Biographische Gespräche und Methoden – Anregungen für Reflexion und Involvierung in der Gemeinwesenarbeit

Katharina Kirsch-Soriano da Silva, Senada Bilalic

Einleitung

Unser Handeln ist eingebettet in unsere biographischen Erfahrungen – Verhältnisse und Erlebnisse, die uns geprägt haben, Haltungen und Handlungsstrategien, die wir entwickelt haben, Bedürfnisse und Wünsche, die uns beschäftigten bzw. aktuell beschäftigen, Träume und Ziele, die uns auch für die Zukunft motivieren. Unsere Lebenszeit ist gewissermaßen die Hintergrundfolie, auf der wir Ereignisse und Entwicklungen wahrnehmen, einordnen und ihnen – bewusst oder unbewusst – ihren Platz geben. Unsere Biographie ist damit ein wesentlicher Bezugspunkt, um Erfahrungen zu sammeln, zu reflektieren, daraus zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Biographieorientierte Methoden in der Gemeinwesenarbeit und Sozialraumarbeit möchten die damit verbundenen Potenziale heben und bewusst fördern. In diesem Beitrag sollen Biographische Gespräche und Methoden anhand verschiedener Praxisprojekte näher beleuchtet und die dabei identifizierten Potenziale und Herausforderungen reflektiert werden. Die Projekte sind Praxisprojekte der Stadtteilarbeit der Caritas Wien, die wir in den vergangenen Jahren in verschiedenen Kontexten durchgeführt haben. Die Methoden fokussieren dabei – im Rahmen der Stadtteilarbeit – einerseits auf individuelle Biographien und Erfahrungen, andererseits auch auf kollektive Erfahrungen und Wahrnehmungen und sind dabei immer auch verwoben mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen in und in Bezug auf konkrete Sozialräume wie den eigenen Wohnraum, die Nachbarschaft, das Wohnquartier oder das Grätzel.

Der eigene Wohnraum kann in diesem Kontext als Ausdruck der Praktiken des Wohnens und Zusammenlebens verstanden werden, der einerseits Möglichkeiten der individuellen Gestaltung, Aneignung und Entfaltung bietet, andererseits aber auch gesellschaftliche Verhältnisse und kulturelle Prägungen widerspiegelt. Er ist auf der einen Seite ein privater Raum, auf der anderen Seite aber auch in hohem Maße ein „sozial produzierter Raum“ (nach Löw 2001) – etwa durch Normen und Wertvorstellungen, die in ihm eingeschrieben sind, oder durch rechtliche und ökonomische Rahmenbedingungen, die den Zugang zu Wohnraum reglementieren. Die Auseinandersetzung mit Wohnbiographien zeigt, wie eng persönliche Biographien auch mit persönlichen Wohnräumen und Wohnstationen im Laufe unseres Lebens verknüpft sind.

Die eigenen Wohnräume sind wiederum eingebettet in ihr Umfeld – in die Nachbarschaft, das Wohnquartier, das Grätzel (Wienerisch für Stadtviertel). Die Nachbarschaft kann als sozialräumliches Gefüge verstanden werden, das durch die Nähe des Wohnortes konstituiert wird. Der Begriff der Nachbarschaft rückt dabei insbesondere die sozialen Beziehungen und Netzwerke in den Vordergrund, die ausgehend von wiederholten Begegnungen am Wohnort entstehen können – Nachbarschaft als der Sozialraum, „wo sich Menschen begegnen und alltägliche, lebensweltliche Beziehungsgeflechte entwickeln“ (Schnur 2018: 2). In ihrer Intensität können diese Beziehungen ganz unterschiedlich gestaltet sein und von zufälligen Bekanntschaften bis zu gegenseitiger Unterstützung und Nachbarschaftshilfe reichen.

Wenn wir – neben den sozialen Beziehungen – die räumliche Ausgestaltung und Ausstattung des Wohnumfelds stärker in den Blick nehmen möchten, verwenden wir den Begriff des Quartiers bzw. Wohnquartiers. Dieser bezieht sich beispielsweise auch auf die Ausstattung des Wohnumfelds mit Infrastruktur und Angeboten, auf die räumliche Gestaltung von Orten und Plätzen, die wiederum Nutzungen und Praktiken fördern oder hemmen können und damit auch einen erheblichen Einfluss auf die persönliche Wahrnehmung und Lebensqualität haben.

Der Wienerische Ausdruck Grätzel schließlich steht für Stadtviertel und ist vergleichbar mit den deutschen Ausdrücken Kiez (in Berlin) oder Veedel (in Köln). Das Grätzel ist dabei weniger eine administrative oder territoriale Kategorie (wie beispielsweise der Bezirk), sondern vielmehr eine „gefühlte sozialräumliche, alltagsweltliche Kategorie“ (Schnur 2008: 34). Oftmals handelt es sich um historisch gewachsene Strukturen, um ehemalige Dörfer oder Vorstadtgemeinden, die später eingemeindet und urbanisiert wurden, aber ein Stück weit auch ihre Charakteristik behalten haben. Die Grenzen eines Grätzels sind unscharf und unterliegen häufig auch subjektiven Wahrnehmungen. Die Identifikation mit einem Grätzel und dessen Geschichte ist häufig auch stark verbunden mit Geschichten, Erfahrungen und biographischen Erlebnissen seiner Bewohner*innen. 

1. Biographische Gespräche und Methoden – Einblicke in die Praxis

Die folgenden Praxisbeispiele geben Einblicke in unsere Praxis der Gemeinwesenarbeit der letzten Jahre und beleuchten biographische Gespräche und ergänzende biographieorientierte Methoden in verschiedenen inhaltlichen Kontexten und mit verschiedenen sozialräumlichen Bezügen.

1.1 Wohnbiographien

Im Rahmen verschiedener Projekte setzten wir uns mit „Wohnbiographien“ – persönlichen Wohnstationen und wie diese wahrgenommen werden – auseinander. Im Kontext des Projekts „Wohnen für geflüchtete Menschen in Wien“, das wir im Auftrag der Arbeiterkammer Wien und der Wiener Wohnbauforschung gemeinsam mit Projektpartner*innen realisierten und das hier als Praxisbeispiel herangezogen wird, führten wir im Sommer und Herbst 2019 insgesamt 22 Gespräche mit geflüchteten Menschen zu deren Wohnbiographien. Ziel war es, von geflüchteten Menschen selbst mehr über ihre konkreten Wohnverhältnisse und Wohnsituationen zu erfahren, insbesondere seitdem sie in Österreich leben, sowie über Verläufe von Wohnbiographien, über Herausforderungen und Handlungsstrategien und über Perspektiven für die Zukunft. Die Interviews fanden nach Möglichkeit vor Ort in den Wohnungen der Gesprächspartner*innen statt, um einen unmittelbaren Eindruck der Wohnverhältnisse zu bekommen und gleichzeitig den Interviewten einen Raum zu geben, der ihnen vertraut ist.

In Hinblick auf die Zielgruppe gibt Andrea Fritsche (2016: 171) zu bedenken, dass die qualitative Forschung mit geflüchteten Menschen ein Feld betritt, das durch Verrechtlichung und Bürokratisierung, Unsicherheit und Exklusion geprägt ist. Die Interviews wurden daher so konzipiert, dass 1.) Nähe, Vertrauen und Empathie möglich sind, allerdings trotzdem auf die notwendige Rollenabgrenzung über professionelle Distanz geachtet wird, 2.) Parallelen zur Einvernahme im rechtlichen Kontext vermieden und Charakteristika der Verrechtlichung und Bürokratisierung nicht reproduziert werden und 3.) freie Erzählungen möglich sind, ohne narrative Ungleichheiten zu zementieren (ebd.: 171).

Es wurde ein Interviewleitfaden erstellt, der vor allem für Narrationen der Interviewten Platz bot und gleichzeitig genügend Stütze enthielt, um auf Interviewpartner*innen zu reagieren, die Schwierigkeiten beim freien Erzählen im Kontext eines Interviews hatten. Unterstützend wurde die Methode des biographischen Zeitbalkens (Sander 2013) eingesetzt. Hier konnten die Interviewten ihre Erfahrungen zum Thema Wohnen auf einer Erfahrungsskala eintragen und damit eine subjektive Einschätzung in Hinblick auf verschiedene Wohnstationen in ihrer Wohnbiographie treffen. Der Aufbau der Gespräche orientierte sich am „dreiphasigen Interview“ (Honer 1994), das eine erste Phase des Plauderns und Aufbauens von Vertrauen vorsieht, eine zweite Phase, die zum Erzählen anregt, sowie eine dritte Phase, in der zusammengefasst und fokussiert wird. In dieser letzten reflexiven Phase wurden gemeinsam alle Wohnstationen der Interviewten wiederholt, um diese anschließend in einem Pfad der Wohnstationen dokumentieren zu können.

Biographischer Zeitbalken zur Einschätzung von Erfahrungen (Beispiel)

Abbildung 1: Biographischer Zeitbalken zur Einschätzung von Erfahrungen (Beispiel). Quelle: Eigene Darstellung.
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Die Basis für eine vertrauensvolle Atmosphäre bei den Gesprächen wurde u. a. durch „Brückenbildner*innen“ geschaffen. Es wurden Multiplikator*innen angesprochen, die Kontakt zu potenziellen Interviewpartner*innen hatten und wo es bereits eine Vertrauensbasis gab, auf die aufgebaut werden konnte. Dies waren Mitarbeiter*innen von Wohnberatungsstellen oder auch Multiplikator*innen aus verschiedenen Communities. Viele Gespräche wurden gemeinsam mit (muttersprachlichen) Multiplikator*innen geführt, die einerseits als Brückenbildner*innen fungierten, andererseits dabei halfen, Sprachbarrieren zu überwinden.

Im Rahmen der Gespräche wurden insbesondere die zahlreichen Brüche in den Biographien deutlich – von der Flucht aus dem Herkunftsland über die verschiedenen Stationen der Flucht bis zu diversen, insbesondere zu Beginn häufig wechselnden Wohnstationen in Österreich. Die biographischen Gespräche zeigten die persönlichen Perspektiven auf, die erlebten Herausforderungen, aber auch die Bewältigungsstrategien. Dabei wurden soziale Beziehungen und Netzwerke sichtbar, die im Verlauf der Wohnbiographien als hilfreich empfunden wurden, aber auch Organisationen, die unterstützten.

Die Beurteilung von einzelnen Wohnsituationen steht zudem immer auch in Verbindung mit davor oder danach erlebten Wohnsituationen und ist maßgeblich geprägt von den im eigenen Herkunftsland üblichen Wohnpraktiken und Wohnformen. Im Rahmen der Gespräche wurden die Gesprächspartner*innen dazu angeregt, nicht nur ihre aktuelle Situation zu erörtern, sondern auch Entwicklungen zu reflektieren. Dabei wurde ersichtlich, wie eng verknüpft Biographien und Wohnbiographien sind, welche zentrale Bedeutung das Wohnen für gesellschaftliche Inklusion hat und wie das Wohnen auch mit anderen Lebensbereichen verwoben ist. Anhand der eigenen Erfahrungen konnten teilweise auch mögliche Handlungsansätze für die Zukunft identifiziert werden. 

1.2 Nachbarschaftserzählungen

Eine weitere Variation des biographischen Gesprächs, die wir kurz vorstellen möchten, sind „Nachbarschaftserzählungen“. Solche Erzählungen haben wir in verschiedenen Nachbarschaften und Wohnanlagen in Wien im Rahmen zweier unserer Projekte umgesetzt - im Bereich der Gesundheitsförderung sowie im Bereich der partizipativen Sondierung für mögliche Modernisierungs- und Verbesserungsmaßnahmen im Wohnquartier. Die dabei von uns entwickelte Methode der Nachbarschaftserzählung beruht auf den Grundlagen des biographisch-narrativen Interviews bzw. Gesprächs (Atkinson/Delamont 2005) und wurde u. a. auch deshalb gewählt, da die Projekte insbesondere Senior*innen ansprechen wollten.

Mit Hilfe eines Gesprächsleitfadens, der kurze Impulsfragen beinhaltete, wurden die Gespräche in vertrauter angenehmer Atmosphäre geführt, sowohl in privaten Räumlichkeiten der Bewohner*innen als auch in gemeinschaftlichen bzw. öffentlich zugänglichen Räumen der Wohnanlagen. Die Gespräche setzten sich aus einer Erklärungs- und Einleitungsphase, einer Erzählphase, einer Nachfragephase, sowie einer Bilanzierungs- und Diskussionsphase zusammen. Zu Beginn wurden die Bewohner*innen über den jeweils projektspezifischen Kontext des Gesprächs aufgeklärt und im Anschluss mit einer möglichst offen formulierten Einstiegsfrage zum Erzählen angeregt. Der Fokus der Gespräche lag auf dem Erzählen von persönlichen Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen in Verbindung mit der Nachbarschaft oder mit dem konkreten Wohnquartier. Vor allem ältere und länger an einem Ort lebende Bewohner*innen wurden dazu eingeladen, ihre Erinnerungen und Erfahrungen in der Nachbarschaft bzw. im Wohnquartier zu artikulieren mit ihren Nachbar*innen zu teilen.

Die eigenständige Aufarbeitung der individuellen Geschichten ermöglichte den Erzähler*innen einerseits ihren Lebensweg und das Leben in der Nachbarschaft bzw. in der Wohnanlage retrospektiv bis in die Gegenwart zu verfolgen und zu betrachten. Anderseits konnten so die Ressourcen der Nachbarschaft und der Einfluss des Wohnumfeldes auf die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden erkannt werden. Das Bewusstsein für Zusammenhänge zwischen der Nachbarschaft und dem eigenen Wohlbefinden war nicht von Beginn an bei allen Gesprächspartner*innen vorhanden. Häufig wurden solche Zusammenhänge erst im Laufe der Erzählungen identifiziert. Die Auseinandersetzung mit der „Nachbarschaft heute und damals“ zeigte, wie eng verwoben manche prägenden Erlebnisse aus der Vergangenheit mit dem unmittelbaren Lebensumfeld bzw. der Nachbarschaft waren und sind. Durch das Sichtbarmachen der Erzählungen (beispielsweise im Rahmen von Treffen oder in Form von Ausstellungen) konnte zudem das generierte und zusammengetragene Wissen aus den Gesprächen auch an weitere Menschen in der Nachbarschaft bzw. in der Wohnanlage weitergegeben werden. Das Teilen eigener Geschichten und Erinnerungen sowie die Weitergabe des generierten Wissens ermöglichte es den Erzählenden auch, besondere Wertschätzung zu erfahren.

Ergänzend zu den Nachbarschaftserzählungen wurden in einem der Projekte zudem noch zwei weitere Methoden angewandt: „Nachbarschaftsbücher“ und „Nachbarschaftsportraits“.

Das Nachbarschaftsbuch ist ein Tool, das – angelehnt an Freundschaftsbücher, die viele noch aus ihrer Kindheit kennen – von uns entwickelt wurde. Die Nachbarschaftsbücher wurden in verschiedenen Nachbarschaften in Umlauf gebracht und von einem Nachbarn zum nächsten weitergereicht. Sie ermöglichten den Bewohner*innen, sich selbst in kurzer Form zu portraitieren, Ideen für Nachbarschaftsinitiativen zu formulieren oder ihr Wissen über „gesundes Leben bzw. Wohlfühlen im Grätzel“ für die Nachbarschaft schriftlich festzuhalten. Das Buch beinhaltete verschiedene Fragen zur eigenen Person, zu Wohndauer, Hobbies, Interessen, Kompetenzen, gesunden Tipps, Lieblingsplätzen sowie dem Wohnumfeld und der Bedeutung von Nachbarschaft. Diese Fragen wurden von dem oder der aktuellen „Besitzer*in“ schriftlich beantwortet. Die Betreuung des Buches übernahmen engagierte Bewohner*innen bzw. Multiplikator*innen, die in den Wohnanlagen selbst leben oder dort gut vernetzt sind. Mit ihrer Unterstützung konnte die Weiterreichung des Nachbarschaftsbuchs von Haushalt zu Haushalt erfolgen. Die Weitergabe der Bücher förderte niederschwelligen Wissensaustausch und ein besseres Kennenlernen der Bewohner*innen untereinander und fungierte als Ausgangspunkt für weitere Initiativen und Projektaktivitäten.

Die Nachbarschaftsportraits holten die Nachbar*innen vor die Kameralinse und präsentierten sowohl die Nachbarschaftsnetzwerke als auch die Lieblingsplätze bzw. die Wohlfühloasen der Nachbarschaft. Dabei wurden Bewohner*innen nach ihren Bekanntschaften und Kontakten in der Nachbarschaft gefragt. Diese Nachbarschaftsbekanntschaften konnten in ihrem jeweiligen räumlichen Setting (z. B. Wohnung, Balkon, Stiegenhaus, Hof, Parkbank) mit Foto portraitiert bzw. in Erzählungen festgehalten werden. Die „Nachbarschaftsbekanntschaften“ setzten sich im Schneeballsystem fort, sodass am Ende Portraitserien entstanden und verschiedene aktivierende Gespräche rund um Wohlfühlen in der Nachbarschaft geführt wurden.

Die Nachbarschaftserzählungen, Nachbarschaftsportraits und Nachbarschaftsbücher ermöglichten es den Bewohner*innen, ihre ganz persönlichen Anliegen, Bedürfnisse, Wünsche, Geschichten, das vorhandene Wissen und Lebensräume auf kreative Weise sichtbar zu machen. Ihre Erinnerungen und Wahrnehmungen von „Nachbarschaft heute und damals“ zeigten sowohl individuelle Sichtweisen, als auch Wandlungsprozesse im Laufe der Zeit im eigenen Lebensraum auf. Der Erfahrungsaustausch, die Diskussion von im Laufe der Zeit erlebten Veränderungen sowie aktuellen Erlebnissen am Wohnort ermöglichten in weiterer Folge die Entwicklung von Ideen für die gemeinsame Zukunft in der Nachbarschaft bzw. im Wohnquartier.

1.3 Grätzelerkundungen

Einen explorativen und kreativen methodischen Ansatz bilden die fotographischen „Grätzelerkundungen“. Diese Methode wurde als interaktive Workshopreihe konzipiert, die im Rahmen eines unserer Gesundheitsförderungsprojekte unter Einbeziehung von lokalen Einrichtungen, Multiplikator*innen und Bewohner*innen rund um das Thema „Gesunde Nachbarschaft“ entwickelt und mit mehreren Gruppen umgesetzt wurde. Das Konzept der Grätzelerkundungen gliederte sich in drei Umsetzungsphasen. Dabei bediente es sich der Grundelemente der partizipativen Methode „Photovoice“ (Wang 1999; Burtscher et al. 2017).

In der Vorbereitungsphase konnten die Teilnehmer*innen in Workshop-Indoor-Einheiten vorab Wissen über Themen wie „Bedeutung von Gesundheit“, „Was beeinflusst das eigene Wohlbefinden?“, „Wissenswertes über das Grätzel und den Bezirk“, „Erste Übungen mit der Kamera und Vorbereitungen auf die Grätzelspaziergänge“ interaktiv akquirieren. Auf die Vorbereitungsphase folgte die Feldphase bzw. die Erkundungstour durch das Grätzel, die fotographisch von den Teilnehmer*innen dokumentiert und festgehalten wurde.

Nach der direkten individuellen Auseinandersetzung mit der Umgebung konnten die Teilnehmer*innen im Rahmen der Auswertungsphase ihre Bilder und Wahrnehmungen in Kleingruppen präsentieren, gemeinsam diskutieren und reflektieren. Sie konnten Geschichten erzählen, die sie mit den wahrgenommenen Orten verbinden und assoziieren, oder aber sie gaben praktische Informationen rund um ihre Alltagsorte weiter.

Dabei wurden individuelle Perspektiven und Wahrnehmungen sichtbar und mit anderen geteilt. Es offenbarten sich neue Blickwinkel auf scheinbar bekannte Orte, sowohl für die Fotograph*innen selbst als auch für die Betrachter*innen. Menschen und deren Beziehungen und Praktiken, aber auch Orte und deren Beschaffenheit, Ausstattung und Wahrnehmung kamen in den Fokus. Die Präsentation in Form von Collagen und Plakaten öffnete zudem den Raum für Interpretationen und Inszenierungen des eigenen Grätzels.

Interpretation der Fotos nach der Grätzelerkundung

Abbildung 2: Interpretation der Fotos nach der Grätzelerkundung. Quelle: Caritas Stadtteilarbeit.

Gemeinsame Gestaltung von Plakaten

Abbildung 3: Gemeinsame Gestaltung von Plakaten. Quelle: Caritas Stadtteilarbeit.

Die visuelle Auseinandersetzung regte dazu an, sich mit den eigenen Wahrnehmungen, Bedürfnissen und Anliegen auseinanderzusetzen und machte persönliche Perspektiven und Erzählungen auf kreative Weise sichtbar. Der Zugang dabei war stets ein forschender, explorativer, interaktiver und partizipativer, der unterschiedliche Perspektiven auf das Grätzel sichtbar machte und gleichzeitig kreative Handlungsansätze für mögliche Interventionen und Veränderungsprozesse im Grätzel und in der Nachbarschaft identifizierte. Diese dienten wiederum als Ausgangspunkt für konkrete Initiativen und Aktivitäten im Bezirk.

2. Potenziale und Herausforderungen biographieorientierter Methoden   

In einer zusammenschauenden Reflexion werden nun, ausgehend von den davor beleuchteten Praxisprojekten, die Potenziale und Herausforderungen biographieorientierter Methoden kurz skizziert.

2.1 Biographische Gespräche bilden einen sehr persönlichen Zugang

Biographische Gespräche sind eine anspruchsvolle Methode, die uns einerseits vielfältige Einblicke in die Lebenswelten der Erzählenden bietet und anderseits von Emotionen und manchmal von Hürden geprägt sein kann. Auch wenn das biographische Gespräch auf der Alltagskompetenz des Erzählens beruht, möchten nicht alle Menschen auf Anhieb ihre Lebensgeschichte preisgeben. Auch verfügt nicht jede*r im gleichen Maß über die Kompetenz des Erzählens. Die Gespräche haben einen sehr großen Offenbarungswert. Dieser kann auf manche Menschen einschüchternd wirken – die*der Erzählende stellt ihre*seine Identität, Erfahrungen und Erkenntnisse vor und vermittelt viele persönliche Informationen. Die Bereitschaft, sich auf ein biographisches Gespräch einzulassen und persönliche Informationen durch das Erzählen preiszugeben, erfordert Vertrauen gegenüber dem*der Zuhörer*in. Dieses Vertrauen muss erst aufgebaut und erlangt werden. Einen wichtigen Faktor für den Vertrauensaufbau in unserer Arbeit stellt die Methode der aufsuchenden und aktivierenden Gespräche dar, die häufig den tatsächlichen biographieorientierten Methoden vorangehen. Sie bieten die Möglichkeit, die potenziellen Erzähler*innen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld persönlich anzusprechen und kennenzulernen. Die aufsuchende Arbeit ermöglicht einerseits das Knüpfen von ersten Kontakten und Vertrauensaufbau, anderseits aber auch die erste Auseinandersetzung und Sensibilisierung mit der Thematik „Persönliche Biographie und Sozialraum“.

Die vorsichtige Annäherung und der Vertrauensaufbau bedürfen einer Begegnung auf Augenhöhe und gegenseitiger Wertschätzung. Erst dann wird es der*dem Erzählenden ermöglicht, ihre*seine Geschichten und Erfahrungen im Gespräch narrativ aufzuarbeiten und zu reflektieren. Auch durch die Involvierung bereits bekannter Multiplikator*innen kann Vertrauen geschaffen werden, da diese in der Lage sind als Türöffner*innen und Brückenbauer*innen zu fungieren. Wenn der biographische Zugang gelingt, zeigt sich umgekehrt, wie gerade in diesem Zugang auch eine starke Kraft liegt. Es werden emotionale und persönliche Perspektiven sichtbar und angesprochen, die in der Folge Anreiz und Motivation für das eigene Engagement z. B. in Nachbarschaft und Wohnumfeld darstellen können.

2.2 Die biographische Perspektive regt zu Reflexion und Lernprozessen an

Unsere Biographie ist als Entwicklung, als ein Prozess, zu verstehen. Die Dimension der Zeit ist in dem Fall die eigene Lebenszeit, die individuelle und kollektive Erfahrungen mit sich bringt, die auch für unser alltägliches Handeln und für unsere aktuellen Entscheidungen eine wichtige Grundlage bilden. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit prägen so das heutige Verhalten. Insbesondere für den Umgang mit Herausforderungen und Krisen kann es hilfreich sein, in der Vergangenheit Probleme oder Krisen bereits erfolgreich bewältigt zu haben. Das Bewusstsein darüber kann im Umgang mit Schwierigkeiten unterstützen und damit auch Resilienz fördern. Biographische Gespräche können dabei hilfreich sein, zurückzuschauen und durch eine retrospektive Reflexion Lernprozesse in Gang zu setzen. Im Rahmen der Gemeinwesenarbeit ist es dabei auch wesentlich, stets im Blick zu haben, wo vielleicht tiefer liegende Themen oder Traumata dahinterstehen, die auch einer professionellen Bearbeitung bedürfen und wo gegebenenfalls an weitere Ansprechstellen vermittelt bzw. sensibel Wege zu diesen aufgezeigt werden können. Wo biographische Perspektiven mit anderen geteilt werden, können sie zudem Ausgangspunkt für Begegnung und Diskussion sein. Die Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen und Perspektiven anderer verändert dabei auch die eigene Wahrnehmung. Sie fördert wechselseitige Lernprozesse und kann Ausgangspunkt sein für konkrete Aktivitäten, für Interventionen im Sozialraum sowie für die Gestaltung von Netzwerken und Beziehungen.

2.3 Die eigene Biographie ist verwoben mit sozialen Beziehungen und Orten

Wie biographieorientierte Methoden in der Gemeinwesenarbeit zeigen, sind individuelle Biographien stets auch verwoben mit sozialen Beziehungen und Orten. Dies wird sichtbar bei Gesprächen und Methoden, welche die Nachbarschaft und das Wohnumfeld in den Blick nehmen. Das Konzept der Nachbarschaft fokussiert dabei auf den Sozialraum als Ort der sozialen Beziehungen, die sich unter Nachbar*innen herausbilden. Insbesondere persönliche Beziehungen und Netzwerke spielen eine große Rolle, wie wir uns und unser Wohnumfeld wahrnehmen. Sie können unterstützend sein, aber auch beeinträchtigend. So kann eine Nachbarschaft als positiv erlebt werden, weil es Nachbarschaftshilfe und gegenseitige Unterstützung gibt oder weil es ein ruhiges Nebeneinander gibt, aber auch als negativ, weil es Nachbarschaftskonflikte gibt. Soziale Netzwerke, wie die aus den eigenen ethnischen Communities, können unterstützend sein beim Ankommen und Leben in Österreich, sie können aber auch den Zugang zu Wissen und weiteren Kontakten oder Ansprechstellen darüber hinaus einschränken.

Auch die Orte, an denen wir wohnen und leben, prägen unsere Biographie. Alltagswege und Routinen schreiben sich in das Quartier oder den Stadtteil, in dem wir leben, ein und sind mit diesem verbunden. Räumliche Gegebenheiten können dabei ebenfalls förderlich und hinderlich für das Gemeinwesen sowie das eigene Wohlbefinden sein, durch die Art, wie sie ausgestattet oder gestaltet sind. Sie prägen damit wiederum unsere Wahrnehmung und die Bedeutung, die wir ihnen beimessen, wenn wir auf ein Quartier bzw. einen Stadtteil oder ein Grätzel schauen. Dies machen gerade die Grätzelerkundungen und die Arbeit mit Fotos sehr deutlich. Im Rahmen von Gemeinwesenarbeit können allerdings nicht nur diese Zusammenhänge reflektiert werden, sondern der Blick darauf gelenkt werden, wie sowohl die sozialen Beziehungen, als auch die Orte, die uns umgeben, aktiv gestaltet werden können.

3. Ausblick

Wie aus den geschilderten Erfahrungen ersichtlich wird, können biographieorientierte Gespräche und Methoden Ausgangspunkte für Lernprozesse sein – vor dem Hintergrund der eigenen Biographie, verwoben mit der eigenen Entwicklung und verbunden mit ganz konkreten Sozialräumen. Durch den persönlichen Zugang haben sie das Potenzial, Menschen mit ihren persönlichen Perspektiven und Bedürfnissen anzusprechen und sie zu motivieren, sich zu artikulieren und einzubringen. Gleichzeitig erfordert die Arbeit mit biographischen Gesprächen und Methoden ein gewisses Vertrauen und ist damit meist eng mit Gemeinwesenarbeit als Beziehungsarbeit verknüpft. Wenn dies gelingt, bergen sie das Potenzial, Reflexionsprozesse anzuregen – auf individueller Ebene, sowie, im Austausch mit anderen, in Wohnumfeld und Nachbarschaft, auch auf kollektiver Ebene. Sie bieten Ausgangspunkte für emanzipatorisches Handeln, wo vor dem Hintergrund der eigenen Entwicklung auch neue Entscheidungen getroffen und Interventionen gesetzt werden können. Aufgabe der Gemeinwesenarbeit ist es in diesem Kontext, diese Entwicklungs- und Emanzipationspotenziale zu erkennen und zu fördern, schlummernde Talente zum Vorschein zu bringen und zum Entwickeln von Handlungsmöglichkeiten, auf Basis von biographischen Entwicklungs- und Lernprozessen, zu ermächtigen.

Literatur

Atkinson, Paul/Delamont, Sara (Hrsg.) (2005): Narrative methods. London: Sage.

Burtscher, Reinhard/Allweiss, Theresa/Perowanowitsch Merlin/Rott, Elisabeth (2017): Gesundheitsförderung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten: leichter lernen mit dem Projekt GESUND! Berlin: vdek.

Fritsche, Andrea (2016): Kultur(en) und Sprache(n) der Asylwirklichkeit – Herausforderungen empirischer Forschung im Kontext von Unsicherheit, Verrechtlichung, Interkulturalität und Mehrsprachigkeit. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie (41) (Supplement 2), 165-190.

Honer, Anne (1994): Das explorative Interview: zur Rekonstruktion der Relevanzen von Expertinnen und anderen Leuten. In: Schweizerische Zeitung für Soziologie (20), 623-640.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schnur, Olaf (2008): Quartiersforschung im Überblick: Konzepte, Definitionen und aktuelle Perspektiven. In: ders. (Hrsg.) (2008): Quartiersforschung. Zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden: VS Verlag.

Schnur, Olaf (2018): (Neue) Nachbarschaft – Skizze eines Forschungsfelds. vhw werkSTADT Nummer 23.

Sander, Kirsten (2013): Biographiearbeit. Grundlagen der Pflege für die Aus-, Fort- und Weiterbildung, Heft 21, 2. Auflage. Brake: Prodos Verlag.

Wang, Caroline (1999): Photovoice. A participatory action research strategy applied to women's health. In: Journal of women's health (8) 2, 185-192.


Zitiervorschlag

Kirsch-Soriano da Silva, Katharina und Senada Bilalic (2021): Biographische Gespräche und Methoden – Anregungen für Reflexion und Involvierung in der Gemeinwesenarbeit. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/biographische-gespraeche-und-methoden.php, Datum des Zugriffs: 29.03.2024