stimme zu geben und sie darin zu unterstützen, diese auch zu nutzen. Mit der beteiligungsorientierten Ausstellungsreihe von Pomiku auf den künstlerisch-ästhetischen Bereich zurückzugreifen bedeutet, den Bewohner*innen niedrigschwellige und vor allem neue kreative Zugänge zur persönlichen Sichtbarmachung zur Verfügung zu stellen. Die Aktion Bildersäule erwies sich als ein Format, das es Bewohner*innen sehr leicht machte, sich frei zu beteiligen und eigenständig über die Auswahl des Bildes zu entscheiden. Auch über die teilweise sehr persönlichen Geschichten hinter den Aufnahmen zu erzählen, fiel fast allen Beteiligten leicht. Dies zeigt v. a., dass sowohl die Aktion selber als auch deren Thema gut gewählt ist, um eine leichte Beteiligung zu ermöglichen.

Anerkennung Für ihre Freigiebigkeit wurden die Teilnehmenden mit Wahrnehmung und Anerkennung belohnt. Dabei geht es nicht zwangsläufig um Wahrnehmung und Anerkennung der eigenen Person, sondern auch um die von Familienmitgliedern, der Familiengeschichte und familialen Werten. In den Gesprächen und Interviews wurde deutlich, wie stark viele die Geschichte ihrer Vorfahren und ihre Familiengeschichte als Teil ihrer selbst bzw. ihrer eigenen Identität betrachten. Daher kann es für sie persönlich eine positive und stärkende Bedeutung haben, wenn die Bilder ihrer Familienmitglieder oder ihre Vergangenheit in der Öffentlichkeit gezeigt und ihre Geschichten gehört werden.

Hierfür zwei Beispiele: Eine aus Ghana stammende Bewohnerin hat jeweils ein Bild von ihrem Vater und ihrer Mutter ausgewählt. Als diese Bilder an die Bildersäule plakatiert wurden, hat sie ihren Geschwistern, die über diverse Länder verteilt leben, ein Foto von der Bildersäule mit den Fotos ihrer Eltern geschickt und dies mit folgenden Worten kommentiert: „Unsere Eltern sind jetzt Stars.“ Weiter berichtete sie sehr warmherzig von ihren bereits verstorbenen Eltern sowie deren vielen positiven Eigenschaften und betonte, in welch einer tollen Familie sie aufgewachsen sei. Diese Worte zeugen u. a. von der Freude über die Möglichkeit, den Eltern durch die öffentlich gezeigten Bilder Wahrnehmung und Anerkennung zuteilwerden zu lassen und sie zu ehren.

Eine armenische Bewohnerin erzählte während des Interviews schmunzelnd, dass ihre Cousine gefragt habe, ob sie das Bild ihres Großvaters nicht auch in den USA auf diese Art und Weise veröffentlichen könne. Darüber hinaus wies sie auf die Bedeutung ihres Großvaters für die gesamte Familie hin, die er aufgrund seines guten Charakters und der Erziehung seiner Kinder zu „Familienmenschen“ hatte.

Kontakte Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie ist die Arbeit des Lenzsiedlung e. V. stark eingeschränkt, da offene und Gruppenangebote kaum stattfinden durften. Dies ist problematisch, da hier häufig Erstkontakte zu Bewohner*innen der Lenzsiedlung hergestellt werden, die bei Bedarf zu Beratung und weiterer Unterstützung führen können. Ein Fokus der Mitarbeiter*innen liegt seit Frühjahr 2020 entsprechend darauf, alternative, möglichst niedrigschwellige Angebote zu schaffen, um mit den Bewohner*innen der Lenzsiedlung in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Die Bildersäulen-Aktion kann sowohl im Hinblick auf die spontanen Kontakte, die beim Plakatieren der Litfaßsäulen entstanden, als auch auf die bereits bestehenden Kontakte unterschiedlicher Mitarbeiter*innen zu Nutzer*innen des Bürgerhauses als gelungenes Angebot betrachtet werden. Das Bürgerhaus ist den Bewohner*innen mit der öffentlichkeitswirksamen Aktion im Gedächtnis geblieben und bestehende Kontakte konnten aufrechterhalten werden.

Inwieweit das Ziel erreicht wurde, die Kontakte der Bewohner*innen untereinander zu fördern, kann aufgrund er Ausstellung im öffentlichen Raum nur bedingt nachvollzogen werden. Die Beteiligten berichteten zwar häufiger, dass Familie und Freund*innen über ihre Bilder an den Litfaßsäulen Bescheid wüssten; von einem Austausch z. B. unter Nachbar*innen oder gar mit Passant*innen wurde aber selten berichtet. Begegnung bei den Bildersäulen und Austausch über die plakatierten Bilder fanden aber statt, wie bei diversen Gelegenheiten beobachten werden konnte.

Erhöhte Wahrnehmung/Sichtbarkeit– Obwohl durch die Ausstellung im öffentlichen Raum, Begegnung und Austausch weniger beeinflussbar sind als bei gruppenbezogenen Projekten bzw. Ausstellungen im Cafébereich, bergen die Bildersäulen doch auf anderer Ebene großes Potential. Sie stellen die Bilder und Geschichten der Bewohner*innen einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung als dies im Café des Bürgerhauses, in dem die Ausstellungsreihe eigentlich beheimatet ist, möglich wäre. Die Bildersäulen tragen zu einer ästhetischen und damit positiven Gestaltung des Quartiers bei, machen Teile der Arbeit des Bürgerhauses sichtbar und setzen v. a. das Spotlight auf die Bewohner*innen. Die Bilder und dazugehörenden Geschichten stellen in einem unaufdringlichen Setting die Diversität der Bewohner*innen im Hinblick auf ihre Familiengeschichten und Biografien dar und fördern deren Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Dies entspricht auch einer der Forderungen in der postmigrantischen Debatte, migrantische Lebenswelten sichtbar zu machen und damit anzuerkennen.

7. Die postmigrantische Perspektive

Der postmigrantische Grundgedanke verfolgt in erster Linie das Ziel, eine gesamtgesellschaftliche Änderung der überwiegend problemorientierten Perspektive auf Migration sowie die Anerkennung migrantischer Erfahrungsräume zu bewirken. Migration ist seit langem Teil der deutschen Geschichte. Sie hat sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Auswirkungen auf die Menschen in Deutschland und prägt unsere Gesellschaft. Um allen Perspektiven angemessen gerecht zu werden, ist es wichtig, den bislang üblichen dualistischen Blick „Wir – Die Anderen“ aufzuheben und stattdessen eine mehrperspektivische Wahrnehmung und Erzählweise zu übernehmen. Der Fokus soll dabei auf denjenigen liegen, die Migrationsprozesse direkt oder indirekt erlebt haben, deren Erfahrungen bislang aber (überwiegend) unsichtbar bleiben. Eine postmigrantische Sichtweise präsentiert die Stimme der Migration und macht marginalisierte Wissensarten sichtbar (Yildiz 2018: 21f.). Übertragen auf Projekte im (sozio-)kulturellen Kontext ist es für die Sichtbarmachung des Postmigrantischen entscheidend, Multiperspektivität zu gewährleisten und Subjektivität zu berücksichtigen.

Die Aktion Bildersäule hat diese Ansätze aufgegriffen. Zum einen stellt die Wahl des Themas Familie das Individuum in den Fokus, ohne es auf eventuelle Migrationserfahrungen zu reduzieren bzw. diese in den Mittelpunkt zu rücken. Zum anderen konnten alle Teilnehmenden durch freie Wahl der Fotos und Geschichten genau das sichtbar machen, was für sie von Bedeutung ist. Sowohl auf den Bildersäulen als auch bei den digitalisierten Geschichten stehen viele unterschiedliche Perspektiven ohne Bewertung oder Kategorisierung nebeneinander. Es ist ein Potpourri an (post)migrantischen Familiengeschichten und Anekdoten entstanden, das den Betrachter*innen anbietet, ihre Perspektive auf Familie und ggf. Migration zu erweitern.

Genau das ist, was Foroutan im Gespräch mit Huneke betont. Es geht nicht darum, Geschichte zu verfälschen, sondern sie aus einer anderen Perspektive zu erzählen. So kann auch die Möglichkeit eröffnet werden, Erfahrungsraum gemeinsam zu erzählen (Foroutan/Huneke 2013: 45). In der Aktion Bildersäule lassen sich erste Ansätze für eine Wahrnehmung und Erzählung des gemeinsamen Erfahrungsraums erkennen.

So kommentiert eine türkischstämmige Bewohnerin im Interview zu ihrem eigenen Bild das Bild eines deutschstämmigen Mitarbeiters des Lenzsiedlung e. V., das sie als besonders schön empfindet. Darauf ist er als Kind in den 1970er Jahren mit einigen Familienmitgliedern zu sehen; alle stehen vor bzw. auf einer Wiese mit einer der familieneigenen Kühe. Die weiteren Ausführungen im Interview deuten darauf hin, dass sie in dem Bild eine Parallele zu ihrer eigenen Kindheit und dem Leben ihrer Familie in der Türkei sieht, das im ländlichen Raum unter sehr einfachen Bedingungen stattfand/stattfindet und von ihr mit der Wahl ihres Bildes entsprechend dokumentiert wurde. Ihr Bild zeigt einen Eselskarren auf dem Familienmitglieder die Traubenernte ins Dorf transportieren. Ihre Aussagen können dahingehend gedeutet werden, dass sich über die Bilder und die hinter ihnen stehenden Geschichten neben aller Diversität von Personen, Familien und Biografien auch immer wieder Gemeinsamkeiten finden lassen. Diese können das Verständnis füreinander und ein Miteinander befördern.

Ähnliches gilt für die Aussage einer deutschstämmigen Bewohnerin, deren Bild sie als Kind mit ihren Eltern und Geschwistern bei einem Ausflug in den Garten der Großeltern zeigt. Sie kommentiert die persönliche Bedeutung ihres Bildes wie folgt:

„Ich […] war […] alleinerziehend, keine Verwandten in Hamburg. Ich habe niemanden, wo man mal hinfährt, sich einfach hinsetzt und Essen auf den Tisch kriegt. Diese Erinnerung: Da gehen wir alle hin, müssen uns um nichts kümmern, die Kinder wollen nichts von uns, sondern gehen Oma und Opa auf den Keks, diese Entspannung, die meine Eltern auch dadurch hatten, und auch, dass immer was gemeinsam gemacht wurde am Sonntag, das ist ja weg. Dass ich ganz ohne Familie bin, das habe ich ja gemeinsam mit vielen, die hier wohnen. Man kann nie Pause machen. Deshalb finde ich das Bild schön; so mitteilenswert, dass es sowas auch geben kann.“

Damit verweist sie sowohl auf die vielen Alleinerziehenden, die in der Lenzsiedlung leben, als auch auf Familien mit Migrationserfahrungen, die oftmals keine Verwandten in der Nähe haben, auf die sie zurückgreifen können.

8. Fazit

Die Aktion kann grundsätzlich als erfolgreich eingeschätzt werden, da sie das Anliegen des Lenzsiedlung e. V., den Sozialraum für und mit den Bewohner*innen zu nutzen und zu gestalten, unterstützt. Durch den soziokulturellen Ansatz der Aktion konnten den Bewohner*innen ganz neue Möglichkeiten geboten werden, sich auszudrücken und in die Öffentlichkeit zu treten. Die Bildersäulen tragen zur optischen Aufwertung der Lenzsiedlung bei, würdigen aber v. a. die Bewohner*innen durch die öffentliche Wertschätzung ihrer Lebenserfahrungen und Personen durch ihre Bilder und Geschichten. Aufgrund der großen Diversität der Teilnehmenden und der Konzentration auf das Thema Familie gelang es, postmigrantische Perspektiven unverkrampft einfließen zu lassen.

Es wäre schön, wenn dem Lenzsiedlung e. V. auch weiter Mittel zur Verfügung stehen würden, um auf Erfahrungen mit soziokulturellen Angeboten wie diesem im Rahmen von Pomiku aufzubauen. So könnten dauerhaft weitere Angebote entwickelt werden, die an die Bildersäulen anschließen und den Bewohner*innen eine Stimme in der Öffentlichkeit geben. Zusätzlich könnte auch an Formaten gearbeitet werden, die zusätzlich den Gedanken des Austauschs mehr in den Fokus nehmen und auf diese Weise die soziale Kohäsion im Quartier und darüber hinaus unterstützen.

Literatur

Abel, Annette/Lölsdorf, Diana (2020). Kurationskonzept für den Ausstellungsteil des BMBF-Projektes Pomiku. Verfügbar unter: https://www.familienkulturen.de/wissenschaft/ (Abgerufen am 08.06.2021).

Foroutan, Naika/Huneke; Dorte (2013). „Wir brauchen neue Narrationen von Deutschland“ – Inter-view. In: Huneke, Dorte (Hrsg.): Ziemlich deutsch. Betrachtungen aus dem Einwanderungsland Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. 43–55.

Gülay, Cem/Kuhn, Helmut (2009): Türken-Sam. Eine deutsche Gangsterkarriere. Deutscher Taschenbuchverlag: München.

Knoblich, Tobias J. (2018): Programmformeln und Praxisformen von Soziokultur. Kulturpolitik als kulturelle Demokratie. Wiesbaden: Springer VS.

Stadtteilbüro Lenzsiedlung der Lawaetz-Stiftung (Hrsg.) (2007): Aktive Stadtteilentwicklung in der Lenzsiedlung 2000 bis 2006. Die Lenzsiedlung – die Queen Mary von Eimsbüttel. Hamburg: Im Auftrag des Bezirksamts Eimsbüttel, Aktive Stadtteilentwicklung.

Statistikamt Nord (2020): Sozialdaten des statistischen Gebiets 39010 (unveröffentlichte Daten).

Oelschlägel, Dieter (2012): Gemeinwesenarbeit – Chancen, Möglichkeiten und Voraussetzungen. Verfügbar unter: https://www.stadtteilarbeit.de/gemeinwesenarbeit/grundlagen/gemeinwesenarbeit-chancen-moeglichkeiten-und-voraussetzungen (abgerufen am 08.06.2021).

Yildiz, Erol (2018): Ideen zum Postmigrantischen. In: Foroutan, Naika u. a. (Hrsg.): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. 19–34.


Fußnote

[1] Auf der Internetseite www.familienkulturen.de/ausstellung/ sind weitere Aktionen der Ausstellungsreihe dargestellt.


Zitiervorschlag

Lölsdorf, Diana (2021): Digital erweiterte Bildersäulen – Ein räumliches Medium zur Entdeckung postmigrantischer Familienkulturen in einem Hamburger Quartier. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/digital-erweiterte-bildersaeulen.php, Datum des Zugriffs: 27.04.2024