„Zeigt ihr mir Euer Internet?“ – Die Erkundung von Online-Orten als digitale Variante der Stadtteilbegehung mit Jugendlichen

Scheibe, Matthias

1. Einleitung

Die soziale und technische (Weiter-)Entwicklung des Internets betrifft neben dem wirtschaftlichen Handeln auch nahezu alle privaten Lebensbereiche von Personen. Vor allem bei jüngeren verändert sie die Art zu kommunizieren und soziale Kontakte zu pflegen radikal und damit auch das gesamte gesellschaftliche Zusammenleben (Stüwe/Ermel 2019: 41). Sie führt dadurch auch zu großen Herausforderungen für die Fachkräfte in der Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit, welchen sie bislang nur teilweise kompetent und entschlossen begegnen (kann) (vgl. Bossong 2018).

Auf diese Situation wurde in jüngster Zeit mit einschlägigen Veröffentlichungen reagiert (z. B. Stüwe/Ermel 2019; Themenhefte 2/2019 der Zeitschrift Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit bzw. 3–4/2019 der Zeitschrift Sozialmagazin). Auch in Bezug auf Handlungs- und Analysemethoden wurde das Thema schon ausführlicher beschrieben und bereits vereinzelte Angebote in verschiedenen Ausgaben von sozialraum.de entwickelt oder etwa auch als „Nadelmethode 2.0“ (vgl. Malcherowitz/Weck 2017) an anderer Stelle publiziert. Auch Christian Reutlinger und Ulrich Deinet verweisen auf webbasierte Versionen der klassischen sozialraumanalytischen Methoden und regen die Weiterentwicklung anderer an, beispielsweise als eine digitale Form der Stadtteilbegehung (2019: 11), die als Weiterentwicklung der ursprünglichen Form der Stadtteilbegehung (vgl. Deinet/Krisch 2009) betrachtet werden kann.

An diese Bedarfsfeststellung schließe ich mich mit dem hier vorliegenden Beitrag an, indem ich ein methodisches Vorgehen für eine digitale Form der Stadtteilbegehung darlege und dabei zur Diskussion stelle, die die positiven Effekte der klassischen Stadteilbegehung in den virtuellen Raum übertragen werden können. Hierfür werde ich zunächst einige hier zugrunde liegende konzeptionelle Vorstellungen zur räumlichen Beschaffenheit von Online-Angeboten erläutern und dann die analoge Stadtteilbegehung beschreiben. Auf dieser aufbauend entwerfe ich dann ein methodisch geleitetes Verfahren für die „Erkundung von Online-Orten“. Abschließend fasse ich die zentralen Aussagen zusammen und gebe einen Ausblick.

2. Online-Angebote im Internet: Medien oder soziale Räume?

Das frühe Internet diente zunächst dem Datenaustausch zur wissenschaftlichen Forschung mithilfe einiger vernetzter Supercomputer. Erst nach der Öffnung für die Allgemeinheit bekamen immer mehr Menschen einen Zugang zu den digitalen Angeboten. Da es aber in den 1990er Jahren noch anspruchsvoll, aufwendig und teuer war, eine eigene Homepage zu erstellen, dominierten inhaltlich Informations-, Shopping- und Unterhaltungsangebote finanzstarker Akteur*innen das Internet. Diese sendeten, während die meisten Menschen lediglich empfingen. Hohe Freiheitsgrade und eine abwesende Zensur inspirierten jedoch viele Personen, sich aktiv zu beteiligen, was durch Homepage-Baukastensysteme und andere unterstützende Angebote möglich wurde. Zudem wuchs die Bedeutung von webbasierten Suchmaschinen, weshalb nun auch Inhalte außerhalb des Mainstreams gefunden werden konnten. Ein größerer Wandel kam mit den sozialen Netzwerken und dem so genannten Web 2.0, das stärker auf User-generierten Inhalten und Angeboten basiert (z. B. beginnend mit StudiVZ, MySpace über Facebook und Twitter und heute etwa mit Instagram, Snapchat oder TikTok) sowie Instant Messengern (z. B. beginnend mit ICQ über WhatsApp und heute mit Telegram oder Threema). All diese Angebote ermöglichen wesentlich stärker, eigene Informationen zu publizieren und zu diskutieren und festzulegen, in welcher Form und Weise dies geschieht. Digitale und analoge Räume nähern sich hierbei immer weiter an und verbinden sich durch die technischen Möglichkeiten des Smartphones (vgl. Andelfinger/Hänisch 2015: 11 ff.).

Mittlerweile können in Deutschland nahezu alle Personen das Internet nutzen (Frees/Koch 2019). Für heutige Kinder und Jugendliche ist dies alltäglich, sie haben die Zeit vor der Digitalisierung nicht mehr erlebt und werden deshalb auch als digital natives bezeichnet (Günzel 2017: 8). Sie nutzen digitale Angebote ganz selbstverständlich, um bestehende Freundschaften zu pflegen, aber auch, um andere Menschen kennenzulernen (Waechter/Hollauf 2018: 219).

Der auf den Science-Fiction-Autor William Gibson zurückgehende Begriff „Cyberspace“ wird als Synonym für das seit 1991 öffentlich zugängliche Internet verwendet (Günzel 2017: 7 f.) und deutet schon auf dessen Räumlichkeit hin. Es wird fortwährend von Menschen konzipiert, konstruiert und konsultiert, weshalb es der analogen Welt auch nicht vollständig verschieden ist. Selbst wenn im Internet viel mehr Aktivitäten möglich sind, beziehen sich diese sich immer (noch) auf reale Personen. Somit ist das Internet kein Medium, sondern ein Netz mit einer Vielzahl digitaler sozialer Räume, in denen unterschiedliche (mediale) Angebote genutzt werden (können). Es existieren dort virtuelle Versionen von Einkaufszentren (z. B. Amazon, Zalando), Flohmärkten (z. B. Ebay, Kleiderkreisel), Kinos (z. B. Youtube, Vimeo), Galerien (z. B. Instagram, Flickr), Treffpunkten (z .B. Facebook, WhatsApp), Bibliotheken, Spielhallen etc.

Diese Situation kann anhand des Raumverständnisses des französischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre auch theoretisch erfasst werden. Dieser vertrat die Ansicht, dass „der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt ist“ (Lefebvre 2018: 330), der sich aus dem subjektiv Erlebbaren in der räumlichen Praxis, der gesellschaftlichen Ordnung als Raumrepräsentation sowie den vielschichtigen Symbolisierungen in Repräsentationsräumen zusammensetzt (ebd.: 333). Demzufolge wird Raum für ihn gleichzeitig auf der Makro-, Meso- und der Mikroebene konstruiert.

Die gesellschaftliche Ordnung spiegelt sich in der Architektur, also den Raumrepräsentationen wider (ebd.). Die dafür nötigen Zeichen sind geplant und umgesetzt, weshalb sie sichtbar sind und zunächst kohärent erscheinen (ebd.: 336). In ihr werden wissenschaftliche Erkenntnisse mit ideologischen Vorstellungen vermischt, die aber bei verändertem Zeitgeist auch korrigiert werden können (ebd.: 339). Bezogen auf das Internet wären hier gesetzliche Rahmenbedingungen (z. B. EU-Leistungsschutzrecht, Europäische Datenschutz-Grundverordnung), der Netzausbau mit den jeweiligen Datenübertragungsraten sowie die spezifischen Algorithmen und Funktionen der Suchmaschinen bzw. sozialen Netzwerke zu nennen.

Die Menschen erleben ihren Raum individuell. Sie eignen ihn sich langsam aber stetig durch ihre Interaktionen an. Er korrespondiert mit ihrem Alltag. Dies meint Lefebvre mit räumlicher Praxis, in der Zeit und Orte durch den jeweiligen Tagesablauf eng miteinander verknüpft werden. Die Menschen sind hierfür fähig, ihr Umfeld zu verstehen (Kompetenz) und sich in ihm entsprechend zu verhalten (Performanz). Dies erscheint ihnen dabei sinnhaft, jedoch muss es dazu nicht unbedingt kohärent sein (ebd.: 335). Dies spiegelt sich auch im Onlineverhalten der Menschen wider, so können sie einerseits individuelle Suchstrategien verwenden und die spezifischen Anforderungen von verschiedenen Internetseiten erkennen. Andererseits gestalten sie eigene Profile und Avatare, welche sie für andere interessant halten. Dies kann auch durch widersprüchliche Beiträge geschehen.

Die Repräsentationsräume manifestieren sich zwischen der räumlichen Praxis und den Raumrepräsentationen (ebd.: 339), da sie die Architektur symbolisch kontextualisieren (ebd.: 336) und so mit dem sozialen Leben verbinden (ebd.: 333). Sie werden von dem Horizont begrenzt (ebd.: 339) und sind der gelebte Raum, den Menschen bewohnen bzw. nutzen (ebd.: 336). In der analogen Welt handelt es sich hier oft um Stadtteile, Nachbarschaften und Freundeskreise, welche mittlerweile durch digitale Gruppen, Netzwerke und Foren ergänzt, erweitert oder hinterfragt werden.

Die Überlegungen von Lefebvre sind auch auf die jetzigen virtuellen Räume anwendbar, so entspricht das individuelle Konsum- und Interaktionsverhalten der räumlichen Praxis, während Internetsuchmaschinen und soziale Netzwerke die strukturelle Dimension der Raumrepräsentationen verkörpern. Zwischen beiden fungieren Gruppen und Foren wie die Repräsentationsräume in der analogen Welt. Hierdurch wird sichtbar, dass die meisten Menschen, und vor allem viele Jugendliche, heutzutage sowohl analoge (Schule, Jugendzentrum, Sportplatz etc.) als auch digitale Räume (Soziale Netzwerke, Video-/ Fotoplattformen etc.) in ihre hybriden Lebenswelten integriert haben. Diese können durch verschiedene sozialraumanalytische Techniken erkundet werden.

3. Die Methode der Stadtteilbegehung

Sozialraumanalytische Erkundungsverfahren können sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft der Sozialen Arbeit gewinnbringend eingesetzt werden. Christian Spatscheck und Karin Wolf-Ostermann verweisen hierbei auf die Anwendungsmöglichkeiten zur Problem- und Ressourcenanalyse, Konzeptentwicklung sowie als Methode für die Praxisforschung (2016: 25–36) und verdeutlichen dies an ausgewählten Beispielen, u. a. mit der im Rückgriff auf Deinet/Krisch (2009) dargestellten Stadtteilbegehung (Spatscheck/Wolf-Ostermann: 43–51). Die große Varianz der Rahmenbedingungen führte mit der Zeit zu vielen verschieden Varianten dieser Technik, von denen ich hier mit Bezug auf Richard Krisch (2009) zwei einschlägige exemplarisch vorstelle.

Variante 1: Die Fachkraft „durchstreift“ bei der (situativ strukturierten) Stadtteilbegehung mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam mit einer kleinen Gruppe eher ähnlicher Teilnehmendengruppe das Quartier auf einer von ihnen eingeschlagenen Route und hält deren Interpretationen der jeweiligen Orte fest. Durch mehrere Begehungen mit unterschiedlichen Gruppen verdichtet sich einerseits das Bild, anderseits können so verschiedene Nutzungsgewohnheiten und Aneignungsformen identifiziert werden. Die Analyse der einzelnen Mitschriften erfolgt anschließend im Team (vgl. Krisch 2009: 164 f.).

Variante 2: Die (vor-)strukturierte Stadtteilbegehung unterscheidet sich von der bereits vorgestellten Version durch eine vorgelagerte Phase, in der die Fachkräfte zu unterschiedlichen Zeiten ein bestimmtes Gebiet auf vorher festgelegten Routen mehrmals ablaufen und ihre jeweiligen Eindrücke festhalten und anschließend auswerten. Erst danach werden Jugendliche in den Prozess einbezogen, um mit ihnen die identifizierten Orte aufzusuchen und sie nach ihren Ansichten zu den Beobachtungen zu befragen. Die Gegenüberstellung beider Sichtweisen ermöglicht die Wechselwirkung sozialräumlicher Zusammenhänge systematisch zu erfassen und die Erkenntnisse zu verdichten (vgl. ebd.: 166).

4. Die Methode der Erkundung von Online-Orten als Weiterentwicklung der Stadtteilbegehung

Das im Folgenden beschriebene Verfahren der Erkundung von Online-Orten versteht sich als Weiterentwicklung der Stadtteilbegehung und als deren Übertragung in virtuelle Welten. Die Methodik ist so konzipiert, dass mit ihr nicht nur genutzte Internetseiten und soziale Netzwerke abgefragt werden. Vielmehr werden in gemeinsamen Suchbewegungen und in kommunikativen Prozessen die Erfahrungen und Wirkungen der Online-Nutzung gemeinsam erkundet.

Das Ziel ist, zu verstehen, nach welchen Interessen und Kriterien die Mitmachenden sich für digitale Angebote entscheiden und wie sie sich diese aneignen (z. B. Profilgestaltung) und wie diese von ihnen geprägt und beeinflusst werden. Zudem können Einblicke in spezifische Interaktionsweisen gewonnen werden. Es ist sinnhaft, eine solche Interneterkundung einzusetzen, wenn genug Grundvertrauen und eine gute Arbeitsbeziehung bereits vorliegen und dann Wissen zu genau diesen Punkten generiert werden soll.

Dabei ist es notwendig Jugendliche zu finden, die bereit sind, sich zur eigenen Internetnutzung öffentlich zu äußern. Dazu kann entweder eine bereits bestehende Gruppe als ganze angesprochen werden, welche dann gemeinsam an der Erkundung teilnimmt, oder es werden einzelne direkt angefragt und die Gruppe entsteht erst in der Situation. In beiden Fällen sollte ein Termin gefunden werden, an dem alle Beteiligten dabei sein können. Und sie werden dafür vorbereitet, dass sie dann ein internetfähiges Gerät mitbringen sollten, wahrscheinlich wird das ihr Smartphone sein.

Im Gegensatz zur klassischen Stadtteilbegehung, bei der der Ort immer physisch verfügbar ist, benötigt diese Variante ein spezifisch ausgestattetes Zimmer, in dem ein störungsfreies Arbeiten möglich ist. Ebenso sind ein internetfähiger Computer und ein Beamer mit geeigneter Projektionsfläche unabdingbar. Zudem sollte es so groß sein, dass alle Teilnehmenden bequem in einem Halbkreis sitzen und das an die Wand geworfene gut sehen können. Darüber hinaus werden Moderationskarten, Stifte und ein großes Blatt Papier (z. B. Flipchart) benötigt, wenn die Analysetechnik situativ strukturiert wird. Zusätzlich ist ein stabiles W-LAN Signal basal für einen gelingenden Einsatz der Interneterkundung. Die Grafik (siehe Abb.) zeigt, wie ein solches Zimmer arrangiert werden könnte.

 Zimmergestaltung Interneterkundung
Abbildung 1: Zimmergestaltung Interneterkundung (eigene Darstellung)

Im nächsten Schritt überlegt sich die Fachkraft, ob sie die Methode inhaltlich vor- oder situativ strukturieren möchte. Entscheidet sich die Fachkraft dafür, das gemeinsame Treffen vorher zu strukturieren, dann ist es notwendig, dass sie zunächst einschlägige Untersuchungen zur zielgruppenspezifischen Internetnutzung auswertet. Hierfür könnten sich beispielsweise die KIM Studie (vgl. Feierabend/Plankenhorn/Rathgeb 2017a) bzw. die JIM Studie (vgl. Feierabend/Plankenhorn/Rathgeb 2017b) als nützliche Informationsquellen erweisen. Die dort getroffenen allgemeinen Aussagen müssen jedoch anschließend im Einrichtungsteam mit Blick auf die konkreten Teilnehmenden diskutiert werden, da diese die digitalen Angebote sehr individuell nutzen. Nachdem die Informationen abgeglichen wurden und darüber identifiziert wurde, welche Internetangebote für die Teilnehmenden als relevant erachtet werden, erstellt die verantwortliche Fachkraft von diesen eine Liste und ordnet die Nennungen priorisiert an.

Anders gestaltet sich das Vorgehen, wenn es situativ strukturiert werden soll. In diesem Fall geht die Fachkraft „unvorbereitet“ zu dem Termin und bittet die Teilnehmenden, die von ihnen am häufigsten genutzten Internetangebote geheim auf eine Moderationskarte zu schreiben. Damit diese sich durch die Aufforderung gepaart mit der ungewohnten Situation nicht gestresst fühlen, sollte diese Eingangsfrage sehr niedrigschwellig und wertschätzend formuliert sein, beispielsweise: „Ihr seid alle im Internet aktiv und kennt euch da sicherlich gut aus. Wenn ihr jetzt nachdenkt, welche Seiten ihr da regelmäßig nutzt, dann schreibt doch mal bitte mindestens drei davon auf den Zettel, der vor eurem Platz liegt. Ihr könnt dafür auch gern nochmals auf euer Smartphone schauen“. Nachdem alle ihre Stichworte notiert haben, falten sie die Moderationskarte zweimal. Dann sammelt die Fachkraft diese ein und mischt sie. Anschließend werden die Nennungen als einzelner Punkt auf das große Papier geschrieben und durch einen Strich hinter den Worten bei Wiederholung markiert. Die Häufigkeit bestimmt hierbei die Rangfolge.

Die Fachkraft ruft dann als Moderator*in die Seite auf, welche als „wichtigste“ identifiziert wurde, mithilfe des Beamers wird das Bild für alle sichtbar an die (Lein-)Wand projiziert, dann geht sie zu ihrem Platz zurück. Dieser ist weitesten vom PC/Tablet entfernt, damit keine zusätzliche Barriere für die Teilnehmenden erzeugt wird. Nun werden die anwesenden Jugendlichen gefragt, wer sich dort einloggen und die eigenen Aktivitäten zeigen möchte. Es kann hierbei notwendig sein, dass das Ziel nochmal verdeutlicht und Relevanz bei den Teilnehmenden erzeugt wird. Findet sich niemand, welcher freiwillig die Aufgabe übernimmt, dann ist dieser Punkt zunächst beendet. Die Fachkraft fragt wer etwas auf der nächsten Seite von der Liste zeigen und erzählen möchte.

Ist jemand hierfür gefunden, dann wird diese Person gebeten, den Anwesenden das eigene Nutzungsverhalten auf dieser Internetseite zu präsentieren. Es ist durchaus denkbar, dass dies durch Erzählungen unterstützt wird. Danach werden die anderen ermutigt, die Informationen (verbal oder webbasiert) spontan zu kommentieren. Bestenfalls entsteht dadurch eine Diskussion, die auch von der Fachkraft angeregt und moderiert werden kann. Dies kann auch dazu führen, dass unvermittelt auf andere Seiten oder Netzwerke verwiesen wird. Dann sollte mit der Gruppe abgestimmt werden, ob diese jetzt aufgerufen und besprochen werden sollen. Wenn zu der Seite keine Wortmeldungen mehr geäußert werden, kann nach demselben Muster der nächste Punkt auf der Prioritätenliste bearbeitet werden. Sind diese alle abschließend besprochen worden, fragt die Moderator*in, ob die Teilnehmenden noch weitere Internetangebote kennen, welche sie nun gerne der Gruppe zeigen wollen. Reagiert niemand auf diese Anfrage, dann wird den Anwesenden für ihr Mitmachen gedankt und die Erkundung der genutzten Online-Angebote beendet.

Die während der Interaktion genannten Informationen müssen zunächst gesichert werden, um sie anschließend auswerten zu können. Die Frage, wie dies geschieht, ist von der jeweiligen Zielsetzung abhängig. Soll die derzeitige Situation der Gruppe analysiert oder Ideen für eine inhaltliche oder konzeptionelle Weiterentwicklung von Gruppenangeboten gewonnen werden, dann sind aufwendige Dokumentations- und Auswertungsverfahren eher unangebracht. In beiden Fällen ist es sicherlich ausreichend, wenn die Fachkraft Schlüsselsätze notiert und die vorgestellten Webseiten ggf. über einen Screenshot sichert. Das so entstehende Protokoll sollte dann zunächst von der Fachkraft noch einmal durchgesehen, anonymisiert und ggf. vervollständigt werden. Anschließend reflektiert sie die erhaltenen Informationen, bevor sie diese mit dem Team diskutiert. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollten dann den beteiligten Jugendlichen vorgestellt werden, damit diese sie kommentieren und ggf. ergänzen können.

Wird die Technik hingegen im Zuge einer Praxisforschung mit dem Verfahren der Gruppendiskussion eingesetzt, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, müssen die Daten intersubjektiv gesammelt, gesichert und ausgewertet werden. Hier sollte der Ton während des gesamten Treffens aufgenommen und zusätzlich auch die Projektionsfläche abgefilmt werden. Die Audioaufnahmen würden dann transkribiert (Kowal/O’Connell 2015) und könnten beispielsweise mit der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack/Geimer 2017) interpretiert werden.

Wichtig ist, dass die moderierende Fachkraft die Bedeutung webbasierter Kommunikation für Jugendliche sehr gut einschätzen kann. Sie sollte deshalb gut darüber Bescheid wissen, diese (neuen) Austauschformen funktionieren und sie idealerweise zumindest auch teilweise selbst verwenden (können), so kann sie deren Potenziale sowie Grenzen besser (er-)kennen (Reutlinger/Deinet 2019: 11 f.). Die dargestellte Internetnutzung ist für Jugendliche ein Heimspiel, sie dürfen selbstverständlich auch auf ihre virtuelle Selbstdarstellung und ihre digitalen Netzwerke stolz sein. Deshalb sollte ihnen die Fachkraft respektvoll begegnen, auch wenn dies bei manchen Positionsbekundungen schwerer zu realisieren ist. Sie lassen sich schließlich von den Jugendlichen deren Internet(-nutzung) zeigen und müssten deshalb auch deren Expertise anerkennen. Dabei sollte die Fachkraft ihren vermeintlichen Wissensvorsprung systematisch zurückhalten, denn mit einer interessierten Grundhaltung, welche auch die Jugendlichen zum Erzählen einlädt, erfahren sie sicherlich mehr über die besondere Attraktivität digitaler Sozialräume und die in ihnen eingebetteten Gelegenheiten (vgl. Früchtel/Budde/Cyprian 2013: 28 f.). Darüber hinaus ist es dienlich, wenn die Fachkraft die verwendete Technik (z. B. Beamer) sicher bedienen kann sowie die angedachten Dokumentations- und Auswertungsverfahren beherrscht.

Die geringe Witterungsabhängigkeit der Erkundung von Online-Orten ist, verglichen mit anderen sozialraumanalytischen Techniken, vorteilhaft, sie kann ganzjährig eingesetzt und die Termine müssen bei schlechtem Wetter nicht verschoben werden. Zusätzlich bietet sie neue Chancen für die Beziehungsarbeit der Fachkraft mit den Jugendlichen: einerseits gewährt sie Einblicke in die internetbezogene Kompetenz und Performanz der Teilnehmenden, andererseits ermöglicht sie, Vertraulichkeit zu beweisen.

Ein gemeinsames Zeitfenster mit einer neu gebildeten Gruppe zu finden, könnte sich als schwierig erweisen, zumal ein geeigneter Raum verfügbar sein müsste. Dies ist mit einer bereits bestehenden Gruppe sicher einfacher, dafür herrscht hier oft ein höherer Anpassungsdruck in Bezug auf abweichende Aussagen. Weiterhin ist vorher zu überlegen, wie die Fachkraft reagiert, wenn einzelne Teilnehmende Internetseiten mit jugendgefährdenden Inhalten aufrufen und damit für alle sichtbar machen. Im Gegensatz zur Stadtteilbegehung, kann eine Vorstrukturierung aus Sicht der Teilnehmenden zu kaum relevanten Ergebnissen führen. In einem solchen Fall könnte die Fachkraft die Jugendlichen zügig nach deren Interessen bei Online-Angeboten fragen und sie von Beginn an mit in den Prozess der Priorisierung einbeziehen.

5. Die beiden Verfahren im Vergleich: Konkurrenz, Koexistenz oder Kombination?

Letztlich konkurrieren die beiden Verfahren nicht miteinander. Da sie zu völlig unterschiedlichen Bereichen jugendlicher Lebenswelten Erkenntnisse ermöglichen, sind sie nicht durch die jeweils andere ersetzbar. Fachkräfte sind sehr unterschiedliche Menschen und dies wirkt sich auf die spezifische Art aus, wie sie ihre Angebote gestalten. So gibt es sicherlich internetaffine Kolleg*innen, welche sich ausschließlich auf Interneterkundung spezialisieren. Andere arbeiten seit langem quartierbezogen und sehen in der Digitalisierung vor allem Gefahren, deshalb setzen sie vielleicht allein auf die klassische Stadtteilbegehung. In beiden Fällen gewinnen die jeweiligen Fachkräfte nur einen begrenzten Einblick in die Lebenswelt der Jugendlichen, da sie einen relevanten Teil systematisch ausblenden.

Jugendliche verweben in ihrem Alltag analoge und digitale soziale Räume eng miteinander (vgl. Reutlinger/Deinet 2019: 11), weshalb ein ganzheitlicheres Bild entsteht, wenn dieselben Personen sowohl an der Stadtteilbegehung als auch an der Interneterkundung teilnehmen und die jeweils gewonnenen Informationen dann verglichen werden. Die Kombination beider Verfahren erweitert den zu erwartenden Erkenntnisgewinn systematisch und ermöglicht eine dichtere Beschreibung (Moser 2014: 23). Da dieselben Jugendlichen teilnehmen, würde es sich um eine „Triangulation am Fall“ (Flick 2015: 316) handeln. Dadurch lassen sich gewonnene Daten leichter miteinander vergleichen bzw. verknüpfen, aber es belastet die Teilnehmenden auch stärker und das Ausfallrisiko einzelner Personen ist höher (ebd.: 316 f.).

Dennoch lohnt sich dieser Aufwand, da neben den aussagekräftigeren Ergebnissen zusätzlich den Jugendlichen das Interesse an ihrer analogen und digitalen räumlichen Praxis in den jeweiligen Repräsentationsräumen verdeutlicht wird und dadurch die Beziehungsarbeit intensiviert werden kann.

6. Fazit

Das Internet als relationale Anhäufung von Sozialräumen zu betrachten, eröffnet interessante Perspektiven auf das Phänomen der Digitalisierung. Dies ermöglicht es, sie anhand der theoretischen Überlegungen von Henri Lefebvre zu analysieren, wodurch der Blick nicht mehr ausschließlich auf die Nutzungshäufigkeiten von Onlineangeboten durch Jugendliche gerichtet ist, sondern auf ihre spezifische webbasierte räumliche Praktiken in den von ihnen genutzten virtuellen Repräsentationsräumen.

Dies sichtbar zu machen, ist mit der hier vorgestellten Erkundungsverfahren für die virtuellen Sozialräume ebenso möglich, wie mit der Stadtteilbegehung für die analogen. Selbstverständlich sollte die Methodik bei jedem Einsatz an die jeweilige Fragestellung, die lokalen Bedingungen und die Gruppe der Jugendlichen angepasst werden. Dann ist sie geeignet, das Repertoire der Fachkräfte zu ergänzen. Ich hoffe mit diesem Artikel neugierig gemacht zu haben und möchte sie einladen, die Technik auszuprobieren und weiterzuentwickeln.

Die Interneterkundung mit der klassischen Stadtteilbegehung zu kombinieren und die jeweiligen Ergebnisse zusammenzuführen, ermöglicht ein umfassenderes Verständnis der sozialräumlichen Bezüge der teilnehmenden Jugendlichen. Dies kann zusätzlich durch die Befragung verschiedener Gruppen verstärkt werden. Auf diese Weise können individuelle Nutzungsbesonderheiten genauso wie strukturelle Benachteiligungen erkannt werden. Dies ist für eine anstehende Konzeptentwicklung ebenso relevant, wie für ein Praxisforschungsprojekt, bei dem diese Verfahren verwendet werden.

Literatur

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Zitiervorschlag

Matthias Scheibe (2020): „Zeigt ihr mir Euer Internet?“ – Die Erkundung von Online-Orten als digitale Variante der Stadtteilbegehung mit Jugendlichen. In: sozialraum.de (12) Ausgabe 1/2020. URL: https://www.sozialraum.de/zeigt-ihr-mir-euer-internet.php, Datum des Zugriffs: 26.04.2024