Gasteditorial zur Ausgabe 1/2025

Monika Alisch

Der Anspruch war klar definiert: Das Online-Journal „sozialraum.de“ sollte eine offene Plattform werden, die „den fachlichen Austausch zu sozialräumlichen Konzepten und Projekten im Bereich der Sozialen Arbeit und den Sozialwissenschaften fördern und verstärken möchte“ (Editorial der ersten Ausgabe 01/2009). Was im Nachlesen nach 20 Ausgaben so einfach, fast selbstverständlich klingt, war zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Ausgabe schon eine recht drängende Notwendigkeit. Es galt, all jenen, die als Wissenschaftler:innen oder Praktiker:innen mit dem Begriff Sozialraum und den seit gut zwei Jahrzehnten sich intensiv vermehrenden sozialräumlichen Ansätzen befasst waren, einen Raum (!) zu eröffnen, unabhängig von disziplinären oder handlungsfeldbezogenen Diskussionen, sozialräumliches Denken und Handeln einander sichtbar zu machen, aufeinander zu beziehen und weiterzuentwickeln. Auch wenn es so nirgends ausdrücklich steht – dies erscheint ein perfektes Beispiel für Transdisziplinarität von Wissenschaft und Praxis zu sein.

Warum schien das so notwendig zu sein? Die Herausforderungen in den frühen 2000er Jahren waren grob gefasst erstens, damit umzugehen, dass sich ganz verschiedene Disziplinen, Professionen und Politiken mit der Idee und Ansprüchen sozialräumlicher Perspektiven befasst haben und dies zweitens gern auch ohne groß aufeinander Bezug zu nehmen. Dabei waren Stadtentwicklungspolitik mit insbesondere Stadtplaner:innen, Stadtsoziolog:innen und Geograf:innen über die Bedeutung der Handlungsebene des (Wohn)Quartiers auf ihre sozialräumliche Perspektive gestoßen. Zweitens war dies für die Soziale Arbeit Anlass genug, sich auf dieser Bühne der Auseinandersetzung zum vermeintlich „neuen“ sozialräumlichen Denken und Handeln lauter zu Wort zu melden und sich angesichts der langen Geschichte und Erfahrung mit sozialraumbezogener Arbeit insbesondere als Gemeinwesenarbeit, einzumischen.

Die sozialwissenschaftliche Debatte wurde im Jahr 2005 im ersten „Handbuch Sozialraum“ auf stattlichen 660 Seiten von damals 63 Autor:innen entfaltet – mit Verlaub auch damals nur ein Ausschnitt aus der Debatte. Diese befasste sich zum einen auffällig intensiv mit der Definition, Abgrenzung und Systematisierung von Begrifflichkeiten rund um Sozialraum und zum anderen damit, die sozialräumlichen Politiken und daraus entstandenen Praktiken sozialraumbezogener Arbeit nicht von den transdisziplinären Diskussionen abzukoppeln, oder gar „richtige“ und „falsche“ Sozialraumkonzepte bewertend auseinanderzuhalten.

Eine Plattform anzubieten, auf der es eben nicht darum geht, die nächste richtige Version von Sozialraum(arbeit) zu proklamieren, sondern in der realen Breite den Austausch in Theorie und Praxis zu verstärken und so das Ganze auch weiterzuentwickeln, kam zum richtigen Zeitpunkt! Um auch die Praxis all dessen, was sich Sozialraumarbeit oder -orientierung nennt, an den Diskursen zu beteiligen, war es eine gute Entscheidung, einen kostenfreien Zugang zu Wissen und Wissenstransfer zu eröffnen. Zwar ist auch die Liste der Hand- und Einführungsbände zu Sozialraum inzwischen lang, jedoch sind Publikationen auf sozialraum.de wirklich schnell und damit hochaktuell.  

Die Struktur des Online-Journals hat seit Beginn die Breite der an der (oder den?) Diskussion(en) beteiligten Akteur:innen abgebildet: In der Rubrik „Grundlagen“ sind seitdem 74 Theoriebeiträge zum sozialwissenschaftlichen Diskussionsfeld Sozialraum und zu sozialräumlichen Ansätzen in der Sozialen Arbeit erschienen. Im „Methodenkoffer“ wurden bis heute 32 spezifische und oft höchst kreative „Methoden der Sozialrumerkundung und -analysen“ (Ausgabe 2/2009) versammelt. In der Rubrik „Projekte“ sind Ergebnisse aus Praxisforschungskooperationen zusammengefasst, derzeit 74, und 40 Projekte mit Sozialraumbezug firmieren unter dem Titel „Praxis“.

Inwieweit sich gerade auf diesem Wege – durch diesen geschaffenen Diskursraum – ein Austausch und eine Weiterentwicklung der Diskussion und Methoden über die Zeit fruchtbar geworden ist, wäre vielleicht eine eigene Erforschung wert: Auf jeden Fall hat sich über die letzten gut zwei Jahrzehnte die „die Rede vom Sozialraum“, wie die Herausgebenden besagten Handbuchs Sozialraum ihre Einleitung überschrieben hatten, in nahezu allen Handlungsfeldern im Bildungs- und Sozialbereich allgegenwärtig in konkrete kommunalpolitische Programmpapiere, in Verwaltungen (als Steuerungsstrategie) und einzelnen Handlungsfeldern eingeschrieben. Schon mit der dritten Ausgabe von sozialraum.de nimmt das Journal diese Vielfältigkeit einerseits und den unbestreitbaren Wunsch nach Orientierung im Sozialraumfeld (wohl nicht nur bei Praktiker:innen und Studierenden) auf und veröffentlicht das erste „Schwerpunktheft“ zu „Bildungslandschaften“. Eine Ausgabe später (2/2010) lohnen bereits zwei Themenschwerpunkte: „Zum einen werden internationale Beiträge zur Sozialraumdebatte präsentiert und zum anderen soll die Auseinandersetzung um die Bedeutung virtueller Räume für das sozialräumliche Denken und Handeln weitergeführt werden“ (Editorial der Ausgabe 2/2010). Insbesondere zum letzten Schwerpunkt der virtuellen oder digitalen Räume dürften künftig weitere Beiträge zu erwarten sein – auch weil die Anforderungen an die Praxis Sozialer Arbeit im Allgemeinen und im Speziellen in einer sozialraumbezogenen Arbeit, die um das Erreichen der Lebenswelten ihrer Adressat:innen ringt, steigen und auch Projektförderungen in der Digitalisierungsdebatte zunehmen dürften.

Ab der ersten Ausgabe im Jahr 2011 wurden die Textbeiträge bewusst thematisch zu einer „Plattform" gebündelt, die „den Austausch zum sozialräumlichen Denken und Handeln intensivieren und verdichten“ wollte. Dies wurde zuerst mit den Themen „Verhältnis von sozialräumlichem Denken und Gemeinwesenarbeit" und zum Thema „Öffentliche Räume – Sicherheit – (Un-)Ordnung“ probiert.

Auch die Forschung im Diskussionsfeld Sozialraum schwingt mit Konjunkturen der Förderung, die sich in der Historie von sozialraum.de durchaus erkennen lassen. So scheint es kein Zufall zu sein, dass im Jahr 2013 das Thema „Altern, demographischer Wandel und sozialer Raum“ zum Schwerpunkt auf sozialraum.de wurde. Es war Jahr fünf der Bundesforschungsförderung für angewandte Forschung zu „Sozialen Innovationen für Lebensqualität im Alter“ (SILQUA), die bis dahin eine Fülle von Forschungen hervorgebracht hat – eben auch und gerade mit einem sozialräumlichen Bezug. In den Beiträgen auf sozialraum.de dazu bildet sich die innovative Forschungslandschaft in diesem Zusammenhang sehr gut ab.

Die Ausgabe 1/2017 ist zwar themenoffen, kann jedoch auch einen thematischen Schwerpunkt zu den sozialräumlichen Aspekten des Arbeitens mit geflüchteten Menschen vorweisen, nachdem erst zwei Jahre zuvor die Fluchtzuwanderung zu einem dominanten Thema auch in der Praxis Sozialer Arbeit wurde – als Thema der Drittmittelforschung kam es nahezu zeitgleich, auch da vielfach mit Sozialraumbezügen. Viele dieser Forschungen wurden während der Covid-19-Pandemie abgeschlossen, die bekanntlich vieles dominierte und als Herausforderung im ersten Heft 2020 sofort aufgegriffen wurde.

Aber selbst wenn gesellschaftliche oder politische Entwicklungen dazu anregen, sich auch im Online-Journal sozialraum.de auf ein oder zwei virulente Themen zu fokussieren, hat sich die Entwicklung der Sozialraumdiskussion in den Sozialwissenschaften und in der Praxis verschiedenster Handlungsfelder der Sozialen Arbeit sowie der Stadt- und Raumplanung über die Jahre als so vielfältig erwiesen, dass der Plan der Redaktion, wirklich die thematische Bandbreite und Vielfalt unterschiedlicher Reflexions- und Handlungsbezüge des sozialräumlichen Diskurses widerzuspiegeln, aufgeht. Nur so kann auch weiterhin der Austausch zu sozialräumlichem Denken und Handeln in der (Wissenschaft und Praxis) Sozialer Arbeit und den Sozialwissenschaften unterstützt und entsprechende Ansätze ohne die Etablierung von „Sozialraumschulen“ weiterentwickelt werden.

Fulda im Juni 2025,
Prof. Dr. habil. Monika Alisch
Fachgebiet Sozialplanung, Sozialraum- und Gemeinwesenarbeit, Hochschule Fulda, Fachbereich Sozialwesen


Zitiervorschlag

Alisch, Monika (2025): Gasteditorial zur Ausgabe 1/2025. In: sozialraum.de Editorials. URL: https://www.sozialraum.de/gasteditorial-zur-ausgabe-1-2025.php, Datum des Zugriffs: 19.06.2025