Partizipative Methoden zur Erforschung der Wohnbedürfnisse junger Menschen mit Mehrfachbehinderungen

Anton Tietze, Bianca Skora, Miriam Hornik

Der folgende Beitrag präsentiert unterschiedliche methodische Ansätze zur Durchführung von Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung, die im Rahmen des Praxisforschungsprojektes „Wohnen in Zukunft. Wohnbedürfnisse junger Menschen mit Behinderungen“ 2023 im Masterstudiengang Praxisforschung und Innovation in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Bremen entwickelt wurden[1].

Hintergrund der Forschungsarbeit ist das in der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 19 UN-BRK) festgelegte Recht von Menschen mit Behinderungen auf gleichberechtigte Wohnchancen. Der Staat muss „allen Menschen mit Behinderungen unabhängig von Art und Schwere der Behinderung gleichberechtigt die Möglichkeit […] eröffnen, ihren Aufenthaltsort zu wählen, wobei sie nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“ (Frankenstein 2023, 2). Das Bundesteilhabegesetz stärkt zusätzlich das Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Wohnform von Menschen mit Behinderungen. Sie sollen freier entscheiden können, wo und wie sie leben (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2020, o.S.). Allerdings gibt es einerseits – nicht nur im Land Bremen – einen Mangel an geeigneten (stationären und ambulanten) Wohnformen für junge Erwachsene mit komplexem Unterstützungsbedarf. Andererseits sind in der Forschung empirische Studien, die die Sichtweisen von Menschen mit Behinderung berücksichtigen, unterrepräsentiert (vgl. Büschi et al. 2022, 424). Eine mögliche Erklärung dafür, dass die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen zu selten berücksichtigt wird, liegt in der Annahme, dass es sehr schwierig sei, sie zu befragen (vgl. ebd., 424f.). Hinzu kommt, dass es an orientierenden methodischen Beispielen mangelt.

Im Rahmen unserer Forschungsarbeit haben wir aus diesem Grund eigene Vorgehensweisen bei der Erhebung und Auswertung der Interviews entwickelt, die im Folgenden präsentiert werden. Insgesamt wurden in einer stationären Wohneinrichtung in Bremen sieben leitfadengestützte Interviews mit 14- bis 19-jährigen Menschen mit Mehrfachbehinderung geführt, unter anderem: Sekundäre Mikrozephalie, ausgeprägte Verhaltensstörung, kombinierte Entwicklungsstörung, Intelligenzminderung, Störung des Sozialverhaltens, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und auch fehlende Sprachkompetenzen. Ziel unserer Vorgehensweise war, „die Methode den jeweiligen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen des zu Befragenden anzupassen, denn dann können alle Betroffenen die Möglichkeit erhalten, sich als Experte in eigener Sache zu äußern“ (Keeley 2015, 109). Das Setting der stationären Wohneinrichtung wurde dabei als räumliches Setting betrachtet, das durch die Relationen und Positionierungen der Beteiligten im Raum gebildet und weiterentwickelt wird (Kessl/Reutlinger 2018).

1. Beziehungen herstellen und Vertrauen aufbauen

Um Vertrauen aufzubauen und Partizipation zu fördern, fanden vor den geplanten Interviewterminen Treffen mit allen Teilnehmenden statt. Diese ermöglichten es den Jugendlichen, die Forschenden kennenzulernen und sich mit den unterstützenden Methoden in den Interviews vertraut zu machen (vgl. Abschnitt 3). Auch konnte unser Team den Leitfaden danach viel besser an eine adressat:innengerechte Sprache anpassen. Die Teilnehmenden erhielten zudem schriftliche Informationen zum Ablauf und Datenschutz. Außerdem wurde vor der Durchführung jedes Interviews die Einwilligung der Teilnehmenden – sowie die ihrer Vormundschaften – eingeholt.

Basierend auf dem Prinzip der Partizipation wurden individuelle Wünsche zur Mitgestaltung der Interviews integriert (vgl. Munsch 2012, 1181). So kam innerhalb des ersten Kennenlerntreffens bei zwei Befragten der Wunsch nach einem gemeinsamen Interview auf, das deshalb als Gruppengespräch mit vier Personen (zwei Interviewende, zwei Befragte) geplant wurde.

2. Flexibilität im Forschungsprozess

Die Umsetzung des Forschungsdesigns erforderte eine hohe Spontanität und Anpassungsfähigkeit seitens der Forscher:innen. So gab es kurzfristige Veränderungen, teilweise Zeitdruck, weil Gespräche länger dauerten als geplant und auch die Notwendigkeit, Unterstützungsmethoden in die Gesprächssituation zu integrieren. Hilfreich erwies sich deswegen, die Interviews zu zweit zu führen – natürlich in Absprache mit den Befragten.

Zu den Befragten gehörten Personen, die sich mittels technischer Hilfsmittel äußerten. Dabei kam es zum Einsatz von Tablets mit Sprachausgabe und Piktogrammen, was die Interaktion stark prägte. Die Interviewführung von computergestützten Interviews lief wie folgt ab: Der/die Interviewer:in stellte Fragen. Die befragte Person tippte Wörter in das Tablet ein, wobei diese jedoch keine vollständigen Sätze ergaben. Außerdem erschienen Bilder auf dem Tablet (Piktogramme) oder eine Computerstimme ertönte. Das Interview bedurfte einer hohen Konzentration seitens der interviewenden Person, weil dieser/diese versuchen musste, die Bilder und Wörter in eine logische Reihenfolge zu bringen und zu verbalisieren. Zur Veranschaulichung folgt ein Beispiel:

I: Und was gefällt dir an (Name der Einrichtung)?

B1: (................), (Tippt auf dem Tablet) Klein. (Computerstimme), (.).

I: Klein, dass hier kleine Kinder sind, in (Name der Einrichtung)?

B1: (Schüttelt den Kopf).

I: Nein. Ach so, dass es generell klein ist in (Name der Einrichtung)?

B1: (Nickt mit dem Kopf).

Anhand des Interviewausschnitts wird deutlich, dass Gesten in diesem Interview eine zentrale Rolle spielen. Sie dienen als Bestätigung oder ergänzen Aussagen. Die Rolle der Interviewenden ist in diesem Setting ebenfalls äußerst vielfältig. Mehrere Dinge passieren gleichzeitig: Der/die Interviewer:in stellt Fragen, muss die Eingaben im Tablet verstehen und diese verbalisieren. Gleichzeitig achtet er/sie auf die Gestik und Mimik der zu interviewenden Person, um zu überprüfen, ob die Verbalisierungen für das Gegenüber stimmig sind. Mit Blick auf die komplexe Durchführung und Auswertung des computergestützten Interviews stellte sich heraus, dass die Anwesenheit von zwei Interviewenden hilfreich gewesen wäre. So hätten beispielsweise die Erfassung nonverbaler Gesten oder anderer Besonderheiten von einem/einer Interviewenden übernommen werden können, während der/die andere Interviewende sich auf die Interviewführung konzentriert hätte.

3. Unterstützende Methoden in den Interviews

Neben den eigenen technischen Hilfsmitteln der Befragten wurden im Vorfeld als kommunikationsunterstützende Methoden verschiedene Vignetten und eine rote Karte entwickelt. Die rote Karte sollte es den Befragten ermöglichen, das Interview zu jedem Zeitpunkt abzubrechen, ohne in Erklärungsnot zu geraten. Dies wurde in den Vorgesprächen genau erklärt.

In Anlehnung an Hagen (2001), die für ihre Befragung von Menschen mit Behinderung Bildkarten zur Hilfe nahm, wurden Vignetten vorbereitet, um den Erzählfluss aufrecht zu erhalten (vgl. Keeley 2015, 109). Die aufgeführten Vignetten wurden dabei vom unserem Forschungsteam selbst entwickelt, da sich hierzu in der Literatur keine passenden Beispiele finden ließen. Abbildung 1 zeigt die erstellten Vignetten, die aber nicht sofort im Interview zum Einsatz kamen und nur im Notfall Anwendung finden sollten, wenn das Gespräch beispielsweise ins Stocken geriet. Denn grundsätzlich war das Ziel der qualitativen Forschung, die Interviews in keine Richtung zu lenken, sondern den zu interviewenden Personen die Möglichkeit zu eröffnen, frei sprechen zu können.

Vignetten (bildbasierte Erzählimpulse)

Abbildung 1: Vignetten (bildbasierte Erzählimpulse) (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Erfahrungen mit dem Einsatz der roten Karte und der Vignetten waren sehr positiv. Auch wenn die rote Karte in den Interviews nicht von den Befragten angewendet wurde, gab sie allen Gesprächsbeteiligten doch Sicherheit, dass die Kommunikation zu jedem Zeitpunkt freiwillig war. Die Vignetten kamen nur dann zum Einsatz, wenn das Gespräch ins Stocken geriet. Durch den Einsatz der Vignetten wurde der Gesprächsfluss positiv beeinflusst und konnte ohne große Unsicherheiten und Unverständnisse fortgeführt werden.

4. Interviewtranskription

Auch bei der Vorbereitung der Datenauswertung zeigten sich besondere Anforderungen. Die angewandte automatisierte Transkriptionssoftware stieß an Grenzen, wenn Aussagen durch Computerstimmen oder unvollständige Sätze vermittelt wurden. Technisch vermittelte Äußerungen konnten nicht abgebildet werden. Da zu diesem Zeitpunkt nicht gesprochen wird und diese vom Programm als Pausen gekennzeichnet werden, mussten die Transkripte nachbearbeitet werden. Dieser Schritt war entscheidend, um die Vielschichtigkeit der Daten – etwa die Kombination aus getippten Wörtern und Gesten – analytisch zu erfassen.

Eine zentrale Herausforderung bestand darin, dass es kaum methodische Literatur zur Befragung von Menschen mit komplexen Kommunikationsbedarfen gibt – insbesondere im Kontext computergestützter Interviews. Die Transkription orientierte sich im Prinzip an den 14 Transkriptionsregeln nach Kuckartz und Rädiker (2022, 510), wurde aber durch fünf Transkriptionsregeln ergänzt, die das Forschungsteam entwickelte, um die Mehrdimensionalität der Kommunikation systematisch zu dokumentieren und die Möglichkeit zu haben, eine Kombination aus Tablet-Eingaben und Gesten ebenfalls berücksichtigen zu können.

Transkriptionsregeln für das computergestützte Interview

  1. 1.     Alle nonverbalen Gesten, wie beispielsweise ein Kopfnicken, werden im Transkript in Klammern gesetzt.
  2. 2.     Äußerungen der befragten Person, die auf dem Tablet eingegeben werden, sind im Transkript in Klammern festgehalten. Diese Textstellen werden dem/der Befragten B zugeordnet.
  3. 3.     Texte, die auf dem Computer zu lesen und von dem/der Interviewer:in verbalisiert worden sind, werden dem/der Interviewer:in „I“ zugeordnet.
  4. 4.     Erklingt resultierend aus der Eingabe der befragten Person im Tablet eine Computerstimme, wird diese Textstelle dem/der Befragten B zugeordnet.
  5. 5.     Zeitstempel werden nicht gesetzt, wenn eine Geste in dem Absatz beschrieben wird, da diese auf der Audioaufnahme nicht zu hören ist.

5. Fazit und Implikationen

Es gibt wenig Forschung zur Befragung von Menschen mit Behinderung, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass in öffentlichen Diskursen teilweise bestritten wurde, dass dies aufgrund von kognitiven Einschränkungen der Zielgruppe möglich sei (vgl. Büschi et al. 2022, 424f.). Dagegen konnte in unserem Forschungsprojekt klar aufgezeigt werden, dass junge Menschen mit Behinderung in der Lage sind, ihre Bedürfnisse selbst zu artikulieren und somit das Wunsch- und Wahlrecht des Bundesteilhabegesetzes aktiv einfordern können. Anhand des explorativen Ansatzes konnten und mussten kreative und innovative Lösungsstrategien Anwendung finden – auch deswegen, weil hier eine Lücke in der Methodenliteratur besteht, die dringend geschlossen werden sollte, um vergleichbare Studien zu erleichtern. In unserem Forschungsprojekt erwiesen sich der vertrauensfördernde Beziehungsaufbau, der flexible Einsatz von Interviewformaten und die selbstentwickelten kommunikationsunterstützenden Methoden und Transkriptionsregeln als Schlüssel zur Partizipation und Inklusion.

Literatur

Büschi, Eva/Moramana, Nadja/Calabrese, Stefania/Zambrino, Natalie (2022): Sichtweisen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen – Schwierigkeiten und präventive Aspekte in Interaktion, Kommunikation und Beziehungsgestaltung. In: Soziale Passagen, 14. Jg., H. 2, S. 423-440.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (o.J.): Bundesteilhabegesetz. https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Rehabilitation-und-Teilhabe/Bundesteilhabegesetz/bundesteilhabegesetz.html [Zugriff: 27.01.2025].

Frankenstein, Arne (2023): Stellungnahme des Landesteilhabebeirats zur dauerhaften Sicherstellung menschenrechtskonformer Wohnangebote – Fokus Kinder und Jugendliche. URL: https://www.behindertenbeauftragter.bremen.de/oeffentlichkeit/newsletter/newsletter-archiv/newsletter-nr-48-i-januar-2023-39459 (Zugriff: 01.05.2025).

Hagen, Jutta (2007): Und es geht doch! Menschen mit einer geistigen Behinderung als Untersuchungspersonen in qualitativen Forschungszusammenhängen. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, H. 1, S. 22-34.

Keeley, Caren (2015): Qualitative Forschung mit Menschen mit geistiger Behinderung. Notwendigkeit und methodische Möglichkeiten zur Erhebung subjektiver Sichtweisen unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 66. Jg., H. 3, S. 108-119.

Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (2018): Sozialraum. In: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans/Treptow, Rainer/Ziegler, Holger: Handbuch Soziale Arbeit. 6., überarb. Auflage. München: Ernst Reinhardt, S. 1596-1604.

Kuckartz, Udo/Rädiker, Stefan (2022): Datenaufbereitung und Datenbereinigung in der qualitativen Sozialforschung. In: Baur, Nina/Blasius, Jörg (Hg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 501-516.

Munsch, Chantal (2012): Praxisforschung in der Sozialen Arbeit. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 1177-1189.


Fußnote

[1] Dieses wurde 2024 mit dem ersten Preis des GEWOBA-Preises ZUKUNFT.WOHNEN ausgezeichnet (vgl. https://preis.gewoba.de/fileadmin/user_upload/GEWOBA-Preis_2024_w.pdf - Zugriff: 01.05.2025)


Zitiervorschlag

Tietze, Anton, Bianca Skora und Miriam Hornik (2025): Partizipative Methoden zur Erforschung der Wohnbedürfnisse junger Menschen mit Mehrfachbehinderungen. In: sozialraum.de (16) Ausgabe 1/2025. URL: https://www.sozialraum.de/partizipative-methoden-zur-erforschung-der-wohnbeduerfnisse-junger-menschen-mit-mehrfachbehinderungen.php, Datum des Zugriffs: 19.06.2025