Der Martinsclub Bremen e. V. – Innovative Angebote für eine sozialraumorientierte und quartierbezogene Behindertenhilfe

Sebastian Jung

1. Einleitung

Der folgende Beitrag stellt dar, wie der Martinsclub Bremen e. V. seine Angebote der Behindertenhilfe zunehmend sozialraum- und quartierbezogen ausrichtet. Nach einer allgemeinen Darstellung des Trägers erfolgt die Vorstellung des Quartierskonzepts der Regionalzentren. Darauf aufbauend werden sieben verschiedene Angebotsbereiche dargestellt, die die Umsetzung konkreter quartierbezogener Angebote illustrieren. Abschließend wird ein kurzer Ausblick gegeben.

1.1 Vorstellung des Martinsclub Bremen e. V.

Der Martinsclub Bremen e. V. (eigene Abkürzung: „m|c“, nachfolgend Martinsclub) ist einer der größten Träger der Behindertenhilfe in Bremen. Sein Leistungsportfolio erstreckt sich über alle Lebensbereiche von Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung sowie über alle Altersgruppen. Dies beinhaltet folgende Leistungen: Wohnbetreuung, Assistenz in Schulen, Jugendhilfe, Pflege sowie Bildung und Freizeit. Darüber hinaus vermietet der Martinsclub Tagungsräume und unterhält zwei Stadtteilküchen. Vor allem die vielfältigen Freizeitangebote für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung sind in Deutschland einzigartig. Somit verankert der Martinsclub die Belange von Menschen mit Beeinträchtigung in der Mitte der Gesellschaft und treibt die Inklusion voran.

Im Martinsclub werden die Interessen von Menschen mit Beeinträchtigungen vertreten. Dabei steht nicht die Beeinträchtigung im Mittelpunkt der Leistungen und Angebote. Vielmehr lautet die oberste Maxime in der Arbeit des Martinsclub: Inklusion – Die selbstbestimmte Teilhabe jedes Menschen am gesellschaftlichen Leben ist richtungsweisend in allen unseren Leistungsbereichen. Dafür setzen sich über 1.000 Beschäftigte in Voll- und Teilzeit, ca. 400 Honorarkräfte und über 130 Ehrenamtliche (Stand: August 2019) beim Martinsclub ein.

Abbildung 1: „Wir bieten das ganze bunte Leben“ – Der Slogan des Martinsclubs
Abbildung 1: „Wir bieten das ganze bunte Leben“ – Der Slogan des Martinsclubs, Quelle: Martinsclub
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Der Verein wurde im Jahr 1973 gegründet. Hervorgegangen ist er aus einem Zusammenschluss von Eltern, deren Kinder bei Werkstatt Bremen beschäftigt waren. Ihr Ziel war es, neben der Arbeit auch Freizeitbeschäftigungen für Menschen mit Beeinträchtigung zur Verfügung zu stellen. 46 Jahre später erstrecken sich Standorte, Mitarbeitende, Kund*innen, Kooperationspartner*innen, Mitglieder und Fördernde des Martinsclub – analog zu seinem geografischen Wirkungsbereich – über das ganze Bremer Stadtgebiet und teils bis in das angrenzende Umland.

Das stetige Wachstum des Martinsclub setzte in den vergangenen sieben Jahren einen notwendigen Strukturwandel in Bewegung. Dieser trägt den Titel m|2020 und setzt den Schwerpunkt auf die Arbeit im Sozialraum.

Imagefilm Martinsclub Bremen e. V.: https://www.youtube.com/watch?v=AjVYgFvDr_8&t

1.2 Strukturwandel m|2020 – Arbeit im Quartier

Das Organigramm des Martinsclubs kennzeichnete sich bis zum Jahr 2014 noch durch Säulen und einem dazugehörigen Dach. Jede Säule symbolisierte dabei einen Leistungsbereich. Dieser war in sich organisiert und wurde von einer Fachbereichsleitung vertreten. Das Dach kennzeichnete die übergeordneten Leistungen (Buchhaltung, Personal, IT, …) sowie in der Spitze den geschäftsführenden Vorstand. Der Ausbau des Leistungsangebots, die Verzahnung der Leistungsbereiche untereinander sowie die zunehmende räumliche Ausdehnung des Martinsclub im Stadtgebiet machten eine strukturelle Weiterentwicklung notwendig. Dieser Prozess wurde im Jahr 2010 erstmalig in Gang gesetzt und durch Mitarbeitende verschiedener Leistungsbereiche und Hierarchieebenen über vier Jahre gestaltet.

Am 1. April 2014 wurde die Umstrukturierung erstmals in die Praxis übertragen. Die größte Veränderung sah die Auflösung der Fachbereiche in ihren starren Säulen vor. Das Ziel: Die Koordination verschiedener Leistungen soll zukünftig dort stattfinden, wo sie auch umgesetzt werden. In unmittelbarer Nähe der Klient*innen und Beschäftigten. Um den Bedürfnissen dieser Menschen bestmöglich gerecht zu werden, orientiert sich der Martinsclub daher vermehrt auf die hyperlokale Ebene, also in die einzelnen Bremer Stadtteile. Mit der Schaffung von Nachbarschaftshäusern, Begegnungsstätten und inklusiv betriebenen gastronomischen Einrichtungen werden niedrigschwellige Anlaufstellen für Klient*innen errichtet. Regionalzentren (sog. „Quartierszentren“), teils in Kooperation mit anderen Trägern und Anbietern, ermöglichen die enge Verbindung zu den Menschen vor Ort und gewährleisten eine bedarfsorientierte und zielführende Arbeit. Dieser Prozess der Regionalisierung wird intern unter der Bezeichnung „m|2020“ zusammengefasst.

Eine zentrale Rolle im Rahmen der Umstrukturierung m|2020 nimmt die neu-geschaffene Position der Regionalleitung ein. Regionalleitungen tragen die Verantwortung für die jeweiligen Quartierszentren. Dort stellen sie in enger Absprache mit den Fachleitungen und Koordinationskräften die tägliche Leistungserbringung in den verschiedenen Bereichen sicher. Darüber hinaus sind sie für die Weiterentwicklung des Martinsclub im Stadtgebiet zuständig. Dazu zählt der Aufbau von Kooperationen und Netzwerken zur Förderung der Inklusion im Sozialraum.

Bislang ist der Martinsclub in den Stadtteilen Findorff, Gröpelingen, Huckelriede, Kattenturm, Vegesack und Neustadt vertreten. Das Quartier in Bremen-Ost befindet sich im Aufbau. Seit Sommer 2018 besteht zudem ein Quartier in der niedersächsischen Gemeinde Syke, ca. 20 Kilometer südlich von Bremen. Weitere Standorte sind in Planung.

Erklärfilm m2020: https://www.youtube.com/watch?v=6Syv8Qlu71Y&t

2. „Wir sind da, wo die Menschen sind“ – Quartier- und sozialraumbezogenes Arbeiten

2.1 Aufstellung in den Quartieren

In den einzelnen Quartieren ist der Martinsclub unterschiedlich aufgestellt. Nicht immer werden alle Leistungen in jedem Quartier angeboten. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht, mit welchen Leistungen der Martinsclub in den einzelnen Stadtteilen vertreten ist. (Stand: September 2019).

QuartierLeistungenAnzahl Mitarbeiter*innen
Findorff Nachbarschaftshaus „NAHBEI“ inkl. Raumvermietung, Wohnen, Pflegedienst, Teilhabe, Schulassistenz, Jugendhilfe Ca. 130
Gröpelingen & Walle Nachbarschaftshaus „BEI UNS“ inkl. Raumvermietung, Wohnen, Teilhabe, Jugendhilfe Gröpelingen: Ca. 90 Walle: Ca. 40
Kattenturm Gastronomie „ROTHEO“ inkl. Raumvermietung, Wohnen, Schulassistenz, Jugendhilfe Ca. 75
Huckelriede Gastronomie „Marie Weser“ inkl. Raumvermietung, Wohnen, Teilhabe, Jugendhilfe Ca. 40
Vegesack Teilhabe, Wohnen, Raumvermietung, Schulassistenz, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe Ca. 200
Neustadt Geschäftsstelle, Raumvermietung, Teilhabe, Wohnen, Jugendhilfe, Ca. 170
Syke Schulassistenz, Teilhabe, Jugendhilfe, Schulassistenz 10
Ost Wohnen, Teilhabe, Schulassistenz, Jugendhilfe Ca. 250

Insgesamt strebt der Martinsclub an, künftig alle Leistungsbereiche in allen Quartieren anzubieten.

2.2 Wie entsteht ein neues Quartierszentrum?

Bevor es zur Gründung eines neuen „Quartierszentrums“ als Regionalzentrum innerhalb eines Stadtteils kommt, steht ein festes Prüfungsverfahren an: Anhand einer Analyse festgelegter Kriterien wird die Eignung des jeweiligen Standortes festgestellt.

Im ersten Schritt bildet sich eine Arbeitsgruppe, die die Analyse des Standortes (also des Stadtteils, des Sozialraumes, der Region, …) vornimmt. Dieser Personenkreis, hausintern als „Blitzgruppe“ bezeichnet, setzt sich wie folgt zusammen:

Der örtliche Bezug zum zu prüfenden Standort kann sowohl privater Natur (etwa durch den Wohnort) sein als auch aus einer Tätigkeit für den Martinsclub vor Ort herrühren. Durch die regionale Nähe kann eine bessere Einschätzung des Standortes getroffen werden. Das Quartier lebt von den Menschen, die dort leben und arbeiten. Die Arbeitsgruppe verfügt somit über Informationen, die ohne örtlichen Bezug bzw. örtliche Kenntnis keinen Eingang ins Prüfungsverfahren fänden.

In ein bis zwei Terminen nimmt die Arbeitsgruppe eine (grobe) Einschätzung des Standortes vor. Dies geschieht mittels eines Bewertungsrasters. Anhand des Ergebnisses entscheidet der Managementkreis (bestehend aus Vorstand, kaufmännischer Leitung und Geschäftsleitung), ob die Gründung eines Quartierszentrums an besagtem Standort weiter verfolgt werden soll.

Ist dies der Fall, wird aus der Arbeitsgruppe – bei gleicher personeller Besetzung – die „Quartiersgruppe“. Diese nimmt nun eine weitere, jedoch sehr viel detailliertere Standortanalyse vor. Dazu wird das nachfolgend beschriebene Bewertungsraster genutzt.

Bewertungsraster für eine Standortanalyse für die Gründung eines Quartierszentrums

1) Soziale Struktur des Quartiers

2) Verkehrsanbindung

3) Erreichbarkeit: Entfernung zur Geschäftsstelle und anderen für den Martinsclub relevanten Orten, technische Gegebenheiten

4) Lage: Vorhandensein geeigneter Immobilien; allgemeine Analyse der Umgebung

5) Mietpreise / Kaufpreise

6) Einkaufsmöglichkeiten

7) Andere (Träger-)angebote vor Ort: Andere soziale Träger und deren Leistungen, gastronomische Struktur, Raumvermietungsangebote. Je dichter das Angebot, desto niedriger die Bedarfsbewertung.

8) Entwicklungspotenziale des Stadtteils / der Region: Bildungsangebote, Freizeit- und Kultureinrichtungen, Gastronomie, medizinische Versorgung, Wohn- und Pflegeangebote, Mietpreislage, Vorhandensein erschlossener Flächen, etc.

9) Grenzen des Standorts: Welche Grenzen setzt der Standort, die gegen eine Ansiedelung sprechen? Sind relevante Dinge nicht in die bisherige Bewertung eingeflossen, die sich negativ auf den Standort auswirken? Gibt es bei bereits bestehenden Quartieren negative Entwicklungen, die nicht vorherzusehen waren? Hier ist keine nummerische Bewertung gefragt, sondern eine Einschätzung der Gesamtsituation.

10) Entwicklungspotenzial der Leistungen: Existieren öffentliche Fördermöglichkeiten? Welche Träger sind bereits vor Ort vertreten? Welche Leistungsbereiche können perspektivisch im Quartier etabliert werden?

11) Auswirkungen auf andere Standorte: Gäbe es negative Auswirkungen auf andere, bereits bestehende Standorte? Könnte dies zu interner Konkurrenz mit anderen Standorten des Martinsclub führen?

12) Welche Leistungen können angeboten werden?

13) Welche Personalausstattung wird für die angedachten Leistungen benötigt?

14) Erwartetes Umsatzpotenzial

15) Charakteristik des Mietobjektes (sofern vorhanden)

16) Erwartete Kosten: Stehen Renovierungen, bauliche Erweiterungen etc. an?

Anmerkung: Die Bewertung der einzelnen Kriterien erfolgt in ganzen Zahlen von 1 = schlecht bis 5 = gut. Die einzelnen Punkte sind dabei jedoch unterschiedlich stark gewichtet.

Die Ergebnisse dieser Überprüfung werden anschließend wieder dem Managementkreis vorgelegt. Die Quartiersgruppe, die die Prüfung vorgenommen hat, spricht dazu eine Empfehlung für oder gegen die Gründung eines Quartiers am geprüften Standort aus. Die letztendliche Entscheidung, ob an besagtem Standort ein neues Quartier gegründet werden soll, liegt beim Managementkreis. Ist dies der Fall, beginnt die konkrete Suche nach einer Immobilie sowie dem Personal.

2.3 Wie sieht eine quartierbezogene Arbeit vor dem Hintergrund des allgemeinen Wirkens des Martinsclub aus?

Mitte der 2000er Jahre hat der Martinsclub entschieden, sich mehr zu den Menschen, also in den Sozialraum zu bewegen. 2005 entschied man beispielsweise, die Ambulantisierung des Wohnbereichs voranzutreiben und stationäre Strukturen kurz- bis mittelfristig aufzulösen.

In den folgenden Jahren entwickelte sich der Gedanke und das Leitmodell des „m2020“. Die damit verbundene Strategie sieht eine Dezentralisierung der Angebotsstrukturen aller Leistungsbereiche des Martinsclubs vor. Zudem integrieren die Mitarbeitenden Inklusion und Sozialraumorientierung zunehmend in ihr tägliches Handeln. Dies führt mehr und mehr zu einer am Gemeinwesen orientierten Arbeit auf allen Ebenen des Martinsclubs.

Heute können von den Quartiersbüros aus Bedarfe im Stadtteil besser erkannt und nach Möglichkeit vor Ort und wohnortnah bedient werden. Diesem Quartierbezug kommt vor dem Hintergrund, dass Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und ältere Menschen häufig mobilitätseingeschränkt sind, eine noch größere Bedeutung zu. Insbesondere die Arbeit der Fachkräfte mit den Klient*innen findet nun überwiegend bei den Menschen vor Ort, in ihren Nachbarschaften bzw. in ihrem Sozialraum statt.

Die Mitarbeitenden versuchen in allen Leistungsbereichen einen Bezug zu den Bedürfnissen der Menschen im Quartier immer wieder aktiv herzustellen. Die haben Beteiligten dabei oft unterschiedliche Perspektiven auf die beteiligten Lebenslagen und Interessen im Blick. Anhand einiger Beispiele soll die aktive Verbindung dieser Bezüge nun verdeutlicht werden.

Eine Fachkraft im Bereich „Assistenz in Schule“ an einer Schule im Stadtteil Walle wird über den Wunsch eines Jugendlichen informiert, nach Ende der Schulzeit eigenständig wohnen zu wollen. Die Fachkraft vermittelt den Kontakt an die Zuständigen im gleichen Stadtteil. Nun eröffnet der Leistungsbereich Wohnen in der nahegelegenen Überseestadt ein Wohnangebot, das auf die Bedarfe dieses jungen Menschen zugeschnitten ist. Der Jugendliche kann so perspektivisch in ein nahegelegenes Quartier ziehen.

Am Beispiel des stadtteilorientierten Lebens, Wohn- und Arbeitsprojektes „BlauHaus“ wird deutlich, wie sich der Martinsclub in einem ganzen Quartier engagiert. Das Gemeinschaftsprojekt entsteht in Kooperation mit unterschiedlichen Akteur*innen und schafft neue inklusive Wohnmöglichkeiten. Die Nachbarschaft in diesem neu entstehenden Ortsteil Walles wird durch die Nutzung und Mitgestaltung der Angebote gleichzeitig auch etwas „bunter“ und inklusiver gestaltet. Damit soll es Menschen ermöglicht werden, ein Leben lang an dem von ihnen gewünschten Ort wohnen zu bleiben.

Dies wird auch durch den hauseigenen Pflegedienst ermöglicht, der unter anderem auch eine Demenz-WG in der gleichen Nachbarschaft begleitet. Geistig beeinträchtigte Bewohner*innen können gemeinsam mit den Mitarbeitenden vor Ort und der entsprechenden Regionalleitung Ideen und Impulse in die Nachbarschaft geben und gemeinsam entwickeln.

Gleichzeitig entsteht im BlauHaus ein Ort für Begegnungen, bestehend aus einem Gebäude mit Veranstaltungsbereich, Ateliers und Werkstätten. Hier gibt es in der Folge die Chance, inklusive Kurse und Projekte in Kooperation mit anderen Trägern und Bewohner*innen zu initiieren.

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass das Handeln des Martinsclub im Quartier nicht durch räumliche Strukturen vorgegeben ist. Vielmehr beeinflusst und gestaltet der Martinsclub zusammen mit den Klient*innen und Mitarbeitenden den Raum an sich – hin zu einer inklusiveren Gesellschaft im Quartier.

2.4 Welche Bedeutung hat die Position der quartierbezogenen Regionalleitung?

Eine engagierte Arbeit im Quartier erfordert Ressourcen. Die Teilnahme an lokalen Gremien und Arbeitsgruppen sowie die Pflege von Netzwerken kann mitunter zeitaufwendig sein. Und ein Gefühl für das Quartier und die lokalen Bedarfe kann nur jemand entwickeln, der mit den Gegebenheiten vertraut und aufmerksam vor Ort unterwegs ist.

Wer findet beispielsweise den Weg in Beratungseinrichtungen? Und wer steht verloren auf der Straße herum? Wer kommt zu welchen Angeboten? Und für wen ist möglicherweise der Weg zu beschwerlich, der Raum zu groß, die Akustik zu schlecht? Wer lebt statistisch gesehen im Quartier, taucht aber in keiner Einrichtung auf? Welche Institutionen im Quartier widmen sich welchen Themen und Zielgruppen? Und wie und wo tun sie das?

Der Martinsclub hat die Bedeutung dieses lokalen Expertenwissens für eine passgenaue inklusive Soziale Arbeit erkannt. Statt Netzwerkarbeit „nebenher“ zu betreiben, beschäftigt der Verein Regionalleitungen, deren Hauptaufgabe die sozialraumorientierte Arbeit ist.

Eine Regionalleitung ist das Gesicht des Martinsclubs vor Ort. Sie multipliziert das Anliegen einer inklusiven Gesellschaft in Beratungsstellen, Netzwerken, Fortbildungen und zahlreichen Kooperationen. Neben der Vernetzung mit institutionellen Akteuren im Quartier gehört es auch zu ihren Aufgaben, mit den Menschen aus der Nachbarschaft im Gespräch zu sein und genau zuzuhören. Sie ist erste Ansprechperson für Hilfebedarfe im Quartier. Einerseits berät sie und vermittelt zu den richtigen Ansprechpartner*innen, intern wie extern. Andererseits greift sie Impulse und Bedarfe auf und entwickelt, oft in Zusammenarbeit mit anderen lokalen Akteur*innen, Lösungen und Angebote für die Menschen vor Ort. Dies geschieht immer mit der Ausrichtung, die Vielfalt und das Miteinander im Quartier zu fördern.

Auf diese Weise bekommt der Martinsclub auch Dynamiken mit: Was entwickelt sich im Quartier? Werden andere Orte relevant? Verändert sich das Straßenbild, die Nachbarschaft? Sind neue Gewohnheiten in der Raumnutzung zu beobachten oder kommen neue Akteure hinzu?

Die Regionalleitungen sind sozusagen „Seismograph*innen“ für den fluiden Sozialraum, in dem sie arbeiten. Ihr lokales Wissen fließt mit dem übergeordneten Know-how des Vereins zusammen und ermöglicht immer wieder innovative und flexible Konzepte für die Menschen vor Ort.

2.5 Welche Bedeutung haben Netzwerke und Kooperationen?

Eine erfolgreiche sozialraumorientierte Arbeit kann nur gelingen, wenn viele Akteur*innen an einem Strang ziehen. Deswegen arbeitet der Martinsclub bevorzugt in Kooperationen und Netzwerken. Hier kommen Expertise und Ressourcen zusammen, Synergieeffekte werden möglich. So ergeben sich Kooperationen in Fragen der Raumnutzung, der Finanzierung, der Ansprache der Teilnehmenden etc. Kooperationen mit dem Martinsclub schaffen immer wieder inklusive Begegnungsräume für unterschiedliche Zielgruppen.

In Bremen-Gröpelingen beispielsweise organisierten der Bewohner*innentreff Rostocker Straße (BaBeQ GmbHg) und der Martinsclub einen gemeinsamen Kochkurs. Hier profitierten alle Teilnehmenden von den nah gelegenen und barrierefreien Räumlichkeiten. In Bremen-Kattenturm schaffen der Altenhilfeträger „Bremer Heimstiftung“ und der Martinsclub gemeinsam wohnortnahe Angebote für Menschen mit Mobilitätseinschränkung. Und an vielen Stellen nutzen Klient*innen aus dem Ambulant Betreuten Wohnen des Martinsclubs die Tagespflegeeinrichtungen oder Freizeitangebote anderer Träger – und anders herum.

3. Beispiele für die praktische Umsetzung für Arbeit im Sozialraum

3.1 Quartier|Wohnen und Quartierszentralen

Vor zwölf Jahren stellte sich der Martinsclub die Frage, wie ein Wohnangebot jenseits der klassischen Wohnmodelle in der Behindertenhilfe aussehen könnte. Gemeinsam mit engagierten Angehörigen und potentiellen Nutzer*innen wurden Kriterien erarbeitet und eine Konzeption entwickelt, die es Menschen unabhängig von ihren jeweiligen pflegerischen und pädagogischen Unterstützungsbedarfen ermöglichen sollte, so selbstbestimmt wie möglich handeln und am gesellschaftlichen Leben möglichst barrierearm teilnehmen zu können.

Mit dem Konzept Quartier|Wohnen versucht der Martinsclub seit nunmehr über zehn Jahren, die Kausalität aufzubrechen, in der die Intensität des Unterstützungsbedarfes eines Menschen seinen Wohnort und seine Lebensqualität (zum Beispiel in punkto Selbstbestimmung) vorgibt. Komplexer Hilfebedarf kann – auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten – nur in stationären Wohnformen oder Komplexeinrichtungen adäquat geleistet werden. Auf Komplexität reagiert die klassische Behindertenhilfe mit institutioneller Professionalität. Das Modelprojekt Quartier|Wohnen versucht, diesen Mechanismus antizyklisch aufzubrechen, indem sich der Martinsclub in Teilbereichen in der Öffentlichkeit als Institution zurücknimmt, den Sozialraum in das pädagogische Handeln aktiv mitdenkt und sich in Wechselwirkung durch die verschiedenen Akteur*innen im Sozialraum beeinflussen lässt.

Abbildung 2: Das Projekt Quartier Wohnen
Abbildung 2: Das Projekt Quartier Wohnen, Quelle: Martinsclub
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Das Quartier|Wohnen richtet sich an erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung, die Anspruch auf Eingliederungshilfe nach SGB XII §53 erheben können. Die pädagogische Betreuung der Klient*innen im Quartier|Wohnen wird nach dem Bezugsbetreuungssystem gewährleistet. Diese personenbezogenen Leistungen orientieren sich an den im Rahmen des Gesamtplanes nach §58 SGB XII und den im Begutachtungsverfahren festgestellten individuellen Hilfebedarfen. Zusätzlich zu der individuellen Alltags- und Freizeitgestaltung werden durch die Pädagog*innen gruppenübergreifend Aktivitäten angeboten, die das Gemeinschaftsgefühl der Klient*innen stärken und erhalten sollen. Hierdurch soll auch einer Vereinsamung vorgebeugt und ein gemeinschaftliches Handeln gefördert werden. Des Weiteren sollen diese Aktivitäten als Forum für einen Erfahrungsaustausch über das Leben in einem ambulanten Setting (peer counselling) dienen.

Ergänzend zu den Betreuungsleistungen aus dem SGB XII, können durch das Quartier|Wohnen auch Pflegeleistungen aus dem SGB V und SGB XI erbracht werden. Die Leistungen nach SGB XI und SGB V können hierbei in Personalunion von den pädagogischen BetreuerInnen erbracht werden, die arbeitsvertraglich auch im Pflegedienst des Martinsclub angestellt und zur Erbringung der Pflegeleistungen berechtigt sind. Pflegeleistungen müssen von den Pflegefachkräften - zusätzlich zu der allgemeinen pädagogischen Arbeit – separat geplant und dokumentiert werden. Das ergänzende Pflegeangebot und die strukturelle Verflechtung mit den pädagogischen Leistungen des SGB XII, soll somit auch Menschen mit einem erhöhten Unterstützungsbedarf die Möglichkeit geben, das ambulante Betreuungsangebot Quartier|Wohnen in Anspruch zu nehmen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Nutzer*innen bei der Wahl des Pflegedienstes wird allerdings immer beachtet.

Das Quartier|Wohnen vom Martinsclub ist ein ambulantes Wohnangebot, in dem die Nutzer*innen in ihren eigenen Wohnungen pädagogisch begleitet werden. Bei den Wohnungen handelt es zumeist um Mietobjekte von Wohnungsbaugesellschaften aus dem freien Wohnungsmarkt, mit denen der Martinsclub in einer Vielzahl von Neubauprojekten kooperiert, aber selbst nicht als Vermieter auftritt. Maximal werden in einem Wohnquartier 10% aller Bewohner*innen durch das Quartier|Wohnen pädagogisch betreut. Die Nutzer*innen wohnen in der Regel maximal fünf Minuten fußläufig von einer Quartierzentrale entfernt, in der sich strukturell unabhängig vom dem individuellen Wohnraum der Nutzer*innen die Infrastruktur der pädagogischen und pflegerischen Mitarbeiter*innen befindet. In der Nacht ist hier auch die Nachtbereitschaft verortet, die die Betreuung der Nutzer*innen innerhalb des Quartieres in der Nacht gewährleistet. Dies ist in der ambulanten Betreuung in Bremen in dieser Form einzigartig und schlägt damit eine Brücke zu den stationären Wohnangeboten.

Diese Quartierszentren des Martinsclub sind in ihrer Form mehrdimensional gestaltet und passen sich den Bedarfen der Akteur*innen des jeweiligen Sozialraumes an. So bieten die Quartierszentren an zwei Standorten frei vermietbare Veranstaltungsräume an, die für kleine familiäre Anlässe, aber auch für Kunstausstellungen, Lesungen, Kurse etc. in der Erwachsenenbildung genutzt werden können. Besteht am Standort schon eine genügende Anzahl von Veranstaltungsräumen, beschränken sich Quartierszentren des Martinsclub auf die von den Mitarbeiter*innen genutzte Infrastruktur. Teilweise verfügen die Quartierszentren auch über „Fremdenzimmer“, die tageweise für Übernachtungen gebucht werden können. Kommt es bei Nutzer*innen zu krisenhaften Situationen, die eine engere pädagogische Anbindung erfordern, kann dieses Zimmer als Krisenzimmer genutzt werden.

Die Quartierszentren des Martinsclub erfahren in den Sozialräumen von vielen heterogenen Akteur*innen eine hohe Akzeptanz. Zumeist erfahren einige Adressat*innen erst nach einiger Zeit der Nutzung oder des Besuches der Quartierszentren, dass es sich beim Martinsclub primär um eine Einrichtung der Eingliederungshilfe handelt. Die Grenze zwischen dem Martinsclub als einem Träger der Behindertenhilfe hin zu einem sozialen Dienstleister für viele Akteur*innen im Sozialraum verschwimmt zunehmend. Der Martinsclub wird immer mehr als ein Teil des Sozialraumes wahrgenommen und nicht als ein institutionell autarker Fremdkörper, der sich durch fachspezifische Konzentration qua seiner Rolle im Sozialraum isoliert und in dieser Form auch zu einer Belastung des Sozialraumes führen kann. Durch die Wahrnehmung verschiedener Bedürfnisse aller Akteur*innen in einem Sozialraum setzt der Martinsclub schon in der Entstehung eines neuen Wohnquartieres auf die Potenziale, die eine Nachbarschaft lebendig machen. Der Martinsclub bringt sozusagen etwas für den Sozialraum, für das Miteinander im selbigen, ohne etwa eine hohe Akzeptanz für eine Sonderwelt – die eine stationäre Wohneinrichtung im jeden Fall darstellt – aus dem Sozialraum zu erwarten.

3.2 Ambulante Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz im „BlauHaus“

Im Bremer Stadtteil Überseestadt entsteht in einem ehemaligen Industriegebiet seit 2012 ein neues Wohnquartier. Seitdem plant das inklusive Kunstprojekt „Blaue Karawane e.V.“ in Kooperation mit dem Martinsclub, dem Verein „Quirl Kinderhäuser e.V.“ und „Inklusive WG Bremen“, in diesem Gebiet das „BlauHaus“. Dabei handelt es sich um ein Modellvorhaben zum inklusiven und sozialraumorientierten Leben, Wohnen und Arbeiten.

Die Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz im BlauHaus des Martinsclub richtet sich an acht erwachsene Menschen mit einer fachärztlich diagnostizierten beginnenden oder fortgeschrittenen Demenz. Alle acht Bewohner*innen haben einen Anspruch auf Pflegesachleistungen nach §36 des SGB XI sowie Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach §37 SBG V. Die Bewohner*innen sind auf die Anwesenheit einer Präsenz- oder Pflegekraft tagsüber, sowie auf eine Nachtbereitschaft angewiesen, können jedoch noch aktiv Aufgaben des alltäglichen Lebens mitübernehmen.

Das Leistungsangebot der Wohngemeinschaft entspricht nicht dem Leistungsumfang eines vollstationären Pflegeangebotes. Die Bewohner*innen können aktiv ihren Alltag mit Unterstützung gestalten. Sie bestimmen selbst oder mit Unterstützung ihrer An- und Zugehörigen, wie das Leben in der Gemeinschaft gestaltet wird. Pflege und Betreuung werden in der Häuslichkeit der Bewohner*innen erbracht. Sie bleiben in der Verantwortung für den Haushalt. Das Wohnen steht im Vordergrund. Zentrale Idee dieses Wohnangebotes ist es, den Bewohner*innen trotz ihrer krankheitsbedingten, kognitiven Einbußen ein Leben in größtmöglicher Selbstständigkeit unter Wahrung ihrer Privatsphäre zu ermöglichen. So sollen Austausch und soziale Teilhabe nach den individuellen Wünschen und Vorlieben sichergestellt werden.

Diese ambulante Wohngemeinschaft eignet sich insbesondere für Menschen mit Demenz, die das Leben in einer Gemeinschaft vorziehen. Die in diesem Konzept benannten Bewohner*innen sind im Sinne der Selbstverantwortung dieser ambulanten Wohnform Mieter*innen des beschriebenen Wohnraumes.

Für Angehörige ist die ambulante Wohngemeinschaft eine sinnvolle Alternative, wenn Entlastung gesucht wird, gleichzeitig aber weiterhin maßgebliche Einflussnahme auf den Alltag und organisatorische Prozesse gewünscht ist. Können Angehörige das gewünschte Engagement nicht übernehmen, besteht die Möglichkeit, dass andere Personen, etwa weitere Verwandte, Freunde oder ehrenamtlich tätige Menschen, dieses übernehmen.

Die Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz versteht sich nicht als isolierte Wohngruppe, sondern als festes und inkludiertes Bestandteil des Wohnquartiers BlauHaus. Im Kern bedeutet dies, dass die Bewohner*innen die Möglichkeit erhalten, das sozialraumorientierte Leben der Gemeinschaft des BlauHaus aktiv selbst zu gestalten und wahrzunehmen. Die ambulante Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz soll im unmittelbaren Wohnumfeld dabei unterstützen, in der heutigen Gesellschaft weit verbreitete Vorurteile und Ängste gegenüber dem Krankheitsbild der Demenz abzubauen.

3.3 Inklusive Küchen

Seit vier Jahren führt der Martinsclub zwei inklusive Küchenbetriebe an den Standorten Huckelriede und Kattenturm. Sowohl das „Marie Weser“ in Huckelriede als auch das „Rotheo“ in Kattenturm wird von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen betrieben. Hier erhalten Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Küchen sind auch ein zentraler Baustein in der Quartiers- und Sozialraumarbeit des Martinsclub. Sie sind Begegnungsstätten für die Menschen im Stadtteil. Ihre Lage ist so gewählt, dass sie für die Nachbar*innen günstig gelegen sind. Die Küchen sind zudem mit dem öffentlichen Nahverkehr gut zu erreichen und befinden sich in unmittelbarer Nähe zu Einrichtungen und Unternehmen, die täglich von vielen Menschen aufgesucht werden.

Abbildung 3: Das Team der Inklusiven Küche „Marie Weser“
Abbildung 3: Das Team der Inklusiven Küche „Marie Weser“, Quelle: Martinsclub
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Neben Getränken und Speisen zu günstigen Preisen erhalten die Gäste im „Rotheo“ und im „Marie Weser“ somit Kontakt und Austausch mit ganz unterschiedlichen Menschen. Viele Menschen haben in ihrem Alltag keinen Kontakt zu Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Die inklusiven Küchen schaffen Begegnungen, die dazu führen können, dass Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden. Bewiesen ist, dass die Atmosphäre eines Bistros oder Restaurants sich hervorragend dazu eignet, auf niedrigschwelliger Ebene Menschen zusammenzubringen.

Ferner verstehen sich die inklusiven Küchen als Ausgangspunkt für die Belebung ihres jeweiligen Stadtteils. Regelmäßig finden Veranstaltungen und öffentliche Angebote statt. Vor allem die Kooperationen mit anderen Trägern und Organisationen werden aktiv vorangetrieben. So ergaben sich den vergangenen Jahren einige kooperative Projekte, wie zum Beispiel Stadtteilfeste, Weihnachtsmärkte, Public Viewing-Veranstaltungen oder Musikfestivals.

3.4 Inklusion in der Schule

Schule ist ein zentraler Ort im Leben junger Menschen – und daher ein unweigerlicher Teil des Sozialraums. Neben inhaltlichem Wissen lernen Schüler*innen hier elementare Dinge des sozialen Miteinanders. Sozialkompetenz, Toleranz, Empathie, Rücksichtnahme etc. – all dies steht neben den eigentlichen Unterrichtsinhalten auf dem täglichen Lehrplan. Daher erfüllt die Schule nicht nur die Aufgabe, die Schüler*innen auf den späteren Beruf vorzubereiten. Schule ist ein sozialer Treff, wo Persönlichkeiten geformt, der Umgang mit anderen (ganz verschiedenen) Menschen erlernt und das gesellschaftliche Miteinander praktiziert wird. Kurz: Schule nimmt eine zentrale Funktion im Sozialraum ein, wo Grundsätze für das spätere Leben vermittelt und erlernt werden.

Im Verständnis des Martinsclub ist es essentiell, Kinder mit Beeinträchtigung hiervon nicht auszuschließen. Die Idee, jene Schüler*innen gesondert auf einer „speziellen“ Schule zu unterrichten, ist längst überholt und entspricht nicht dem Gedanken der Inklusion. Vielmehr sollen alle Kinder gemeinsam eine Schulform besuchen. Beeinträchtigungen sollten dabei keine Rolle spielen. So schreibt es auch der Gesetzgeber vor: Laut Bremischem Schulgesetz steht jedem Kind im Land Bremen ein Platz auf einer Regelschule zu. Der Martinsclub hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern mit einer Beeinträchtigung den Zugang zum Bildungssystem, also zur Schule für alle, zu ermöglichen. Dies gelingt über speziell ausgebildete Assistenzkräfte. Diese begleiten die Schüler*innen in ihrem Schulalltag. Sie geben verschiedene Hilfestellungen und greifen gezielt dort ein, wo Kinder mit Unterstützungsbedarfen alleine nicht klarkommen. Dies kann sich über die ganze Bandbreite des Schullebens erstrecken: Begleitung auf dem Schulweg, Hilfe beim Treppensteigen, bei der Einnahme von Medikamenten, bei der sozialen Interaktion in den Pausen, auf Ausflügen und Klassenfahrten sowie auch im Unterricht selber.

Die Arbeit der Assistenzkräfte stellt sicher, dass die betreffenden Schüler*innen am gesellschaftlichen Leben partizipieren können – so, wie alle anderen Kinder auch. Eine Beeinträchtigung darf kein Grund sein, Menschen vom Sozialraum Schule auszuschließen. Zudem wirkt die Schulassistenz noch in eine andere Richtung: Da die Kinder oftmals einen recht hohen Betreuungsbedarf haben, werden auch die Eltern (vor allem zeitlich) entlastet. So können sie während des Schulbesuchs ihres Kindes ihrer eigenen Arbeit, persönlichen Interessen o. ä. nachgehen. Um die Qualität der Assistenz sicherzustellen, benötigen die Kräfte für eine Anstellung beim Martinsclub einschlägige fachliche Qualifikationen.

3.5 Teilhabe

Der Leistungsbereich der Teilhabe in der Bildung und der Freizeit stellt den Ursprung dar, aus dem der Martinsclub vor über 45 Jahren entstanden ist. Aus der Elterninitiative, die sich in den 1970er Jahren für Freizeitangebote für Beschäftigte der Werkstatt Bremen engagiert hat, ist ein Bildungs- und Freizeitangebot erwachsen, dass bundesweit einzigartig ist.

Jedes Jahr nehmen im Martinsclub über 1.500 Menschen an Kursen, Veranstaltungen und Reisen teil. Für jede Altersgruppe und jeden Geschmack wird im Martinsclub etwas geboten. Dazu kommt, dass mittlerweile eine Vielzahl der Angebote inklusiv ist. Das heißt sie sind offen für alle Menschen. Ob beeinträchtigt oder nicht, jeder kann bspw. an der wöchentlichen Disco, dem Schwimm- oder Sprachkurs teilnehmen. Hier entstehen also regelmäßig Begegnungen und Austausch. Menschen lernen zusammen und haben zusammen Spaß.

Abbildung 4: Das Teilhabeprogramm Disco
Abbildung 4: Das Teilhabeprogramm Disco, Quelle: Martinsclub
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Über 700 Angebote organisiert der Teilhabebereich im Jahr. Hinzu kommen weitere Veranstaltungen und Projekte. Diese finden im ganzen Bremer Stadtgebiet statt. Die gesamte Organisation ist nur durch ein breit angelegtes Netzwerk aus Kooperationspartner*innen möglich. Sportvereine, Jugendfreizeitheime, Bildungseinrichtungen, Bürgerhäuser und viele andere Organisationen arbeiten eng mit dem Martinsclub in den verschiedenen Regionen zusammen. Sie stellen zum Beispiel Räumlichkeiten und Übungsleitungen zur Verfügung. Oder sie sind auch an der Entwicklung neuer Angebote beteiligt. Bestes Beispiel ist hierfür die Volkshochschule. Seit fast 20 Jahren gibt es ein Kooperationsabkommen zwischen den beiden Organisationen, das die Basis für eine Vielzahl von Bildungs- und Freizeitangeboten in Bremen darstellt.

3.6 Projekte

Neben den verschiedenen Leistungen, die dauerhaft im Martinsclub angeboten werden, finden regelmäßig neue, zeitbefristete Projekte statt. Diese haben immer einen Fokus auf Inklusion. Hier werden Begegnungen und Austausch im Sozialraum geschaffen. Mit Projekten wie dem unten dargestellten „Alle Inklusive Festival“ oder der Ausstellung „Lieblingsräume – so vielfältig wie wir“ wird Inklusion nicht nur für die Bremer Bürger*innen erlebbar. Vielmehr wirbt der Martinsclub mit diesen Projekten für Inklusion über die Stadtgrenzen hinaus.

In den weiteren der im Folgenden dargestellten Projekte steht die Selbstbefähigung im Vordergrund. Das ist ebenfalls ein wichtiger Baustein der Inklusion. Der Martinsclub fördert Menschen mit Beeinträchtigung aktiv, ihr Wissen und Talent auszubauen und einzubringen. Denn das Potenzial dieser Kernzielgruppe des Martinsclub kommt in der Gesellschaft viel zu wenig zum Tragen. Für dieses Bestreben stehen die Projekte „Teile dein Wissen“ und „Begegnung im Stadtteil“ exemplarisch.

Das Alle Inklusive Festival

Ein Tag der Vielfalt und Inklusion: Alle zwei Jahre veranstaltet der Martinsclub das „Alle Inklusive Festival“. Dabei handelt es sich um eine „umsonst und draußen“-Veranstaltung. Eine Mischung aus Live-Musik und vielen Mitmach-Angeboten, ein bunter Tag für Jung und Alt. Wie es Name vermuten lässt wirbt das „Alle Inklusive Festival“ für Inklusion. Es steht für das Recht auf Freizeit und kulturelle Teilhabe. An diesem Tag sollen Menschen zusammenkommen und Zeit miteinander verbringen. Denn nur Begegnungen führen zu Toleranz und Verständnis für die Verschiedenheit unserer Gesellschaft.

Alle Menschen sind an diesem Tag willkommen, niemand soll ausgeschlossen werden. Großer Wert wird dementsprechend auf die Barrierefreiheit des Geländes und die Zugänglichkeit der Angebote gelegt. Auch der Eintritt zum „Alle Inklusive Festival“ ist frei. Denn Geld soll die Teilhabe nicht verhindern.

Das letzte „Alle Inklusive Festival“ fand im Mai 2019 auf dem Gelände des Sportgarten Bremen statt. Das Gelände des Jugendfreizeittreffs in der Pauliner Marsch, direkt hinter dem Weserstadion, eignete sich hervorragend für diese Veranstaltung. Zentral gelegen, mit vielen Parkplätzen und einer guten Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, besuchten über den Tag verteilt über 1.500 Menschen das Festival. Das Veranstaltungskonzept ging dabei auf: Es trafen sich Menschen aus unterschiedlichen Bremer Stadtbezirken, Jung und Alt, Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Begegnungen, die im Alltag nur selten zustande kommen.

Lieblingsräume – so vielfältig wie wir

Ein Rollstuhlfahrer, der seinem Traumberuf als Handwerker nachgeht. Eine gehörlose Bloggerin, die dank des Internets im virtuellen Raum kommunizieren kann wie jeder andere auch. Oder ein geflüchteter Syrer, der in einer Wohngemeinschaft in Bremen eine neue Heimat fand. Sie alle und noch viele mehr erzählten in der interaktiven Sonderausstellung „Lieblingsräume – so vielfältig wie wir“ ihre Geschichten und zeigten damit: Es ist normal, verschieden zu sein!

Vom 10. Dezember 2016 bis zum 7. Januar 2018 war die Sonderausstellung im Science Center „Universum Bremen“ zu sehen. Diese wurde vom Universum, dem Martinsclub und vielen freiwilligen Helfer*innen entwickelt. Darunter waren viele Bremer Schulen, Organisationen, Unternehmen, Vereine und Verbände beteiligt. Dazu engagierten sich rund 200 Privatpersonen für das Ausstellungsprojekt. Begleitet wurde die Ausstellung durch ein umfassendes Rahmenprogramm. Auch hier waren viele Bremer*innen an der Umsetzung beteiligt. Über zwei Jahre beschäftigten sich Menschen mit Inklusion und Vielfalt, die in ihrem normalen Alltag keine Berührungspunkte zu diesen Themen hatten. Insgesamt besuchten rund 200.000 Menschen die Lieblingsräume. Sie begaben sich auf einen Rundgang durch scheinbar bekannte Räume. Sie entdeckten dabei ungewohnte Perspektiven auf gesellschaftliche Themen. Das Ziel „Inklusion erleben” hat die Sonderausstellung erreicht.

Lieblingsräume Reportage: https://www.youtube.com/watch?v=teqcEUsonp0 

Teile dein Wissen

Seit Frühjahr 2019 findet im Martinsclub das Projekt „Teile dein Wissen – du bist Experte“ statt. Es richtet sich speziell an Menschen mit Beeinträchtigung. Sie sollen dazu befähigt werden, ihr Talent einzubringen und auch anderen zu vermitteln. „Teile dein Wissen“ hat zwei Schwerpunktbereiche. Der erste Bereich sind die „Eventmacher“. Dieser richtet sich an alle Organisationstalente. Hier lernen sie, wie eine Veranstaltung erfolgreich über die Bühne geht. Bei „Gruppen anleiten“ geht es um die Vermittlung von Fachwissen. Die Teilnehmenden lernen alles Nötige, um selbst oder im inklusiven Tandem als Kursleitung oder Trainer zu arbeiten.

In wöchentlichen Theoriekursen geht es zum Beispiel darum: Wie motiviere ich eine Gruppe? Was mache ich bei Konflikten? Wie kann ich eine Kurseinheit planen? Wie bewerbe ich mich als Kursleitung? Wie kann ich eine erfolgreiche Veranstaltung organisieren? Zu den wöchentlichen Terminen kommen Übungen, wie „Körperarbeit oder Sprechtraining“. Außerdem erproben die Teilnehmenden ihr Wissen in der Praxis: Das kann zum Beispiel beim Fußballtraining, im Theaterkurs oder bei verschiedenen Großveranstaltungen stattfinden. Je nach Interesse der Teilnehmenden vermittelt der Martinsclub die passende Praxisstelle. Als Projektpartner*innen engagieren sich bislang (Stand: September 2019) der SV Werder Bremen, die Kunsthalle Bremen, Blaumeier und die Universität Bremen.

Ziel von „Teile dein Wissen“ ist die Befähigung von Menschen mit Beeinträchtigung, ihr Wissen und Talent zu erkennen und zu nutzen. Sie sollen dazu motiviert werden, ihre Potenziale in die Gesellschaft einfließen zu lassen. Das findet aktuell kaum bis gar nicht statt. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung werden Menschen mit Beeinträchtigung mit einem Defizit belegt, anstatt ihre Fähigkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. „Teile dein Wissen“ ist ein Impuls dahin, dass in Zukunft Menschen mit Beeinträchtigung ein Fußballteam trainieren, eine Reise begleiten, ein Festival veranstalten oder einen Nähkurs anleiten.

Begegnungen im Stadtteil

Digitale Barrieren abbauen und zugleich Zugänge in der Nachbarschaft schaffen. Das ist das Ziel des Projekts „Begegnungen im Stadtteil”. Das Projekt besteht aus zwei Teilen. Zum einen die Stadtteilreporter*innen, die sich in den Stadteilen Kattenturm, Gröpelingen und Vegesack als Redaktionsgruppen gefunden haben. Alter, Herkunft, mit oder ohne Beeinträchtigung – die Teilnehmenden sind bunt gemischt. Was sie eint, ist die Zugehörigkeit zur jeweiligen Nachbarschaft sowie die Lust, darüber zu berichten. Alle 14 Tage kommen sie zusammen und diskutieren über Themen, die relevant sind für eine Berichterstattung. Für ihre Reportagen aus der Nachbarschaft nutzen sie die sogenannten neuen Medien. Denn mit Smartphone und Tablet lassen sich sehr einfach gute Beiträge herstellen. Diese veröffentlichen Sie auf der eigenen YouTube-Plattform. Bei den Stadtteilreporter*innen findet Engagement im Sozialraum auf diverse Weise statt. Nicht nur, dass sich eine bunt-zusammengewürfelte Gruppe regelmäßig trifft und zusammen Kreatives verwirklicht. Die Gruppe trägt vielmehr zu einem Miteinander im Stadtteil bei. Sie berichtet über Geschichten und Projekte aus der Nachbarschaft. Zudem bietet sie Unterstützung bei der Nutzung digitaler Medien an. JedeR, der oder die Lust hat, ist willkommen! Vorkenntnisse sind zur Teilnahme nicht erforderlich. Die Gruppen sollen möglichst inklusiv sein, alle von allen lernen und sich gegenseitig unterstützen.

YouTube-Channel der Stadtteilreporter*innen: https://www.youtube.com/channel/UCgQbtAkiLQo19fzwnHWMLVQ

Zum anderen bilden „offene Smartphonetreffs“ als Beratungsangebote den zweiten Teilaspekt des Projekts „Begegnung im Stadtteil“. Diese finden alle drei Monate in Kattenturm, Gröpelingen und Vegesack statt. Sie richten sich besonders an ältere Menschen, für die der Umgang mit der neuen Technik nicht so vertraut ist. Geleitet werden die Treffen unter anderen von den Stadtteilreporter*innen, die ihre Kenntnisse an die Nachbar*innen weitergeben. Diese offenen Beratungsangebote erfreuen sich in den Stadtteilen großer Beliebtheit.

3.7 Verso – Die Entwicklung einer verständnisorientierten Sprache

Kommunikation und Sprache sind Kulturtechniken, die jeder Mensch täglich gebraucht. Daher unterliegen sie selbstverständlich dem Inklusionsgedanken. Etwa 10,6 Millionen erwerbsfähige Menschen in Deutschland leben mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche, so auch ein Großteil der Klient*innen des Martinsclub. Weitere 6,2 Millionen können im Prinzip nicht lesen. Auch auf diesem Gebiet bestehen daher Hürden und Barrieren, die abzubauen sind. Für den Martinsclub ist Sprache also ein wichtiger Aspekt in Sachen Sozialraumorientierung. Sprache – in Form von geschriebenen Texten und gesprochenen Wörtern – ist ein elementares Mittel zur Kommunikation. Hierbei darf niemand ausgeschlossen werden. Sprache sollte daher in jedem Fall leicht beziehungsweise verständlich formuliert sein.

Dies gilt zuallererst für die internen Medien und Publikationen des Martinsclub, mit denen die Klient*innen regelmäßig in Kontakt kommen (Flyer, Vereinsmagazin „m“, Programmhefte, Aushänge, etc.) Das übergeordnete Ziel besteht zudem darin, diesen Leitgedanken auch auf externe Texte, die die Klient*innen betreffen, etwa amtliche Schreiben, Verträge, Bedienungsanleitungen, etc. anzuwenden. Daher hat es sich der Martinsclub zum Ziel gemacht, eine Schriftsprache in der Gesellschaft zu etablieren, die …

Der Leitgedanke hinter der Idee besteht darin, eine Sprache für alle zu entwickeln. Es sollte nicht zwischen einer „normalen“ Sprache und einer „einfachen“ oder „leichten“ Sprache unterschieden werden. Spezielle Textformen wie etwa die „Leichte Sprache“, in der komplexe Inhalte oft nicht korrekt wiedergegeben werden können, sollen zugunsten einer für ausnahmslos alle Leser*innen verständlichen Schriftsprache entfallen.

Die Praxis hat gezeigt, dass „Leichte Sprache“ deutliche Schwächen hat. Die eigentliche Zielgruppe erkennt diese oft als „anders“ und teilweise als „zu leicht“. Gut lesende Klient*innen lehnen diese Textform ebenso ab. Durch wissenschaftliche Studien konnten die Regelempfehlungen für „Leichte Sprache“ weiterentwickelt werden. In Kooperation mit Prof. Dr. Alexander Lasch, Kommunikationswissenschaftler an der TU Dresden, hat der Martinsclub Regelempfehlungen für eine verständliche Sprache entwickelt. 2017 wurde dieses Projekt unter dem Namen „Verso“ (Ableitung von verständnisorientierte Sprache) offiziell mit zwei halben Stellen im Referat Kommunikation des Martinsclub verankert. Im Herbst 2019 hat der Martinsclub das Verso-Projekt strukturell weiterentwickelt und gemeinsam mit der „Selbstverständlich GmbH“ eine Agentur für barrierefreie Kommunikation gegründet.

Beschaffenheit von Verso

Die Sprache „Verso“ orientiert sich an Erkenntnissen der Verständlichkeit und der Akzeptanz. Da Sprache etwas Aktives ist, gibt es keine festen, starren Regeln. Vielmehr stellt Verso verschiedene Empfehlungen bzw. Tipps zur Verfügung, um sprachliche Hürden so weit wie möglich abzubauen, ohne den Sinn des Textes zu verfälschen, zu verändern oder zu verkürzen.

Der Martinsclub hat sich im Sinne der Inklusion zum Ziel gesetzt, Verso so stark wie möglich in allen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Daher bedient der Martinsclub (genauer: das Referat Kommunikation) externe Kunden und vereinfacht („versofiziert“) deren Texte, etwa Info-Broschüren, rechtsgültige Verträge, Materialen für Öffentlichkeitsarbeit, Produktflyer, Begleittexte etc. Zudem werden Schulungen (intern wie extern) zum Gebrauch und zur Anwendung von Verso angeboten.

4. Ausblick

Die dargestellten Aktivitäten verdeutlichen, dass die Angebote und die alltägliche Zusammenarbeit im Martinsclub ohne einen reflektierten und fundierten „sozialräumlichen Blick“ und eine quartierbezogene Ausrichtung längst nicht mehr denk- und gestaltbar wären. Bei der Umsetzung und Ausgestaltung der Angebote ist es immer wieder von zentraler Bedeutung, wie diese mit den beteiligten Akteur*innen gemeinsam ausgestaltet und weiterentwickelt werden können. Für die Zukunft wird es von zentraler Bedeutung sein, wie die begonnene sozialräumliche Umgestaltung der dargestellten und kommender weiterer Angebote nun verstetigt und gemeinsam mit allen Beteiligten weiter entwickelt werden kann. Dazu benötigen wir neben fachlichem und persönlichem Engagement und guten Ideen auch gute Rahmenbedingungen sowie die weitere öffentliche und fachliche Unterstützung für diesen Prozess. In einem solchen Rahmen kann dann das Langzeitprojekt Inklusion durch eine sozialräumliche und quartierbezogene Ausgestaltung von Angeboten für und mit den Adressat*innen konkreter und greifbarer realisiert werden.


Zitiervorschlag

Jung, Sebastian (2019): Der Martinsclub Bremen e. V. – Innovative Angebote für eine sozialraumorientierte und quartierbezogene Behindertenhilfe. In: sozialraum.de (11) Ausgabe 1/2019. URL: https://www.sozialraum.de/der-martinsclub-bremen.php, Datum des Zugriffs: 27.04.2024