Der Wille bewegt: Qplus in der Eingliederungshilfe

Karen Haubenreisser, Thomas Steinberg, Andrea Stonis

Mehr gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Assistenzbedarf zu ermöglichen, mit diesem Ziel startete das Hamburger Modellprojekt Qplus in der Eingliederungshilfe vor fünf Jahren [1]. Qplus wird maßgeblich gesteuert und in die Praxis gebracht durch die beiden Tochtergesellschaften der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA), die alsterdorf assistenz ost und alsterdorf assistenz west.

Hier stehen Lots*innen Menschen mit Assistenzbedarf als eine Art Coach zur Verfügung, so dass sie ihren Alltag nach ihren Vorstellungen organisieren können. Und dies unter Einbezug aller Möglichkeiten des einzelnen Menschen, seines sozialen Umfelds, technischer Lösungen und der vorhandenen Quartierressourcen. Der folgende Artikel stellt den konzeptionellen Hintergrund, die Arbeitsweise, Erfahrungen und Ergebnisse des fünfjährigen Modellprojekts Qplus in der Eingliederungshilfe dar sowie die Anknüpfungspunkte für die Zukunft.

Abbildung 1: Kennt sich aus in ihrer Nachbarschaft – Qplus Teilnehmerin beim Einkaufen in Hamburg, St. Georg
Abbildung 1: Kennt sich aus in ihrer Nachbarschaft – Qplus Teilnehmerin beim Einkaufen in Hamburg, St. Georg. Fotografin: Heike Günther
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1. Der Ansatz und seine Ziele

Mehr gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Assistenzbedarf ermöglichen, mit diesem Ziel startete das Modellprojekt Qplus in der Eingliederungshilfe. Dabei sollten möglichst alle Potenziale und Ressourcen des einzelnen Menschen, seiner Nachbarschaft, technischer Lösungen und der Quartiere als Lebensorte mit einbezogen werden. Die Prinzipien des Fachkonzepts Sozialraumorientierung dienten dabei als Leitlinie. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Wie will ich leben und was ist mir wichtig? Wie soll mein Alltag aussehen und was benötige ich dafür?

Abbildung 2: Gemeinsam unterwegs im Quartier
Abbildung 2: Gemeinsam unterwegs im Quartier. Fotografin: Heike Günther
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Dabei ging es Qplus nicht nur darum, ein praktisches Netzwerk für den individuellen Bedarf einzelner Menschen zu knüpfen, sondern immer auch um deren „Willen“, der Ausgangspunkt aller Aktivitäten ist. Das klingt zunächst einfach. Aber: Was genau ist der Wille eines Menschen? Wie kann man ihn herausfinden, wenn zum Beispiel Menschen aufgrund einer Behinderung nicht in der Lage sind, sich zu äußern?

Auch in der Fachdiskussion durchaus umstritten, ob es einen „Willen“ a priori und per se geben könne oder ob dieser nicht erst dialogisch zu entwickeln sei (vgl. hierzu auch den Beitrag von Dieter Röh in dieser Ausgabe). In der praktischen Arbeit von Qplus bedeutet dies, dass „Unterstützungsarrangements … insbesondere dann wirksam (sind), wenn sie an den Interessen und Fähigkeiten der betroffenen Menschen orientiert sind (…). (Fehren/Hinte 2013). In diesem Sinne verstehen wir den „Willen“ als artikulierte Interessen, die in einer kommunikativen Situation herausgearbeitet werden und zu deren Realisierung die Betroffenen einen Beitrag leisten wollen.

Die Ambivalenzen, die Kontextabhängigkeiten und den Prozesscharakter des menschlichen Willens zeigt auch das folgende Filmbeispiel von barner 16, dem inklusiven Netzwerk für professionelle Kulturproduktionen des Hamburger Trägers alsterarbeit, der in der Reihe „barner 16 erklärt die Welt“ folgenden Film zum Thema „Wille“ produziert hat:


Filmbeispiel 1: Der Wille bewegt – Filmbeitrag aus der Reihe „barner 16 erklärt die Welt“.

Das Modellprojekt Qplus war Teil einer Gesamtvereinbarung im Rahmen eines fünfjährigen Trägerbudgets. Dies haben die Hamburgische Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) und die Evangelische Stiftung Alsterdorf vereinbart. Das Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB) der Universität Duisburg-Essen unterstützt den Prozess durch fachliche Begleitung und Evaluation.

2. Die Arbeitsweise

Aus dem eingangs skizzierten Grundverständnis einer Ressourcen- und Potenzialorientierung und einer Verknüpfung der Interventionsebenen leitet sich auch die Arbeitsweise von Qplus in der Eingliederungshilfe ab. Mit der neuen Funktion der „Quartierlots*innen“ kann eine kommunikative Situation geschaffen werden, „in der die Beteiligten (…) sich über ihre Interessen klar werden, sie mitteilen und darüber verhandeln.“ (Fehren/Hinte, 2013)

Die Arbeitsweise von Qplus und die Zusammenarbeit zwischen Teilnehmer*innen und Quartierlots*innen wird im folgenden – von Qplus produzierten Film – exemplarisch dargestellt:


Filmbeispiel 2: Filmbeitrag über Qplus: Teilnehmer*innen und Lots*innen im Gespräch-

Aufgabe der Quartierlots*innen ist es, gemeinsam mit dem/der Projektteilnehmenden ein möglichst wirkungsvolles „Unterstützungspaket“ zusammenzustellen, das die eigenen Ressourcen des/der Projektteilnehmenden, seiner/ihrer Verwandten, Nachbarn, Freunde und Bekannten sowie die gegebenen Leistungsansprüche aus den einzelnen Sozialgesetzbüchern übergreifend und umfassend berücksichtigt.

Dabei stehen die Lots*innen den Menschen wie ein „Alltags-Coach“ zur Verfügung. Sie unterstützen zum Beispiel, wenn:

Ausgehend von einer für Qplus entwickelten Systematik arbeiten sie dabei mit den Adressat*innen an folgenden Leitfragen:

  1. Was kann ich selbst tun, eventuell mit technischer Hilfe?
  2. Wie können mich Familie, Freund*innen oder Nachbar*innen unterstützen?
  3. Welche Unterstützung kann das Quartier bieten, wie Vereine, Initiativen oder Geschäfte?
  4. Welche ergänzenden Hilfen durch Profis benötige ich?
  5. Was kann und will ich selbst für andere Menschen tun?

Abbildung 3: Die Qplus Systematik
Abbildung 3: Die Qplus Systematik. Quelle: Qplus
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Entlang dieser Qplus Systematik sollen die Quartierlots*innen die einzelnen Leistungen organisieren, koordinieren und sichern sowie die Wirksamkeit des Unterstützungspakets gemeinsam mit dem/der Projektteilnehmenden überprüfen und ggf. fortentwickeln. Zentral für das Qplus-Projekt ist – ausgehend von den jeweiligen Anliegen der Leistungsberechtigten – die Frage, wie sich die dafür notwendigen Versorgungs- und Unterstützungsstrukturen verändern bzw. aufbauen lassen.

3. Eine neue Leistungslogik

Jenseits von Qplus erfolgte die Bedarfserhebung und Teilhabeplanung in der Eingliederungshilfe in Hamburg bislang über die Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs nach der „Metzler-Systematik 4“. Die Umsetzung folgt dabei der Logik: Je höher der Hilfebedarf des Menschen, desto mehr Geld erhalten die Dienstleistenden. Zunächst wird nach dem Hilfebedarf gefragt, dann wird die Profi-Leistung aufgesetzt, bürgerschaftliches Engagement wird ergänzend hinzugefügt. Dies wiederum geschieht nur, wenn der Träger sich aktiv darum bemüht. Und er bemüht sich insbesondere dann, wenn seine Leistungen nicht ausreichen. Dies verstärkt die Tendenz, bürgerschaftliches Engagement als eine Art Ersatzleistung zu verstehen, die wiederum Leistungsberechtigte zivilgesellschaftlich zum/zur Empfänger*in von Hilfen herabsetzt.

Das Modellprojekt Qplus sucht nach Möglichkeiten, diese Logik umzukehren: Diejenigen, die soziale Dienstleistungen in Anspruch nehmen, zunächst aus dem Spektrum der Sozialgesetzbücher XI und XII (Pflege und Eingliederungshilfe), stellen sich mit Unterstützung von Quartier-Lots*innen Schritt für Schritt ihren individuellen Unterstützungsmix zusammen. Darüber hinaus nehmen die Menschen in den Blick, was sie selbst in das Quartier einbringen wollen und können. Auf diese Weise entstehen im Rahmen einer konsequent selbstgewählten Alltagsgestaltung individuelle Lösungswege. Zentral ist dabei, dass Selbsthilfe und Quartiermöglichkeiten als genuine Bestandteile anstatt als Ergänzung des Unterstützungssettings von Anfang an mit gedacht werden.

Abbildung 4: Ist in seinem Viertel gut bekannt: Philip Ladanyi beim Gespräch im Quartier
Abbildung 4: Ist in seinem Viertel gut bekannt: Philip Ladanyi beim Gespräch im Quartier. Fotografin: Heike Günther.
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Ein Beispiel aus der Praxis

Die 41-jährige Frau Schmidt möchte etwas in ihrem Leben verändern. Sie lebt seit vier Jahren ambulant unterstützt – auf Basis von Hilfebedarfsgruppe 3 nach Metzler und Pflegestufe 0 – in einer kleinen Wohngemeinschaft in Hamburg im trägereigenen Wohnraum. Bad und Gemeinschaftsküche teilt sie sich mit drei Mitbewohner*innen mit Unterstützungsbedarf. Mehrmals am Tag und in der Woche helfen ihr eine Assistentin und ein Pflegedienst: im Haushalt, beim Einkaufen und der Ernährung oder bei der Körperpflege. Termine bei der Ärztin organisiert ebenfalls das Assistenz-Team, eine Assistentin begleitet sie gelegentlich dorthin. Mit den Fachkräften ist vereinbart, dass sie einmal im Monat selbst Geld von der Sparkasse abholt, dies dann im Teambüro der Assistenz abgibt, um sich zweimal in der Woche dort eine Rate abzuholen.

Am wichtigsten ist Frau Schmidt, den Alltag mehr im eigenen Rhythmus selbst zu gestalten – und zwar ohne sich nach den Regeln und den Zeiten der Assistent*innen oder des Pflegedienstes zu richten. Frau Schmidt berichtet, dass sie beim Einkaufen Unterstützung er-hält, um „gesunde Lebensmittel“ einzukaufen. Gelegentlich geht sie dann noch mal los, um das zu kaufen, was sie nicht sollte, aber gern will. Frau Schmidt will eine Wohnung für sich allein haben und gleichzeitig einen schnellen Kontakt zu einer Hilfe finden können. Sie hört von einer kleinen freien Wohnung am anderen Ende der Stadt, die sich ebenfalls im trägereigenen Wohnraum befindet, und will umzuziehen.

Die Quartierlotsin hat Zeit, Frau Schmidt und ihren Alltag in Ruhe kennenzulernen. Was ist ihr wichtig? Was kann sie gut alleine tun? Wo braucht sie Hilfe, und wen gibt es, der helfen kann? Anfänglich sind beide mehrmals wöchentlich im Kontakt. Als Frau Schmidt anfängt, ihr Leben und ihre Unterstützung zu verändern, ist es für alle Beteiligten gar nicht einfach: Die Assistent*innen der Eingliederungshilfe und die Sozialpädagogin haben Sorgen, ob Frau Schmidt es schafft, sich selbst gut genug um sich zu kümmern und wie es mit der Gesundheit und Ernährung werden wird. Unterstützt durch die Lotsin verabredet Frau Schmidt Probewochen, z. B. zur Wohnungspflege, Lebensmittelversorgung, Körperpflege und Gesundheit. Danach werten sie gemeinsam aus: Was ist gelungen? Wo hakte es? Was ist ergänzend notwendig? Über die Quartierlotsin lernt Frau Schmidt ein Stadtteilcafé mit günstigem Mittagstisch kennen, dort geht sie am Wochenende hin. Parallel macht sie einen Kochkurs mit einer mütterlichen Freundin. Sie will lernen, Knöpfe anzunähen: In einem Treffpunkt im benachbarten Stadtteil ist das möglich, dort trifft sie außerdem andere Frauen aus der Nachbarschaft. Sie versorgt sich eigenständig mit zuvor von ihr abgelehnten Hörgeräten und einer neuen Brille.

Die Freundin unterstützt sie u. a. bei Arztbesuchen und z. B. der Nachsorge nach einer Operation. Beratung und Gespräche bei Krisenstimmungen zählen zu den verabredeten Unterstützungsleistungen durch die Profis, mit denen sie ein „Stand-by-System“ verabredet. Die Assistent*innen kommen nicht mehr zu vereinbarten Zeiten, sie sind aber ansprechbar, wenn Frau Schmidt sie braucht. Ihr Leben hat „einen anderen Dreh bekommen“: Sie geht selbst einkaufen, entscheidet, wann sie etwas kaufen und essen will. Ihr Appartement reinigt sie mittlerweile selbst. Sie hat ein Wischsystem gekauft, dass das Auswringen im Stehen ermöglicht. Wenn sie eine Unterstützung bei der Körperpflege braucht, fragt sie diese an. Ihr Geld teilt sie nach einem neuen System selbst ein. Und Frau Schmidt bezieht ihr Bett selbst, was früher der Pflegedienst übernommen hat. Nur für die vierte Ecke vom Spannbetttuch fragt sie ihre Assistentin.

Abbildung 5: Vorhaben von Frau Schmidt aus dem Fallbeispiel
Abbildung 5: Vorhaben von Frau Schmidt aus dem Fallbeispiel. Quelle: Qplus
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Insgesamt konnte Frau Schmidt in diesem Beispiel acht Unterstützungsleistungen durch Profis in einen Selbsthilfe-Technik-Quartier-Profi-Mix verwandeln. Dadurch wurde ein grundlegend neues Setting entwickelt, in dem Frau Schmidt deutlich an Autonomie und Lebensqualität gewonnen hat.

4. Die Ergebnisse: Wie verändert sich die Teilhabe durch die Qplus Systematik?

Als Modellprojekt ist Qplus vom Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung der Universität Duisburg-Essen (ISSAB) praxisbegleitend evaluiert worden. Die umfangreicheren Gesamtergebnisse können als Arbeitspapier sowie als Bericht zur Qplus-Evaluation aus dem Jahr 2017 unter http://www.q-acht.net/qplus/downloads nachgelesen werden.

Mit 170 Menschen haben die Qplus-Lots*innen in den vergangenen vier Jahren in zwei Projektregionen gearbeitet. Davon haben sich 65 entschieden, über einen längeren Zeitraum aktiv bei Qplus teilzunehmen und sich von einer der Quartierlots*innen begleiten zu lassen. Die Evaluation hat die Unterstützungssettings von 34 Menschen ausgewertet, die sich mindestens neun Monate oder länger von Qplus begleiten ließen. Die Teilnehmenden sind Leistungsberechtigte der Eingliederungshilfe und/oder der Pflege.

Die Leitfragen für die Evaluation lauteten:

Erste Ergebnisse zeigen, dass sich die Teilhabe-Möglichkeiten der beteiligten Menschen verbessern und dass in den neuen Unterstützungssettings verschiedene Einzelleistungen kreativ neu verbunden werden. Blickt man auf das Verhältnis von Intervention und Wirkung im Rahmen der Qplus-Arbeit, ergeben sich Hinweise darauf, dass die dargestellten Wirkungen in der Tendenz zu einem doppelten Effekt führen: Zur Steigerung der Teilhabeoptionen und Selbstständigkeit der Menschen sowie zur gleichzeitigen Reduzierung von leistungsrechtlichen Maßnahmen.

Zusammenfassend zeigt die Evaluation aus unserer Sicht vor allem drei wichtige Ergebnisse:

  1. Eine Verbesserung der Teilhabe-Möglichkeiten: Aus Sicht der Qplus-Teilnehmenden verbessern sich im Verlauf der Qplus-Begleitung deren Teilhabe-Möglichkeiten insgesamt und insbesondere in den Bereichen gesundheitliche Versorgung und Teilhabe am sozialen Leben.
  2. Eine Veränderung des Unterstützungssettings: Im Unterstützungssetting der Qplus-Teilnehmenden deutet sich eine Verlagerung von Profileistungen hin zu sozialräumlichen und persönlichen Unterstützungen an.
  3. Eine Reduzierung der Profi-Leistungen: Bei 70 Prozent der Teilnehmenden haben sich die Wochenstunden an professioneller Unterstützung gemäß SGB XII und SGB XI im Verlauf der Qplus-Begleitung verringert.

6. Ausblick: Maßgeschneiderte Unterstützung in der Eingliederungshilfe und ein neues Modellprojekt QplusAlter

Vor dem Hintergrund der bisherigen positiven Erfahrungen der ressourcenorientierten Unterstützung von Menschen mit Behinderung aus dem Modellprojekt in den Assistenzgesellschaften alsterdorf assistenz ost und alsterdorf assistenz west entscheiden sich beide Träger nun zur Etablierung einer weiteren Stufe: Die Funktion der Lots*innen wird ab 2019 in den Assistenzgesellschaften regulär übernommen. Konkret bedeutet das u. a., dass die Gesellschaften ihr bisheriges Kundenmanagement in ein „Eingangsmanagement“ umbauen. Bereits bei der ersten Anfrage nach Unterstützung, stehen Lots*innen als Ansprechpartner*innen zur Verfügung, nun Teilhabe-Lots*innen genannt. Die Erfahrungen von Qplus unterstützen dabei, die Strategie der Personenzentrierung konsequent weiter umzusetzen: Das Ziel ist es, dass Menschen mit Assistenzbedarf nach ihren individuellen Vorstellungen im Quartier leben können. Für jeden und jede Einzelne von ihnen soll ein maßgeschneiderter Mix aus Selbsthilfe, Technik, Quartier und Profi entstehen.

Abbildung 6: Steffen Sauthoff, Julia Dobberstein, Johanna Voß, Evelin Asch, Sabine Schlicht, Lotta Greuter und Henning Sievert (v. l. n. r.) gestalten das neue Eingangsmanagement in den beiden beteiligten Assistenzgesellschaften.
Abbildung 6: Steffen Sauthoff, Julia Dobberstein, Johanna Voß, Evelin Asch, Sabine Schlicht, Lotta Greuter und Henning Sievert (v. l. n. r.) gestalten das neue Eingangsmanagement in den beiden beteiligten Assistenzgesellschaften. Fotografin: Heike Günther.
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Eine zentrale Grundlage dieses Vorhabens stellt das neue Hamburger Trägerbudget dar, das zwischen Hamburger Sozialhilfeträger und Leistungserbringern der Eingliederungshilfe vereinbart wurde. Früher war hier alles vergleichsweise einfach, aber auch ohne größere Spielräume: Der Träger einer Einrichtung bekam Geld für klar definierte Sach- und Personalleistungen je nach Höhe der Hilfebedarfsgruppen der Menschen mit Assistenzbedarf. Dieser defizitorientierte Blick  lässt sich mit der konsequent personen- und sozialraumorientieren Herangehensweise von Qplus nicht vereinbaren. In der bisher üblichen Bewilligung von Fachstunden oder Bedarfsgruppen lassen sich Ressourcen im Selbsthilfe-Technik-Quartier-Profi-Mix schwer abbilden. Das sogenannte Trägerbudget ermöglicht hier ein „Experiment“ wie in der Stiftung Alsterdorf: Anbietende von Unterstützungsleistungen erhalten ein festes Budget und Finanzierungssicherheit durch die lange Laufzeit der Vereinbarung.

In Hamburg erhalten dieses Trägerbudget neben der Evangelischen Stiftung Alsterdorf auch die Träger Leben mit Behinderung Hamburg, fördern und wohnen, Sozialkontor und das Rauhe Haus. Der sozialraumorientierte Ansatz muss auch in die Anforderungen des gesetzlichen Leistungssystems übersetzt werden. Die individuellen Rechtsansprüche müssen immer gewahrt werden. Die Frage ist dabei, wie man diese innovativen Settings, in denen verschiedene Einzelleistungen zu einem umfangreichen Gesamtpaket verbunden werden, in den geltenden Bestimmungen abbilden kann, die auf Einzelleistungen basieren.

Darüber hinaus werden mit einem neuen Angebot QplusAlter die positiven Erfahrungen von Qplus in der Eingliederungshilfe auf einen neuen Bereich übertragen: Lots*innen begleiten älter werdende Menschen mit Pflege- oder Unterstützungsbedarf dabei, nach ihren Vorstellungen im Stadtteil zu leben [2]. Sie helfen ihnen, die passende Unterstützung zu finden in einem Mix aus Selbsthilfe, Technik, sozialen Netzen im Quartier und Profileistungen.

Abbildung 7: Die QplusAlter Systematik – Erfahrungen aus der Eingliederungshilfe für die Altenhilfe nutzen
Abbildung 7: Die QplusAlter Systematik – Erfahrungen aus der Eingliederungshilfe für die Altenhilfe nutzen. Quelle: Qplus.
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Ältere Menschen mit Pflege- oder Unterstützungsbedarf werden darin unterstützt, möglichst selbstbestimmt  und selbstständig im Quartier zu leben und ihren Alltag nach ihren Vorstellungen zu organisieren. Vier Lotsinnen und Lotsen werden dabei helfen, Bausteine für einen gelingenden Alltag zusammen zu stellen und dabei die bereits aus Qplus bekannte Mischung aus Selbsthilfe, Technik, sozialen Netzen im Quartier und Profileistungen mit den Adressat*innen erschließen.

Literatur

Hinte, Wolfgang/Fehren, Oliver: Sozialraumorientierung – Fachkonzept oder Sparprogramm? (Reihe Soziale Arbeit Kontrovers 4/2013). Berlin/Freiburg i.Br.: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V./Lambertus-Verlag.

Schulz, Birgit (2014): Die Sozialdienstleisterin im Quartier – Widerspruch oder Chance? In: Nordmetall-Stiftung (Hrsg.): Wer organisiert das Soziale? URL: www.q-achtnet/überuns/downloads.php Zugriff am 16.01.2018.

Literatur zum Weiterlesen

Hinte, Wolfgang/Treeß, Helga (2014): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe, Weinheim/München: Juventa.

Kalter, Birgit/Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung der Universität Duisburg-Essen (ISSAB) (2017): Arbeitspapier und Bericht zur Qplus-Evaluation 2017, Essen. URL: http://www.q-acht.net/qplus/downloads/ Zugriff am 15.07.2018.

Oertel, Armin /Haubenreisser, Karen (2015): Q8 – Quartiere bewegen: Das sozialräumliche Engagement der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015. URL: https://www.sozialraum.de/q8-quartiere-bewegen.php Zugriff am 24.08.2019.

Qplus – Neue Unterstützungsformen im Quartier. Eine Publikation der Nordmetall-Stiftung. Hamburg 2018. URL: http://www.q-acht.net/qplus/downloads/ Zugriff am 15.07.2018.

Qplus – neue Unterstützungsformen im Quartier. Von der Sonderwelt in den Sozialraum. In: Teilhabe (57) 1/2018.

Stiefvater, Hanne/Haubenreisser, Karen/Oertel, Armin: Q8 initiiert Prozesse zur Verbesserung der Versorgungstrukturen im Quartier. In: Fehr, Rainer/Trojan, Alf (Hrsg.): Nachhaltige StadtGesundheit. Hamburg. Oekom, München, 267-273.


Fussnoten

[1] Zahlreiche anregende Gedanken für diesen Aufsatz lieferte das unveröffentlichte Konzept „Qplus –neue Unterstützungsstrukturen im Quartier“ (2014), von Birgit Schulz, ehemaliges Vorstandsmitglied der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und Initiatorin des Projekts Qplus.

[2] Das Projekt QplusAlter wird geleitet von Karen Haubenreisser, Leitung Q8 Sozialraumorientierung, und Marion Förster, Kommunikation und Strategische Entwicklung am Ev. Krankenhaus Alsterdorf. Ermöglicht wird die Umsetzung des Modellprojektes durch die Förderung der Skala-Initiative mit 1,2 Millionen Euro sowie in Partnerschaft mit der NORDMETALL-Stiftung, der Karin und Walter Blüchert Gedächtnisstiftung und der Homann-Stiftung.


Zitiervorschlag

Haubenreisser, Karen, Thomas Steinberg und Andrea Stonis (2019): Der Wille bewegt: Qplus in der Eingliederungshilfe. In: sozialraum.de (11) Ausgabe 1/2019. URL: https://www.sozialraum.de/der-wille-bewegt-qplus-in-der-eingliederungshilfe.php, Datum des Zugriffs: 25.04.2024