Social Design Thinking: Partizipations- und Stadtentwicklungsprozesse in der Sozialen Arbeit
Christian Schröder, Thomas Wendt
Der Beitrag beleuchtet das Potenzial von Design Thinking für Partizipations- und Stadtentwicklungsprozesse im Kontext der Sozialen Arbeit. Design Thinking kennzeichnet sich insbesondere dadurch, dass Bedarfsgruppen konsequent im Mittelpunkt eines methodischen Vorgehens der Lösungsentwicklung stehen. Indem die Lebenswelten potenzieller Nutzer*innen und deren Bewältigungsherausforderungen systematisch erschlossen werden, wird die adäquate Bearbeitung sozialräumlicher Herausforderungen ermöglicht. Um dieses Potenzial von Design Thinking zu erläutern, wird im Folgenden zunächst ein Blick auf die Ursprünge des Ansatzes geworfen (1). Anschließend werden die einzelnen Prozessschritte – vom Verstehen bis zum Testen von Prototypen – im Hinblick auf die Anwendung für Partizipations- und Stadtentwicklungsprozesse im Kontext der Sozialen Arbeit diskutiert (2). Der Ansatz verspricht die fachliche Praxis der Sozialen Arbeit zu unterstützen, indem sozialraum-, lebenswelt- und bedarfsorientierte Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen entwickelt werden. Das Vorgehen knüpft dementsprechend an Theorien wie Methoden der Sozialen Arbeit an und kann als Bereicherung des eigenen Methodenkanons verstanden werden (3).
1. Design Thinking
Design Thinking ist ein methodischer Ansatz, der die Entwicklung von innovativen Lösungsideen und deren Veranschaulichung in Prototypen systematisiert. Der Anspruch ist simpel: Das Bild des einsamen Erfinders oder der einsamen Erfinderin, die des Nachts in ihrer Garage das nächste große Ding vorantreibt, hat teilweise ausgedient. Design Thinking setzt nicht auf die Genialität von Einzelpersonen, sondern vielmehr auf das Potenzial von Teams und (Arbeits-)Gruppen sowie deren methodischer Unterstützung bei der Entwicklung innovativer Lösungsansätze. Das Ziel von Design Thinking besteht darin, den kreativen Prozess der Lösungsentwicklung systematisch abzubilden, damit er erlernbar und übertragbar wird. Auf diese Weise soll der Mythos hinter Erfindungen demokratisiert werden (vgl. Wendt et al. 2024).
Design Thinking ist ein Innovationsansatz, der in den 1960er Jahren im Rahmen von Forschungen, insbesondere an der Stanford University, entwickelt wurde. Ursprünglich beschäftigte sich diese Forschung mit der Frage, wie Designer*innen bei der Erfindung, Entwicklung und Gestaltung neuer Produkte vorgehen. In der Forschung wurden verschiedene Tätigkeitsabfolgen identifiziert, die von der Problemerfassung bis hin zur Entwicklung von Lösungen reichen (vgl. Lawson 2006). Im Anschluss daran wurde ein strukturierter Prozess entwickelt, der die späteren Nutzer*innen und ihre Bedürfnisse konsequent in den Mittelpunkt stellt. Seit den 1990er Jahren hat sich dieser Ansatz der Innovationsförderung über die Designagentur IDEO verbreitet und wurde bereits in Feldern wie Produktentwicklung, Technik, Medizin oder Bildung angewendet, um Innovationsprozesse zu unterstützen. Die Rezeption von Design Thinking im Kontext Sozialer Arbeit ist ausdrücklich keine trickreiche Wende oder gar ein erzwungener Versuch, einen For-Profit-Ansatz auf Non-Profit-Kontexte zu übertragen. Denn mit der Idee, Wandel durch Design voranzutreiben (vgl. Brown 2009), wurde sogleich die Anwendung der Methode für soziale Fragen vorgeschlagen (vgl. Brown/Wyatt 2010). Die Förderung von sozialen Innovationen durch Design Thinking wird demzufolge bereits seit einiger Zeit intensiv diskutiert (vgl. Schröer 2017, 2021).
In Deutschland wird Design Thinking unter anderem am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam gelehrt, wo es als methodischer Ansatz verstanden wird, um gesellschaftliche Transformationsprozesse gezielt zu unterstützen. Um dies zu erreichen, sieht Design Thinking eine systematische Vorgehensweise vor, die Nutzer*innen zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht (vgl. Plattner/Meinel/Weinberg 2009).
Abbildung 1: Design Thinking Prozess (Quelle: Valerie Schandl für WMDE / CC BY-SA)
Der Design Thinking Prozess sieht verschiedene Phasen vor, die nicht linear verlaufen, sondern als parallellaufende Schritte verstanden und beliebig iteriert werden können (Abb. 1; vgl. auch Brown/Wyatt 2010). Die Ergebnisse der einzelnen Schritte sind daher immer vorläufig und müssen sich im fortdauernden Prozess bewähren: Im Sinne der Ko-Kreation werden die vorgegebenen Handlungsschritte durch die Dynamik sozialer Interaktion zu ergebnisoffenen Arbeitsphasen, deren Ergebnisse wiederum in den methodischen Ablauf eingepasst werden. Dabei ist stets der identifizierte Bedarf richtungsleitend, da die entwickelten Lösungen an den konkreten Bewältigungsherausforderungen der Zielgruppe ansetzen sollen. In der ersten Phase (Problemraum: Verstehen, Beobachten & Sichtweisen definieren) erfolgt eine Bedarfsanalyse mithilfe von Interviews, Beobachtungen oder statistischen Analysen, um die Erfahrungs- und Lebenswelten potenzieller Nutzer*innen zu erschließen. Diese werden dann in idealtypische Vertreter*innen von Bedarfsgruppen, sogenannte Personas, transformiert (vgl. Lewrick/Link/Leifer 2017). Auf Basis dieser Erkenntnisse werden in der zweiten Phase (Lösungsraum: Ideen finden, Prototypen entwickeln & Testen) Hypothesen zum Bedarf formuliert und mithilfe von Kreativmethoden Ideen zur Lösung der Bewältigungsherausforderungen der Bedarfsgruppe generiert. Ausgewählte Ideen werden anschließend in Prototypen umgesetzt und erneut mit der Zielgruppe getestet, um deren Feedback bei der Weiterentwicklung der Lösungsansätze zu integrieren.
Für die Soziale Arbeit eröffnet Design Thinking insbesondere in den Handlungsbereichen Sozialraumarbeit und Stadtentwicklung neue Möglichkeiten zur partizipativen und bedarfsorientierten Entwicklung von Lösungsansätzen. So wurde der Ansatz beispielsweise bereits genutzt, um Marktplätze umzugestalten (vgl. Stadtmarketing Austria 2020) oder neue Quartiersangebote zu entwickeln (vgl. Schröder/Wendt 2023; Heller et al. 2020). Die Anknüpfungspunkte und Schnittstellen zu Annahmen und methodischen Vorgehensweisen, die im Kontext der Sozialen Arbeit etabliert sind, werden deutlich, wenn man die Einzelschritte des Design Thinking nachvollzieht.
2. Social Design Thinking – der Weg vom Bedarf zur Lösung
Design Thinking findet nicht nur Anwendung in Non-Profit- oder Sozialen Dienstleistungsorganisationen (vgl. Wendt/Schröer/Lackas 2022), sondern auch als Methodenqualifikation im hochschulischen Kontext. So existieren hinreichende Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Studierenden der Sozialen Arbeit sowie der Sozial- und Organisationspädagogik an verschiedenen Studienstandorten. An der Universität Trier ist Design Thinking etwa bereits seit 2017 fester Bestandteil des Lehrangebots, um den Erwerb von Kompetenzen in der bedarfsgerechten Entwicklung von sozialen Innovationen zu unterstützen. Dabei lernen Studierende nicht nur mithilfe von Design Thinking bedarfsgenaue Lösungsideen zu entwickeln. Sie sollen auch dazu befähigt werden, zentrale notwendige Parameter für deren Umsetzung wie beispielsweise Schlüsselaktivitäten, Kundenbeziehungen, Schlüsselressourcen, Schlüsselpartner oder Kosten(-kategorien) erarbeiten zu können. Ein in der Abteilung Organisationspädagogik verankertes Soziales Innovationslabor richtet sich zudem an Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die mithilfe methodischer Unterstützung Lösungsansätze für gesellschaftliche Herausforderungen entwickeln (vgl. Wendt/Schneider-Zuche/Schröer 2019; Wendt 2021). In den entsprechenden Prozess der Innovationsförderung werden wiederum Studierende einbezogen, sodass im Sinne des Cross-Mentorings Fachkräfte von Studierenden lernen können und umgekehrt. Ermöglicht wird dies nicht zuletzt durch die Kooperation mit verschiedenen Wohlfahrtsverbänden, die neben einer Partnerschaft mit der Stadt Trier, die insbesondere einen jährlich stattfindenden Open Innovation Day unterstützt, als Teil eines lokalen Ökosystems zur Förderung sozialer Innovationen fungieren. Auch an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes findet Design Thinking im Kontext von Lehrforschungsprojekten seit 2020 kontinuierlich Berücksichtigung und wird dabei auf die Ziele der Sozialen Arbeit und ihre Rolle bei der Mitgestaltung von Beteiligungsverfahren in Stadtteilentwicklungsprozessen angepasst. Die einzelnen Lehrforschungsprojekte wurden hier etwa in Kooperation mit städtischen Ämtern der Landeshauptstadt Saarbrücken sowie der Gemeinwesenarbeit in den jeweiligen Stadtteilen durchgeführt. In diesen Netzwerken drückt sich ein Mandat der Sozialen Arbeit für soziale Innovation und gesellschaftliche Erneuerung aus.
Gesammelte Erfahrungen aus unterschiedlichen Lehrforschungsprojekten und -kontexten wurden jüngst vorgestellt (vgl. Schröder/Wendt 2023, 2024) und adressieren als Reflexion der spezifischen Methodenqualifikation von Studierenden eine weitere Facette der Diskussion um eine innovative Soziale Arbeit (vgl. Hüttemann/Parpan-Blaser, Hrsg. 2023). Denn gerade die Frage, mit welchen Methoden und Gestaltungsansätzen die Förderung von Innovationen auf der Mikro- und Mesoebene des Sozialwesens vorangetrieben werden kann (vgl. Schröer/Schütz 2023), erfährt vor dem Hintergrund von aktuellem Konsolidierungs- und Innovationsdruck im dritten Sektor besondere Bedeutung. Dass Design Thinking als Ansatz mit den Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit kompatibel ist, zeigt sich, wenn man die einzelnen Schritte des methodischen Vorgehens in den Blick nimmt.
2.1 Verstehen – der sozialräumliche Blick
Der erste Schritt des Design Thinking – das Verstehen – zielt darauf, die Bedarfsgruppe zu identifizieren und die Frage zu stellen, ob für deren Bewältigungsherausforderungen ein hinreichendes Verständnis existiert. Zwar existieren umfassende Wissensstände zu Adressat:innen Sozialer Arbeit – wie sich deren konkrete Lebenssituation in ihrer sozialräumlichen Spezifik darstellt, ist damit jedoch nicht selbstverständlich bekannt. Es besteht ein Unterschied zwischen einer Bedarfshypothese – den vermuteten Problemspezifika – und dem Ergebnis einer Bedarfsanalyse. Denn in der Regel führt die direkte Auseinandersetzung mit Bedarfsgruppen zu Ergebnissen, die überraschend sind und vorherunbekannt waren. Genau um diese überraschenden Einsichten geht es aber und so bietet Design Thinking die Möglichkeit, sich von der eigenen professionellen Perspektive zu distanzieren. Für den ersten Schritt des Design Thinking bietet sich auch eine Kombination mit etabliertem Ansätzen der Sozialen Arbeit an. So geht es etwa bei der Sozialraumanalyse darum, einen Sozialraum möglichst ganzheitlich zu erfassen. Im Vergleich zu traditionellen Ansätzen, die den Fokus vor allem auf den physischen Raum lenken, erweitert die Perspektive des Sozialraums als relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern den Blick (vgl. Löw 2001). Diese Perspektive berücksichtigt auch Machtasymmetrien, die die Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit beeinflussen (vgl. Boettner 2007; Riege/Schubert 2002; May 2016).
Um einen sozialräumlichen Blick auf den Stadtteil einzunehmen, können Stadtteilspaziergänge durchgeführt werden, die dazu dienen, die spezifische Beschaffenheit von Räumen zu erfassen, in die (sozial)pädagogische Einrichtungen wie Beratungsstellen, Kitas oder Schulen eingebettet sind (vgl. Deinet/Krisch 2009). Schlüsselpersonen können zudem anhand von Kriterien wie ihrem Beruf, ihrer Position oder ihrer Erfahrung im Stadtteil ausgewählt und befragt werden. Mit ihren spezifischen Wissensbeständen zu Strukturen, Veränderungen und Entwicklungen des Stadtteils tragen sie dazu bei, den Sozialraum besser zu verstehen. Diese Personen sind nicht zwangsläufig Fachkräfte der Sozialen Arbeit, sondern können auch Menschen wie langjährige Geschäftsinhaber*innen, Stadtteilhistoriker*innen, Bürger*innen oder neuzugezogene Unternehmer*innen sein. Durch ihre unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkel wird eine Momentaufnahme des historisch gewachsenen Stadtteils mosaiksteinchenweise zu einem Gesamtbild zusammengefügt.
Die Sozialraumanalyse im Design Thinking Prozess zielt nicht zuletzt darauf ab, jene Bedarfsgruppen von Bewohner*innen im Stadtteil zu identifizieren, deren Perspektiven in Stadtteilentwicklungsprozessen weniger berücksichtigt werden. Der Design Thinking Prozess bietet die Möglichkeit, auch den Bedarfen der Personen aus diesen Gruppen Gehör zu verschaffen und sie in Partizipations- und Stadtentwicklungsprozessen zu integrieren. Dies gilt besonders für jene Menschen, die aufgrund ihrer knappen zeitlichen Ressourcen, wie etwa Alleinerziehende, oder aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse nicht an gängigen Partizipationsmethoden wie einem Zukunftsworkshop für den Stadtteil teilnehmen würden. Ihre Perspektiven und Bedürfnisse können leicht übersehen werden, wenn keine gezielten Maßnahmen ergriffen werden, um sie einzubeziehen (vgl. Schröder 2022). Auf diese Weise kommt im Design Thinking die thematische Anwaltschaft der Sozialen Arbeit zum Ausdruck, indem soziale Bedarfsermittlung und eine darauf abgestimmte Lösungsentwicklung verknüpft werden.
2.2 Beobachten – die Analyse von sozialen Bedarfen
Ausgehend vom Schritt des Verstehens folgt im Design Thinking die Phase des Beobachtens, in der der Zugang zur Lebenswelt der Bedarfsgruppe erfolgt, um deren spezifische Bewältigungsherausforderungen zu erschließen. Beispielsweise werden dabei sogenannte empathische Interviews mit Vertreter*innen der Bedarfsgruppe geführt, um die sozialen Bedarfe systematisch herauszuarbeiten und ein Einfühlen in die Lebensrealität zu ermöglichen. Den Vertreter*innen einer Bedarfsgruppe ist gemeinsam, dass sie mit strukturell analogen Herausforderungen der Lebensbewältigung konfrontiert sind und sich ihre Lebenslagen ggf. auch in Hinblick auf Alter, Herkunft oder Geschlecht gleichen. Dabei geht es ausdrücklich nicht um die (Re-)Produktion von Stereotypen, sondern vielmehr um die banale Einsicht, dass gleiche Bewältigungsherausforderungen die Entwicklung passgenauer Lösungsansätze ermöglicht. Der Zugang zu den Interviewpartner*innen kann beispielsweise über „Brückenbauer*innen“ erfolgen, also Menschen, die professionelle oder freundschaftliche Beziehungen zur Bedarfsgruppe pflegen (vgl. Kirsch-Soriano da Silva/Bilalic 2021). Dies können zum Beispiel Fachkräfte aus der Gemeinwesen- oder Jugendarbeit sein. Eingeplant werden sollte für die Interviews mindestens eine Stunde, damit sich die Interviewpartner*innen ohne Zeitdruck auf das Gespräch einlassen können. Ein vorher erstellter kurzer Leitfaden dient als Vorbereitung auf das Gespräch. Als Grundlage zur Erstellung des Leitfadens werden die Ergebnisse der Phase des Verstehens genutzt, um nun dem Bedarf genau auf den Grund zu gehen. Der Einstieg ins Gespräch sollte offen formuliert sein und zunächst ein näheres Kennenlernen der Person ermöglichen (z.B.: „Wie erleben Sie Ihren Stadtteil im Hinblick auf XYZ?“). Wichtig ist, dass der Leitfaden im Gespräch im besten Fall gar nicht gebraucht wird. Viel zentraler ist die Haltung der Interviewer*in, ein wahres Interesse am Gegenüber zu kommunizieren und eine offene, vorurteilsfreie und empathische Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Rogers 1961). Entlastend für die Interviewperson ist es deshalb, eine zweite Person an der Seite zu haben, die das Gespräch mithilfe von Notizen dokumentiert.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs sollten immer wieder auch sozialräumliche Aspekte im Fokus stehen, sodass die persönliche Biographie, die Alltagserfahrungen und der Sozialraum eng miteinander verknüpft werden (vgl. Kirsch-Soriano da Silva/Bilalic 2021). Denkbar wäre hier etwa auch die Frage nach der Nachbarschaft als Sozialraum, in dem sich Menschen begegnen und alltägliche, lebensweltliche Beziehungsgeflechte entwickeln (vgl. Schnur 2018: 2). Im Mittelpunkt stehen jedoch Fragen danach, was Menschen in ihrem Alltag besondere Freude oder Sorge bereitet. Spezifische Fragen, die Körperlichkeit adressieren, können dabei als somatische Ankerfragen bezeichnet werden (z.B. „Was bereitet Ihnen im Blick auf XYZ Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen?“). Sie sollen eine erzählgenerierende Funktion realisieren, indem sie durch einen möglichst einfachen Zugang auf die Sichtbarmachung von Bewältigungsherausforderungen abzielen. Die Antworten auf diese Fragen sind für das spätere Herausarbeiten der Lust- und Frustfaktoren des alltäglichen Erlebens relevant. Daher sollten gerade auch bei diesen Fragen häufiger Rückfragen gestellt werden (z.B. „Können Sie das noch etwas genauer erklären? Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel aus Ihrem Alltag?“), um die Generierung von Erzählungen zu unterstützen. Auf diese Weise wird der alltägliche Erfahrungsraum des Gegenübers dialogisch exploriert.
Es sollten zunächst mindestens fünf bis sieben Gespräche pro Bedarfsgruppe geführt werden. Im Sinne des iterativen Vorgehens können in der Folge weitere Interviews ergänzt werden, um die Ergebnisse zu validieren. Die Auswertung der Interviews erfolgt beispielsweise mithilfe der Empathiekarte (vgl. Lewrick/Link/Leifer 2020), die nicht nur die Bewältigungsaufgaben, sondern auch Sehen, Hören, Denken, Fühlen, Sagen und Tun als Kategorien des täglichen Erlebens sowie die Lust- und Frustfaktoren des Alltags erfasst (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2 Empathiekarte zur Erstellung der Persona ‚Hilde‘, die die Lebensrealität der Bedarfsgruppe der alleinstehenden Senior*innen ab 65 Jahren abbildet (Quelle: Autoren)
Die Empathiekarte ermöglicht auf diese Weise eine umfassende Analyse der Lebensrealität der Zielgruppe, indem die Informationen aus den Interviews den verschiedenen Aspekten zugeordnet werden. Anschließend können die Karten der Einzelinterviews zu einer Empathiekarte zusammengeführt werden, um eine idealtypische Persona zu entwickeln und so einen sozialen Bedarf zu identifizieren.
2.3 Sichtweise definieren und Ideen finden – Multidisziplinarität und soziale Dynamik
Nach der Entwicklung der Persona gilt es,die Ergebnisse der Bedarfsanalyse in einem sogenannten Point of View zu bündeln. Die identifizierten Bedarfe werden auf diese Weise einerseits zusammengefasst, während andererseits eine handlungsauffordernde Frage formuliert wird. Dadurch werden konkrete Bewältigungsherausforderungen adressiert und zugespitzt.
Abbildung 3: Persona Laura: Vertreterin der Bedarfsgruppe Lehrkräfte von Kindern mit mangelnden Deutschkenntnissen. Point of View: Wie können wir sicherstellen, dass Laura trotz der Herausforderung hoher Arbeitslast und ihrer Befürchtung, nicht allen Kindern gerecht zu werden, Unterstützung erhält, um ihre positive Haltung und Freude bei der Arbeit beizubehalten? (Quelle: Autoren)
Was auf Englisch ‚How-might-we-Statement‘ heißt, lässt sich auf Deutsch am besten mit „Wie schaffen wir es, dass…“ umschreiben. Dabei geht es um die Formulierung der Frage, die anschließend als Auftakt für die Ideenfindung fungiert und die Ergebnisse der Bedarfsanalyse abbildet (vgl. Abb. 3). Beispielsweise: "Wie können wir sicherstellen, dass XY trotz seines hohen Arbeitspensums die Möglichkeit hat, sich zu vernetzen und seine Begeisterung für selbst- und eigenständiges Arbeiten zu teilen?“. Im Rahmen des Design Thinkings spielt die Definition der Sichtweise eine entscheidende Rolle, da sie die Verbindung zwischen der Bedarfsanalyse und der Lösungsentwicklung darstellt. Durch die Formulierung einer handlungsauffordernden Frage kann anschließend die sogenannte Ideation, das Entwickeln von Ideen beginnen. Durch die Einbindung verschiedener Akteur*innen in die Phase der Ideengenerierung im Sinne der Multidisziplinarität wird eine Vielfalt von Perspektiven geschaffen, die als methodisches Mittel für eine produktive Lösungsfindung fungiert (vgl. Wendt/Schröer/Lackas 2022).
Abbildung 4: In Kooperation mit der Medienwerkstatt der htw saar wurden unter Verwendung von SAP Scenes Videos erstellt, die den Bedarf und später auch die Antwort darauf erzählerisch darstellen. Ein Beispielvideo mit der Bedarfsgruppe Lehrkräfte finden Sie hier: Link zum Video. Scenes ist eine Werkzeugsammlung, die vom SAP AppHaus erstellt wurde und unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International License lizenziert ist. (vgl. https://apphaus.sap.com/approach/scenes)
Um einen empathischen Bezug zur Bedarfsgruppe herzustellen und möglichst viele Akteur*innen in den Lösungsprozess einzubeziehen, wurden in einzelnen Lehrforschungsprojekten kurze Videos erstellt, die die Herausforderungen und Lebensrealitäten der Bedarfsgruppe veranschaulichen (vgl. Abb. 4). Diese Videos stellen eine Art Geschichte dar, in der die Persona im Mittelpunkt steht und die Zuschauenden direkt zur Teilnahme am Lösungsprozess auffordert. Dies schafft einen methodischen Auftakt, der eine kreative Dynamik fördert und die Lösungsfindung unterstützt.
Abbildung 5: Ideensammlung: Der auf dem Flipchart notierte Point of View wird von Klebezetteln schnell vollständig bedeckt (Quelle: Autoren)
Die Ideengenerierung im Design Thinking zeichnet sich durch einen ko-kreativen Prozess aus, der darauf abzielt, eine Vielzahl von Ideen zu generieren, ohne zunächst ausschließlich auf ihre Machbarkeit zu achten. Dies kann beispielsweise verschiedene Phasen des Brainstormings und -writings beinhalten, die sowohl in Einzel- als auch in Teamarbeit durchgeführt werden. Dabei werden in kurzer Zeit eine möglichst große Anzahl von Ideen generiert und auf Klebezetteln notiert. Auf diese Weise entstehen schnell ganze Ideenlandschaften (vgl. Abb. 5). Daneben können je nach Bedarf weitere Kreativmethoden zum Einsatz kommen. Zunächst steht die Quantität der Ideen im Vordergrund, da diese im weiteren methodischen Vorgehen schrittweise ausgewertet und auf ihre Innovativität und Umsetzbarkeit geprüft werden. Mit diesem Vorgehen werden diejenigen Ideen ausgewählt, die in Prototypen veranschaulicht werden.
2.4 Prototypen entwickeln und testen – die Veranschaulichung von Lösungsideen
Die Entwicklung von Prototypen ist ein weiterer methodischer Schritt im Design Thinking. Prototyping bietet die Gelegenheit, Ideen greifbar zu machen und sie auf ihre Tauglichkeit hin zu testen. Dieser Arbeitsschritt ermöglicht es den Arbeitsgruppen, nicht nur ein gemeinsames Verständnis der Lösung zu entwickeln, sondern auch, erneut Kontakt zur Bedarfsgruppe aufzunehmen. Durch das frühe Testen der Prototypen wird sichergestellt, dass die entwickelten Lösungen den Bedürfnissen und Anforderungen der Zielgruppe entsprechen. Der Prozess des Testens und Anpassens spiegelt den Kern des Design Thinking wider, der im Sinne des iterativen Vorgehens auf kontinuierlicher Verbesserung und Anpassung basiert.
Abbildung 6 "In Kooperation mit der Hochschule für Bildende Künste (HBKsaar) wurden Prototypen erstellt. Auf dem Bild sieht man die prototypische Lösung für die Lehrkraft Laura (Quelle: Autoren)
Im Prototyping drückt sich die Demokratisierung des Erfindergeistes aus (vgl. Wendt et al. 2024), wenn mithilfe von Bastelmaterial, Rollenspielen, Lego oder Playmobil den zuvor entwickelten Lösungsideen Leben eingehaucht wird. Nicht die Genialität von Einzelpersonen, sondern Ko-Kreation im Team sorgt dafür, dass Lösungen anschaulich werden. Durch das Prototyping wird möglicher Dissens im Team sichtbar und im Zuge der gemeinsamen Arbeit aufgelöst. Prototyping steht deshalb nicht nur sinnbildlich, sondern durch die Produktion von Artefakten auch praktisch für das Entwerfen alternativer Zukünfte (vgl. Dickel 2019). Um Perfektion oder die Unfehlbarkeit von Ideen geht es dabei ausdrücklich nicht. Denn mit den entwickelten Prototypen lassen sich Dialoge mit den späteren Nutzer*innen starten, um deren Feedback bei der Weiterentwicklung der Ideen zu integrieren. Die Bedarfsgruppe wird auf diese Weise immer wieder in den Prozess der Lösungsentwicklung einbezogen, ohne jedoch für die Ergebnisse selbst verantwortlich gemacht zu werden. Es wird nicht erwartet, dass sie eigenständig Lösungen für ihre alltäglichen Bewältigungsherausforderungen entwickelt, sondern vielmehr, dass ihre Bedürfnisse und Perspektiven in den Entwicklungsprozess einfließen, damit Lösungsansätze ihren Bedarf am besten adressieren.
3. Fazit: Design Thinking in der Sozialen Arbeit
Design Thinking ergänzt als Ansatz die bereits etablierten Methoden der Sozialen Arbeit – insbesondere durch das Interesse an spezifischen Bewältigungsherausforderungen und deren sozialräumlicher Verortung. Die Lebenswelt der Bedarfsgruppe wird durch das iterative Vorgehen immer wieder berücksichtigt. Der Prozess kann adaptiert bzw. spezifiziert werden, indem etwa methodische Ansätze wie Sozialraumanalysen berücksichtigt werden, die einen Beitrag zur Profilierung der jeweiligen Ergebnisse leisten. Die thematische Anwaltschaft für eine Bedarfsgruppe im Design Thinking verweist sowohl auf Arbeitsweisen der Sozialen Arbeit (vgl. Schröder 2022) wie auf Annahmen der Forschung zu Non-Profit-Organisationen im Allgemeinen (vgl. Zimmer/Priller 2007).
Design Thinking bietet einen multidisziplinären und nutzer*innenzentrierten Ansatz, der flexible Partizipationsprozesse ermöglicht und damit auch zeitliche Ressourcen berücksichtigen kann. Methoden wie empathische Interviews oder multidisziplinär ausgerichtete Workshops erlauben es, die Bedarfe und Erfahrungen der Zielgruppe kontinuierlich einzubeziehen. Darüber hinaus ermöglicht Design Thinking eine schnelle und kostengünstige Entwicklung und Testung von Ideen, um bedarfsgerechte Lösungen zu finden. Grenzen des Ansatzes liegen in der Handlungspragmatik des Vorgehens und dem damit verbundenen Risiko, Probleme zu vereinfachen (vgl. Kieboom 2014). Eine curriculare Verankerung von Design Thinking in der Sozialen Arbeit könnte jedoch nicht nur die Debatte um Sozialräume bereichern, sondern auch zu einer nachhaltigen Prägung von Sozialen Dienstleistungsorganisationen im Sinne innovativer Organisationsentwicklung führen. Die Bereitschaft der Beteiligten, andere Perspektiven zuzulassen und sich von der eigenen Expertise zu distanzieren, ist dabei von zentraler Bedeutung. Hierfür bietet der Design Thinking Ansatz vielfältige methodische Möglichkeiten, um sich in den eigenen (verfestigten) Annahmen irritieren zu lassen und damit den Weg für innovative – und vor allem an lebensweltlichen Bedarfen orientierten – Lösungsideen frei zu machen.
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