Tourismus im Sozialraum - Praxislernen im Stadttourismus als pädagogischer Ansatz im Projekt „Wir sind Kreuzberg!“

Katja Hermann

„Jugendliche sollten wissen, dass wir nicht kriminell sind. Sie haben Vorurteile gegenüber Kreuzberg und denken, dass die Jugendlichen keine Perspektive haben, wobei das nicht stimmt. Sie sollten hierher kommen.“

(Teilnehmerin des Projektes „Wir sind Kreuzberg!“)

Kriminalität, Armut, Migranten, Ghetto – das sind die einen Bilder, die vielfach mit Kreuzberg verbunden werden. Doch es gibt auch die anderen Bilder – und sie sind es, die zunehmend das Image des Stadtteils[1] kennzeichnen: Kreuzberg, der in Bezug auf die Altersstruktur seiner Bevölkerung jüngste Stadtteil der Hauptstadt, der mit dem höchsten Zuzug von Künstlern und Designern, einer Vielzahl an Nationalitäten, Kulturen und Sprachen, einer hohen Dichte an historischen und modernen Sehenswürdigkeiten sowie einer boomenden touristischen Infrastruktur. Jung, kreativ, vielfältig, aufregend – so lässt sich die „Stadtteilmarke“ zusammenfassen, die auch in öffentlichkeitswirksamen Darstellungen des Stadtteils – so beispielsweise auf der Tourismus-Seite von Friedrichshain-Kreuzberg - reproduziert wird.

In dem vorliegenden Beitrag stellen wir das Projekt „Wir sind Kreuzberg!“ vor, in dem Kreuzberger Schülerinnen und Schüler Stadttouren durch ihren Stadtteil entwickeln und diese Touren Besuchergruppen anbieten. Während die Gäste auf den Touren ungewohnte Einblicke in den Stadtteil erhalten, stärken die Jugendlichen durch die Entwicklung und Durchführung der Stadttouren ihre Schlüsselqualifikationen sowie ihre ausbildungs- und berufsrelevanten Kompetenzen. Der Text geht der Frage nach, wie das Projekt den Sozialraum Kreuzberg, und insbesondere den dort verankerten Wirtschaftssektor Stadttourismus zur Stärkung und Qualifizierung der Jugendlichen erschließt und nutzt. Dabei verstehen wir den Begriff „Sozialraum“ im Rückgriff auf ethnographische Perspektiven weniger als einen klar definierten geographischen Raum, sondern als „Bezeichnung für ein bestimmtes Gebiet oder Quartier,[…] welches aus der Innenperspektive der Bewohner bestimmte Gemeinsamkeiten aufweist, die unter bestimmten Umständen zu einer Situationsdefinition des „Wir“ führen können.“(Schumann 2004, S. 323). Mit Blick auf den „Sozialraum Kreuzberg“, der uns im vorliegenden Text interessiert, bedeutet dies, dass wir uns vor allem auf „räumlich bezogene und erfahrene Kontexte sozialen Handelns“ (Böhnisch/Schroer 2010, 1) der Jugendlichen beziehen, die - zumeist kleinräumiger als Stadtteile - in Gebieten und Kiezen des Stadtteils organisiert sind. Damit knüpfen wir an die lebensweltlichen Erfahrungen und Kenntnisse der Jugendlichen an und verstehen sie als Expertinnen und Experten ihres Kiezes.

In einem ersten Schritt werden wir zunächst den Sozialraum Kreuzberg mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen skizzieren. In einem nächsten Schritt stellen wir die Strukturen und Inhalte des Projektes „Wir sind Kreuzberg!“ dar. Anschließend widmen wir uns den Ergebnissen der bisherigen Projektarbeit. Dabei fragen wir, welche Bildungseffekte bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Projektes stattgefunden haben und reflektieren diese unter besonderer Berücksichtigung sozialräumlicher Aspekte. Wie wirkt sich das Arbeiten im Sozialraum auf die Schülerinnen und Schüler aus? Wo liegen die komparativen Stärken dieses Ansatzes? Welche spezifischen Bildungseffekte entstehen dabei nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer?

Fotos vom Projekt Wir sind Kreuzberg

1. Der Sozialraum Kreuzberg unter besonderer Berücksichtigung des Wrangelkiezes 

Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, der seit der Verwaltungsreform im Jahr 2001 die Ortsteile Friedrichshain und Kreuzberg verbindet, gehört zu den beliebtesten Stadtteilen Berlins, Tendenz steigend. Dies zeigt sich unter anderem an der positiven Zuzugsrate: Seit rund zehn Jahren ziehen kontinuierlich mehr Menschen in den Bezirk zu als Menschen ihn verlassen. Die allermeisten Bewohnerinnen und Bewohner nehmen ihren Stadtteil positiv wahr, auf der einen Seite schätzen sie seine Vielfalt, Lebendigkeit und das tolerante Miteinander unterschiedlicher Menschen, Kulturen und Lebensentwürfe, auf der anderen Seite genießen sie die vielen Grünflächen und Freizeitmöglichkeiten. Während der Ortsteil Kreuzberg seit Jahrzehnten Migrantinnen und Migranten, Studierende sowie diejenigen Menschen angezogen hat, die sich nach einer alternativen Lebensgestaltung sehnten, boomt dort mittlerweile die Kreativwirtschaft rund um Medien und Mode. Seit der Ansiedlung größerer Unternehmen und dem zunehmenden Szenefaktor befindet sich Kreuzberg in einem tief greifenden Strukturwandel, gekennzeichnet durch rasant steigende Mieten, eine hohe Fluktuation der Bewohnerschaft sowie ein sehr hohes Besucheraufkommen. Die Zahl der registrierten Übernachtungen lag im Jahr 2009 bei rund 2,4 Millionen und hat sich damit in den letzten Jahren verdreifacht.[2] Immer mehr einfache Hotels und Hostels eröffnen. Allein in den vergangenen fünf Jahren stieg ihre Zahl von 30 auf 50 Häuser an. Nicht eingerechnet sind bei diesen Zahlen die vielen Gäste, die während ihres Aufenthaltes in Kreuzberg in einer der mittlerweile zahlreich vorhandenen Ferienwohnungen im Stadtteil unterkommen. Angesichts dieser Entwicklungen nimmt bei den einkommensschwachen lokalen Bewohnergruppen Kreuzbergs, die mehrheitlich nicht an der ökonomischen Auswertung des Stadtteils teilnehmen, die Angst vor Verdrängung zu. Viele Menschen haben den Stadtteil aufgrund der hohen Mieten bereits verlassen. Auch viele der am Projekt teilnehmenden Jugendlichen und ihre Familien sind von dieser Situation betroffen und bangen um ihre Zukunft in Kreuzberg.

Ein Gebiet in Kreuzberg, das von der Dichotomie des Stadtteils zwischen trendigem In-Kiez auf der einen und den Problematiken eines „Stadtteils mit besonderem Entwicklungsbedarf“[3] auf der anderen Seite besonders geprägt ist, ist der Wrangelkiez zwischen Spree im Norden, Landwehrkanal im Osten und der Görlitzer Straße im Süden, also auf dem an Friedrichshain angrenzenden Gebiet des alten Postbezirks SO 36. Hier ist das Projekt „Wir sind Kreuzberg!“ angesiedelt. Die Veränderung des Gebiets ist augenscheinlich: Mit der Ansiedlung zahlreicher Gewerbebetriebe – vor allem in der Kreativwirtschaft und in der Gastronomie – dem Zuzug gut qualifizierter Menschen und der beinahe magnetischen Anziehungskraft des Gebiets auf überwiegend jüngere Touristinnen und Touristen, hat sich der Wrangelkiez in den letzten zehn Jahren deutlich verändert. Dass diese Entwicklung – die je nach Sichtweise als „Aufwertung“ oder als „Gentrifizierung“ beschrieben wird - weitgehend unter Ausschluss der lokalen Bevölkerung stattgefunden hat und weiterhin stattfindet, erklärt das vor Ort eingerichtete Quartiersmanagement Wrangelkiez folgendermaßen:

„Die Veränderungen im Wirtschaftsleben haben aber kaum Auswirkungen auf die Beschäftigungsmöglichkeiten der lokalen Bevölkerung. Dabei spielt das Ausbildungsniveau, insbesondere der jüngeren Generation, ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass die neuen Betriebe [im Gebiet] in der Regel keine zusätzlichen Arbeitsplätze bieten. Die Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit sowie weitergehend die mangelnde Ausbildungsfähigkeit von Jugendlichen aufgrund defizitärer sozialer Kompetenzen, allgemeiner Wissenslücken und mangelnder Sprachkompetenz ist weiterhin ein großes Problem.“ (Quartiersmanagement Wrangelkiez 2011, S. 5f.)

Mit Blick auf Kinder und Jugendliche im Wrangelkiez bedeutet dies konkret: Eine sehr hohe Kinderarmut – mehr als die Hälfte der unter 15-jährigen Bewohnerinnen und Bewohner bezieht Existenzsicherungsleistungen – hohe Schulabbruchraten und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit (7,4%). (Quartiersmanagement Wrangelkiez 2011, S. 3) Während diese Problematiken einerseits zu einer mehr oder minder kollektiven Stigmatisierung der lokalen Jugendlichen führen, erschweren sie andererseits in hohem Maße die Möglichkeiten der Jugendlichen zu gesellschaftlicher Teilhabe. Diese Aspekte verbinden sich zudem mit den im öffentlichen Diskurs ausgeprägten Formen ethnischer Diskriminierung, denen Jugendliche aus dem Wrangelkiez – also überwiegend Jugendliche mit Migrationshintergrund – ohnehin ausgesetzt sind, wie auch das Eingangszitat einer Projektteilnehmerin deutlich macht. Die Stärkung der Jugendlichen, die Verbesserung ihrer Ausbildungsfähigkeit und die Unterstützung beim Übergang von der Schule in den Beruf zählen deshalb zu den besonders dringlichen Herausforderungen der Bildungseinrichtungen vor Ort, um ihrem Auftrag, Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten, im Wrangelkiez gerecht zu werden. Im Handlungskonzept des Quartiersmanagements zur Entwicklungsplanung des Gebiets wird diesen Aufgaben entsprechend eine besondere Priorität eingeräumt. (vgl. insbes. Quartiersmanagement Wrangelkiez 2011, S. 29ff.)

2. Das Projekt „Wir sind Kreuzberg!“

An diesem Punkt setzt das Projekt „Wir sind Kreuzberg!“ an und greift beide Ausprägungen des Gebiets auf - seine Potenziale und seine Herausforderungen. Dabei nutzt es die Beliebtheit des Stadtteils, seine hohe touristische Anziehungskraft und das vermehrte Interesse von Touristinnen und Touristen nicht nur die klassischen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besuchen, sondern auch das Innenleben der Stadtteile kennen zu lernen und an Stadtteilspaziergängen teilzunehmen. Angesiedelt an zwei Sekundarschulen im Wrangelkiez wird „Wir sind Kreuzberg!“ im Rahmen des Schulunterrichts – in den Fächern DAZ (Deutsch als Zweitsprache) und Arbeitslehre – umgesetzt und ist damit verbindlicher Teil von Schule. In einem curricular ausgearbeiteten Training entwickeln Schülerinnen und Schüler der 8. bis 10. Klassen Stadttouren durch ihren Kiez und bieten diese Besuchergruppen an. Bei der Entwicklung der Touren beschäftigen sie sich mit ihrem Stadtteil, mit ihrer eigenen Geschichte, mit sich selbst. Sie tragen Informationen zu Orten zusammen, die ihnen gefallen oder die in ihrem Leben eine Rolle spielen. 2011 hat ein Team des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) eine „Wir sind Kreuzberg!“-Tour in einem Kurzfilm portraitiert.

Vorrangiges Ziel von „Wir sind Kreuzberg!“ ist es, die Ausbildungsreife der Jugendlichen zu verbessern und sie auf den - oftmals schwierigen - Übergang von der Schule in den Beruf vorzubereiten. Dazu soll das Projekt im Modul Stadttourismus die ausbildungs- und berufsrelevanten Qualifikationen der Teilnehmenden wie Recherche, Präsentation, Verfassen von Texten, Marketing und Teamarbeit stärken, die sie im Rahmen der Stadtführungen anhand von „echten“ Handlungs- und Sprachanlässen trainieren. Darüber hinaus zielt die Projektarbeit darauf ab, die Schlüsselqualifikationen der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Dazu gehören vor allem die Förderung von Kommunikationsfähigkeiten, insbesondere von Deutschkenntnissen sowie die Erweiterung des aktiven Sprachschatzes, die Stärkung von Selbstständigkeit, Eigeninitiative und Zeitmanagement. Zudem sollen die Jugendlichen sich und ihren Stadtteil als Ressource wahrnehmen lernen und die Potenziale des Stadttourismus für sich nutzbar machen.[4] Das Stadtführertraining wird durch eine vertiefte und praxisnahe Berufsorientierung vertieft. Die Eltern der Jugendlichen werden in das Projekt einbezogen, indem sie im Rahmen eines Elterngesprächskreises zu Themen rund um Ausbildung und Beruf informiert werden, um so besser darauf vorbereitet zu sein, ihren Kindern als Ansprechpartner bei der Berufsplanung zur Seite stehen zu können.

Fotos vom Projekt Wir sind Kreuzberg

Während das Projekt bis zu dieser Stelle auch an jedem anderen interessanten Ort der Stadt durchgeführt werden könnte, so ist es die Verortung von „Wir sind Kreuzberg!“ im Sozialraum der teilnehmenden Jugendlichen, über die besondere Wirkungen erzielt werden, die die oben genannten Projektziele ergänzen.

„Wir sind Kreuzberg!“ erschließt und nutzt den Sozialraum auf unterschiedliche Art und Weise. So bezieht sich seine sozialräumliche Orientierung zum einen auf die Projektkulisse, auf seine institutionelle Verortung an den Stadtteilschulen und auf seine Zielgruppen, die vor Ort – durch Schul- und/oder Wohnort - ihren Lebensmittelpunkt haben. Zudem ist das Projekt über verschiedene Vernetzungen und Kooperationen im Sozialraum verankert, hier ist insbesondere die Kooperation mit dem Quartiersmanagement Wrangelkiez und mit der Bildungsinitiative „Wrangelkiez macht Schule“ hervorzuheben. Damit werden eine gute Einbindung des Projektes in die Strukturen des Stadtteils gewährleistet sowie enge inhaltliche Abstimmungen und Planungen ermöglicht.

Neben der institutionellen Verortung nutzt „Wir sind Kreuzberg!“ den Sozialraum intensiv als Bildungsort. So wird das Trainingskonzept „Praxislernen im Stadttourismus“ größtenteils außerhalb der Schule durchgeführt, im öffentlichen Raum, auf der Straße, in den Einrichtungen des Kiezes, eben im Sozialraum der Jugendlichen. Dabei knüpfen wir an den lebensweltlichen Erfahrungen und Kenntnissen der Jugendlichen an. Wo verbringen sie ihre Freizeit? Welche kulturellen Einrichtungen kennen und nutzen sie? Welche Orte spielen in ihrem Alltag eine Rolle? Was sind ihre Lieblingsplätze? Aber auch: Was glauben sie, könnte Besucherinnen und Besucher in Kreuzberg besonders interessieren? Bei der Tourentwicklung nutzen (und erweitern) sie ihr Expertenwissen, das sich darauf gründet, dass sie den Kiez gut kennen und dass sie eine besondere Perspektive auf seine Entwicklung haben. Selbstverständlich gilt dies nicht für alle Jugendlichen gleichermaßen, einige sind neu hinzugezogen, andere leben in einem anderen Stadtbezirk und kommen nur zur Schule nach Kreuzberg, wieder andere nutzen die Einrichtungen des Stadtteils zu wenig, um sie wirklich gut zu kennen und um dieses Wissen weiterzugeben. Bei der Entwicklung der Touren im Sozialraum handelt es sich deshalb immer auch um Formen der Aneignung des Kiezes, um die Aneignung einer positiv geprägten Bezugnahme auf den Kiez, um Identifikation. Die Jugendlichen lernen im Miteinander und Voneinander der Gruppe, ein Prozess, der auch zur Bildung einer Gruppenidentität beiträgt. Sie lernen ihren Kiez besser kennen, entdecken Neues, werden selbst immer wieder überrascht. Sie wählen die Orte aus, aus denen sie Stationen für ihre Stadttour machen möchten, sie stellen die Route zusammen, sie entscheiden auch, wie viel von dem, was sie berichten, mit ihrer eigenen Lebenswelt zusammenhängt, obwohl es genau diese persönlichen Geschichten und Bezüge zum Stadtteil sind, die viele Gäste von der Stadttour erwarten.

Hier bewegt sich das Projekt in einem gewissen Spannungsfeld, das darauf beruht, dass es zum einen die Perspektiven und das Erleben der Jugendlichen ernst nimmt und in den Mittelpunkt stellt, zum anderen aber mit den Stadtführungen Dienstleistungsprodukte entwickelt, die sich (auch) an den Erwartungen und Wünschen der Gäste orientieren (müssen). Weitere Fragen drängen sich auf, wenn man auf die starke Sozialraum- und Lebensweltorientierung des Projektes schaut und dann feststellt, dass diese nicht notwendigerweise in jedem Vortrag der Jugendlichen auf der Stadttour zum Ausdruck kommen. Manchmal beschränken sich die Darstellungen der Stationen auf „Sachinformationen“, die keine Bezüge zu eigenen Erfahrungen der Jugendlichen aufweisen. Sozialraumbezug bedeutet im Projektzusammenhang nicht unbedingt, dass die Jugendlichen über ihre Lebenswelten berichten müssen. Die Gründe, warum einige Schülerinnen und Schüler sehr persönlich erzählen und andere dies gar nicht tun, sind unterschiedlich: Während die einen sich nicht vorstellen (können), dass ihre persönlichen Geschichten und Bezüge andere Menschen interessieren, möchten andere schlichtweg nicht über ihre persönlichen Dinge reden. Wir sind überzeugt, dass es wichtig ist, diese Aspekte mit den Schülerinnen und Schülern zu reflektieren, nehmen sie aber auch in ihrer Entscheidung, nicht über Persönliches zu berichten, ernst. Erst dadurch ist es wirklich möglich, dass sie die Stadtführerinnen und Stadtführer sind, die durch den Kiez führen - und nicht (wieder) die, die vorgeführt werden.

Die Touren enden meistens mit einem gemeinsamen kleinen Essen in einem Restaurant, und hier wird nicht selten ein Lokal ausgewählt, dass die Schülerinnen und Schüler auch gerne in ihrer Freizeit besuchen, hier ist der persönliche Bezug scheinbar einfach und beinahe wie selbstverständlich.

Methodisch wird das Projekt mit unterschiedlichen sozialräumlichen Ansätzen umgesetzt: Erkundungen im Gebiet, Bilderrallyes, Stadtspiele, Besuche bei interessanten Einrichtungen, Gespräche mit Gewerbetreibenden aus dem Tourismussektor, mit Touristinnen und Touristen, Interviews mit ortskundigen Bewohnerinnen und Bewohnern, mit Zeitzeugen. Der Förderung von Handlungsfähigkeit, Partizipation und Selbstwirksamkeit der Jugendlichen kommt bei allen Übungen ein besonderer Stellenwert zu.

Das Projekt, das in Trägerschaft von FiPP e.V. – Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis umgesetzt wird, hat neben den beiden Schulen – den Sekundarschulen Skalitzer Straße und Bergmannstraße (Filiale Borsig-Schule)- weitere Kooperationspartner, wie z.B. die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg (Jugendamt, Schulamt, Abt. Wirtschaftsförderung), das Quartiersmanagement Wrangelkiez, die Berufsberatung Agentur Mitte und den  Paritätischen Wohlfahrtsverband. „Wir sind Kreuzberg!“ läuft über einen Zeitraum von 3 Jahren (September 2009 bis August 2012) und wird gefördert im Rahmen des ESF-Bundesprogramms „Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)“.  

3. Ergebnisse der Projektarbeit

Die Bildungseffekte, die im Projekt „Wir sind Kreuzberg!“ auf der Ebene der fachlichen Qualifizierung am deutlichsten sichtbar werden, sind die Verbesserung der Kommunikations- und Präsentationsfähigkeiten der Jugendlichen.

3.1 Fachliche Qualifizierungen

a) Das Projekt trainiert die Kommunikationsfähigkeiten der Jugendlichen. Alle Jugendlichen betonen, dass sie durch die Projektarbeit vor allem ihre kommunikativen Fähigkeiten verbessert haben. Dazu zählt zum einen, dass sie nun besser mit anderen Leuten reden und auch frei vor einer Gruppe sprechen können. Ihre Unsicherheiten, die viele in diesem Zusammenhang erwähnen, sind weniger geworden oder haben sich ganz gelegt, wie ein Teilnehmer bestätigt:

„Wir können jetzt mit Leuten besser reden. Also am Anfang hab ich richtig gestottert, aber jetzt stottere ich nicht mehr so viel wie früher. Jetzt stottere ich noch ein bisschen. Jetzt nicht mehr so viel. Jetzt ist es weggegangen.“[5]

Es sind einerseits die stillen und schüchternen Schülerinnen und Schüler, die durch das Praxislernen im Stadttourismus gefördert werden und deren kommunikative Fähigkeiten weiter entwickelt werden, wie eine Lehrerin darstellt: 

„Deniz hat eigentlich fast nie ‚Pieps’ gesagt, ganz fleißig, auch, aber bloß nichts selber sagen müssen. Gut, er meldet sich schon und sagt dann irgendetwas, aber meistens so Sachen wie 3 x 3 ist 9. So, wenn die Sache sicher ist und nicht so improvisiert oder so. Und wie ich den gesehen habe, wie er bei der Betriebsbesichtigung im Hotel (…) die Gesprächsleitung gemacht, die Fragen gestellt hat und wie souverän der aufgetreten ist (…). Wo kann denn hier das Kind schlafen und so. Fragen, die nicht auf seinem Zettel standen. Und wie er sich dann ganz souverän sich für die Führung bedankt hat. Er wirkte überhaupt nicht schüchtern und nichts. Also ich dachte, der wächst über sich selber hinaus. Und wenn ich ihn dann in der 7. Klasse [noch] vor mir sehe so als Mäuschen und jetzt… Ich hab ihn dann ja auch gelobt. (…) Dann sage ich: „Du hast dich aber doll geändert…“ [Dann sagt er auch ganz selbstbewusst:] „Ja, ich weiß.“

Die Entwicklung, die die Lehrerin an ihrem Schüler beobachtet, wird von diesem – wie das Zitat zeigt - selbstbewusst geteilt. Es ist eine der wesentlichen Wirkungen der Projektarbeit, dass die Schülerinnen und Schüler ihre persönlichen (Weiter-) Entwicklungen selbst wahrnehmen und reflektieren:

"Eigentlich war ich früher so, dass ich nicht viel gesagt habe, nur „Guten Morgen“ oder so, einfach „hallo“ und so. Bei [dem Projekttrainer] habe ich dann gelernt, wie man mit Menschen so richtig redet. Ich hab mich mündlich auch gut verbessert. Früher war ich nur ein leiser Typ, jetzt bin ich anders geworden. Wir haben auch viel geredet und diskutiert.“

Der Jugendliche nimmt sein verändertes Kommunikationsverhalten sehr bewusst wahr und erläutert es an einem Beispiel:

„Es war auf dem Weg, das war in der Türkei. Da waren zwei Deutsche, die bei uns waren, die am Schwarzen Meer eine Tour gemacht haben und uns gefragt haben, wie sie irgendwas buchen können. Also, ich habe ihnen eine ganze Woche so geholfen, die haben bei uns geschlafen, wir haben zusammen gegessen und so.“

Neben der Stärkung der eher schüchternen Jugendlichen weisen die Lehrkräfte darauf hin, dass auch die selbstbewussten Jugendlichen, die gerne im Vordergrund stehen, durch die spezifische Aufgabenverteilung im Stadttourismus lernen, situationsangepasst zu agieren, also sich selbst zurückzunehmen, wenn ein anderer mit seiner Station an der Reihe ist. Diese Lernerfolge sind für die Gäste nicht immer sichtbar, manchmal werden deshalb die Schlichtheit des Vortrags, der fehlende Tiefgang oder das Ablesen des Textes von einer Karteikarte kritisiert. Erst die längere Begleitung der Jugendlichen zeigt, wie groß die Lernerfolge bei den allermeisten von ihnen sind. Es ist unserer Meinung nach ein besonderer Erfolg, wenn beispielsweise sehr schüchterne Schülerinnen und Schüler, die sich im Schulunterricht kaum mündlich beteiligen, bei der Stadtführung über eine Station berichten – selbst wenn sie dabei den Text von der Karteikarte ablesen.

b) Im Stadttourismus setzen sich die Jugendlichen mit ungewohnten Situationen auseinander und wachsen an neuen Herausforderungen. Beim Führen der Stadttour präsentiert jeder Schüler bzw. jede Schülerin eine Station. Die ersten Stadttouren sind bei allen Schülerinnen und Schülern mit dem Gefühl einer großen Unsicherheit verbunden. Rückblickend beschreiben die Jugendlichen diese Gefühle mit den Begriffen Scham, Angst und komisches Gefühl. Es ist zum einen die Unsicherheit, mit einer Personengruppe in Kontakt zu treten, die sie nicht kennen, zum anderen die Angst zu versagen, auf Fragen der Gäste nicht antworten zu können oder ausgelacht zu werden:

Frage:  „Wie erging es euch bei den Führungen?“

Schüler 1: „Wir haben uns voll geschämt.“

Frage: „Du hast dich geschämt?“

Schüler 1: „Alle! Jeder hatte Angst.“

Schüler 2: „Die erste Führung..., ich dachte es wird einfach und so. Wir standen einfach da und so. Danach kam die Gruppe. Die war riesig und da wollte ich nur wegrennen. Ich bin ins Haus rein gegangen und dann bin ich wieder raus.“

Frage: „Du bist tatsächlich erst einmal weggegangen und dann bist du wieder zurück gekommen?“

Schüler 2: „Ja, ich wollte da nicht mehr hin.“

Schüler 1: „Ja, war bei uns auch so.“

Schüler 2: „Ja, aber die Gruppe war aber nett und wir haben mit denen geredet und haben uns besser kennen gelernt, die haben uns viel erzählt von denen und das hab mit Spaß gemacht, aber am Anfang hatte ich schon Schiss.“ 

Frage: „Wovor genau hattest du Angst?

Schüler 2: „Man kann es nicht Angst nennen. Also, man hat Angst vor einer Demütigung oder so. Dass man so… Wie soll ich es erklären...?“

Schüler 3: „… ausgelacht wird.“

Schüler 2: „Ja, ausgelacht wird oder dass man voll redet und dann einfach nichts mehr sagen kann. Man kann nichts mehr sagen, man hat so ein komisches Gefühl.“

Frage: „Du hast es ja trotzdem gemacht, dass heißt du hast diese Angst, dieses komische Gefühlt besiegt und wie war das dann?“

Schüler 2: „Ich hab mich befreit gefühlt. Dass ich endlich fertig war.“

Schüler 1: „Du hast dich gefreut!“

Schüler 2: „Ja. Dass ich es gut gemacht habe. Dass ich es gut hingekriegt habe und mir nichts passiert ist und dass nichts Peinliches passiert ist und dass sie mich nicht ausgelacht haben.“

Frage: „Und wie war es dann bei der zweiten Führung?“

Schüler 1: „Da war die Aufregung noch riesiger. (…) Ich wollte wieder abhauen, bin dann aber geblieben und dann war es viel einfacher.“

Die Auseinandersetzung und die Bewältigung dieser unbekannten und ungewohnten Situation werden von den Jugendlichen als Erfolgserlebnis beschrieben, das ihr Selbstbewusstsein stärkt. Fast alle Schülerinnen und Schüler bestätigen, dass es ihnen im Projektverlauf immer leichter falle, vor Gruppen zu sprechen. Sie bezeichnen sich als „lockerer“, „sicherer“ und „selbstbewusster“ als zu Projektbeginn. Es ist insbesondere die Erfahrung, dass die Besucherinnen und Besucher der Stadttouren Interesse an den Jugendlichen zeigen, die sie motiviert und ihnen die Angst nimmt:

"Ja, also ich fühle mich sicherer. Ja, es macht mir jetzt nichts aus, wenn es fremde Leute sind. Weil ich gemerkt habe, die sind daran interessiert, was wir so machen. Früher haben wir immer gedacht, wen interessiert so ein Scheiß. Jetzt wirklich. Aber doch, man merkt, die Leute sind daran interessiert. Zum Beispiel auf dem Bunten Abend [der Schule], da habe ich ja gesungen und ich glaube, ohne dieses Projekt hätte ich mich nicht getraut.“

Das Interesse und die Wertschätzung, die die Schülerinnen und Schüler erfahren, erleben sie auch als eine Art persönliche Aufwertung. Das führt bei ihnen zu einem Motivationsschub, den sie außerhalb des Projektes auch auf andere Bereiche ihres Lebens – wie der Gesangsbeitrag auf dem Schulfest zeigt – übertragen.

c) Als Stadtführerin und Stadtführer werden die Jugendlichen von den Gästen als Experten wahrgenommen. Über diese Aufgabe und Rolle entwickeln sie ein positives Selbstbild. Die Jugendlichen trauen sich mehr zu, werden mutiger, machen neue Erfahrungen und haben dabei Erfolgserlebnisse. Eine Lehrerin berichtet:

„Also, ganz ganz deutlich sehe ich [diese Wirkung] bei Selma und bei Mehmet. Beides sehr stille Schüler (…) und dass die Selma eben schafft, was ich schon mal gesagt habe. Das war bei den Führungen besonders deutlich. Dass sie ihren Part wirklich gelernt und dann ohne Hilfe von Zetteln frei gesprochen hat und wir sie gelobt haben, das hat sie sehr aufgebaut. Zu sehen, dass sie das kann. Man muss den Hintergrund kennen. Sie war mal als I-Schülerin, also als lernbehindert eingestuft worden. [Sie] ist dann entwidmet worden, weil sie sehr fleißig und eine der besten Schülerinnen ist. Ich denke auch, dass sie überhaupt nicht lernbehindert ist, dass sie nur in einem Umfeld aufwächst, das sehr behütet, sie kaum rauskommt und auch sprachlich sehr in der deutschen Sprache zurück ist. Sie hat da sehr große Mankos. Und sonst vom Kopf her ist sie mindestens genauso schlau wie die anderen und dann ist sie eben auch sehr schüchtern. Und hat sich selber auch sehr wenig zugetraut. Vielleicht auch durch diese Klassifizierung als I- Kind [d.h. Integrationskind]. Und das sie das jetzt so schafft und sie vielleicht auch den MSA [d.h. Mittlerer Schulabschluss] schafft…  Ich finde auch so wie sie auftritt, sie ruht so in sich selber. Die lächelt immer freundlich und macht ihr Ding jetzt. Ich finde schon, dass das ne gute Entwicklung ist.“

Die Entwicklung eines positiven Selbstbildes ist laut einer Lehrkraft auch darauf zurückzuführen, dass die persönlichen Geschichten, die einige Schülerinnen und Schüler in ihre Vorträge zu den Stationen einbauen, auf großes Interesse und viel Beachtung bei den Gästegruppen stoßen:

„Also, die Schüler haben gemerkt, wenn sie etwas aus ihrem privaten Familienkreis erzählen, dass sie damit ankommen bei der Stadtteilführung, dass die Leute das interessiert, dass das dann überzeugender wird, weil man merkt, da spielt die eigene Lebenserfahrung mit hinein. Da denke ich z.B. an Gonca, die hat das in ihrem Vortrag drin gehabt, Sabriye hatte das auch in ihren Vortrag drin mit den Moscheen, da wird es dann überzeugend. Da sind die Schüler verwundert, ach damit kann ich Erfolg haben, das hätten die dann auch nicht gedacht, dass der Vortrag dadurch lebhafter wird.“

Die Anerkennung persönlicher Erfahrungen und die Wertschätzung ihrer eigenen sowie der familiären Bezüge ist eine Erfahrung, die Jugendliche in der Schule selten machen. Im Gegenteil, insbesondere der Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ist häufig von einer Problem- und Defizitorientierung gekennzeichnet, die wenig Raum für Wertschätzung lässt.

Fotos vom Projekt Wir sind Kreuzberg

Neben der Stärkung der fachlichen Fähigkeiten der Jugendlichen sowie ihrer Schlüsselqualifikationen ermöglicht die sozialräumliche Verortung des Projektes weitere Bildungseffekte. Es sind vor allem diese sozialraumbezogenen Ansätze und Aspekte von „Wir sind Kreuzberg!“, die mit Blick auf die Jugendlichen stärkende Merkmale tragen und Empowerment ermöglichen.

3.2 Bildungseffekte durch Sozialraumbezug

a) Die Projektarbeit fördert die Aneignung und positive Identifizierung der Jugendlichen mit ihrem Sozialraum. Bei der Entwicklung der Stadttour und in der dazu notwendigen Auseinandersetzung mit ihrem Kiez reflektieren die Jugendlichen intensiv die Potenziale des Gebiets, seine Geschichte(n), seine Besonderheiten und Prägungen und beschäftigen sich mit den Gründen für die große Anziehungskraft, die der Stadtteil auf Besucherinnen und Besucher ausübt. Zum Teil sind sie selbst überrascht über die Ressourcen, die Kreuzberg birgt, und eignen sich über ihre Tätigkeit im Projekt ihren Stadtteil (weiter) an:

„Ich hätte nicht gedacht, dass es so eine große Geschichte [in Kreuzberg] gibt. Das war auch der Grund, warum wir bei der Schulpräsentation für den Mittleren Schulabschluss Kreuzberg als Thema gewählt haben. D.h., dass ich [vorher] über Kreuzberg gar nichts wusste. Ja, und jetzt geht man mit einem anderen Bewusstsein durch die Straßen, man weiß jetzt, was früher war und was heute ist. Ich gehe jetzt mit einem offeneren Blick durch die Straßen.“

Das Interesse der Gäste an dem Kiez und an ihren Lebenswelten wird von den Jugendlichen positiv erlebt:

„Am Kotti [Kottbusser Tor], da gibt es viele Dönerläden und eine Bibliothek, da halte ich mich meistens auf. Wir sagen den Gästen, dass wir oft dort sind und dass wir nach der Schule zum Döner essen kommen. Die Gäste fanden das sehr interessant, deshalb wollten sie auch gerne dorthin gehen.“

Die über diesen Prozess hergestellte Aufwertung der Lebensräume und Lebenswelten der Jugendlichen wird von diesen deutlich wahrgenommen und bildet ein Gegengewicht zu den häufig diskriminierenden (Medien-) Darstellungen. Das Gefühl, ein Teil dieses nachgefragten Stadtteils zu sein, den viele Menschen kennen lernen möchten, ist ein Grund für das steigende Selbstbewusstsein, das die Jugendlichen während der Projektarbeit entwickeln.

b) Das Projekt ermöglicht die Partizipation der Jugendlichen als handelnde Akteure im Stadtteil. Die beschriebene positive Aneignung des Sozialraums wird durch das eigene Wirken als Stadtführerin bzw. Stadtführer weiter verstärkt. Die Jugendlichen führen die Gäste durch den Kiez, sie haben etwas zu zeigen, ihnen wird zugehört. Diese Situation befähigt die Jugendlichen, sich selbst in und zu ihrem Kiez zu positionieren, sie werden nicht „vorgeführt“, sondern sie sind es, die – quasi als Expertinnen und Experten - durch den Stadtteil führen. Dies gilt gerade auch für Jugendliche, die nach schulischen Kriterien als „leistungsschwach“ gelten. Auch bei ihnen kann eine Lernmotivation entstehen, die sich auf das individuelle „Expertenwissen“ hinsichtlich ihres Kiezes gründet. Im Alltag werden die Jugendlichen häufig zu „den Fremden“ gemacht, als Stadtführerinnen und Stadtführer agieren sie dagegen als „Einheimische“, die „den Fremden“ berichten. In Ansätzen erhalten die Jugendlichen so die Interpretations- und Deutungshoheit über sich und ihren Lebensraum (zurück).

c) Das Projekt gibt Raum für eine Begegnung zwischen Kreuzberger Jugendlichen und Jugendlichen (oder Erwachsenen) aus anderen Orten. Es bietet auch einen Raum für die Artikulation und Reflektion von Diskriminierungserfahrungen der Kreuzberger Jugendlichen. Für viele der am Projekt beteiligten Schülerinnen und Schüler ist es etwas sehr Besonderes, Jugendliche aus anderen Städten zu treffen. Sie haben wenig Kontakte und Beziehungen zu Jugendlichen außerhalb ihres Umfeldes und besonders selten zu deutschen Jugendlichen. Miteinander ins Gespräch zu kommen über Schule, Familie und Freizeit macht aus ihrer Sicht deshalb den besonderen Reiz der Stadtführungen aus und manchmal kommt es vor, dass die Jugendlichen im Anschluss an die Touren auch den weiteren Nachmittag miteinander verbringen:

„Mit einer Gruppe aus Köln waren wir nach einer Tour shoppen und wir haben uns sehr gut verstanden. Wir haben sie also besser kennen gelernt und auch E-Mailadressen ausgetauscht. Es war schön, Deutsche kennen zu lernen, da wir nicht so viele kennen.“

Bei den Begegnungen äußern die Gäste häufig Vorurteile gegenüber Kreuzberg, die sich nicht selten mit Vorurteilen bis hin zu offen rassistischen Äußerungen gegenüber seinen migrantisch geprägten Bewohnerinnen und Bewohnern vermischen. „Kreuzberg ist Ghetto, Kreuzberger Jugendliche sind kriminell!“ – so oder so ähnlich lassen sich die Bilder zusammenfassen, die viele Jugendliche im Kopf haben, wenn sie an einer Stadtführung von „Wir sind Kreuzberg!“ teilnehmen. Die gemeinsame Stadtführung bietet einen Rahmen, in dem diese Themen angesprochen werden können. So verletzend es ist, während eines Treffens mit diskriminierenden Haltungen konfrontiert zu werden, so sehr nutzen die Kreuzberger Jugendlichen die Situation, um ihre eigenen Erfahrungen und Sichtweisen zu artikulieren und sich gegen Vorurteile zu positionieren:

„Jugendliche sollten wissen, dass wir nicht kriminell sind. Sie haben Vorurteile gegenüber Kreuzberg und denken, dass die Jugendlichen keine Perspektive haben, wobei das nicht stimmt. Sie sollten hierher kommen.“

Die Auseinandersetzung mit Formen der Diskriminierung wird auch in anderen Projektmodulen aufgenommen und vertieft, z.B. im Rahmen der Berufsorientierung und in Anti-Bias-Trainings.

d) Im Rahmen der Projektarbeit lernen die Jugendlichen die wirtschaftlichen Ressourcen des Stadtteils kennen. Durch ihre Beschäftigung mit den unterschiedlichen Aspekten des Stadttourismus erhalten sie direkte Einblicke in unterschiedliche Berufe, sie kommen ins Gespräch mit Menschen aus dem Kiez, die hier als Unternehmerinnen und Unternehmer tätig sind, lernen Leute kennen, die ihre (Geschäfts-) Ideen in Kreuzberg umsetzen. Sie lernen die Nachfrage nach touristischen Dienstleistungen kennen und haben mit der Stadtführung selbst ein touristisches Produkt geschaffen. Sie können darüber nachdenken, sich in diesem Bereich weiter zu entwickeln und – etwa in Form einer Nebentätigkeit – als Stadtführerin bzw. Stadtführer zu arbeiten. Einige Jugendliche haben diese Möglichkeit aufgegriffen und werden zukünftig „kommerziell“ im Stadttourismus unterwegs sein. Auch wenn die allermeisten Teilnehmenden des Projektes ihre berufliche Zukunft nicht im Tourismussektor sehen, so haben sie doch entsprechende Ressourcen sowie die Möglichkeiten der ökonomischen Teilhabe vor Ort kennen gelernt. Auf welchem Gebiet sie diese Impulse einmal verankern werden, bleibt abzuwarten.

e) Die Verortung des Projektes im Sozialraum ermöglicht eine neue Beziehungsebene im Verhältnis zwischen Lehrenden und Schülerinnen bzw. Schülern. Die teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer lernen durch die Projektarbeit den Sozialraum ihrer Schülerinnen und Schüler besser kennen. Sie nehmen an der Entwicklung und Durchführung der Stadttouren teil und lernen dabei das Innenleben des Stadtteils kennen. Für einige ist dies die erste Begegnung mit Kreuzberg außerhalb des Schulgeländes, andere arbeiten seit vielen Jahren im Gebiet und haben sich intensiv mit seinen Geschichten und Lebenswelten auseinandergesetzt. Auch für sie gilt: Das Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler in ihrem Sozialraum, als Experten in ihrem Stadtteil, ist eine Erfahrung, die ihren Blick auf die Jugendlichen herausfordern und verändern kann. Der Perspektivwechsel, den die Lehrerinnen und Lehrer durch die Begleitung der Jugendlichen in deren Sozialraum durchführen, birgt viel Potenzial für die Entwicklung der Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern.

Fotos vom Projekt Wir sind Kreuzberg

4. Zum Weiterdenken

Eine Frage, die eng mit Aktivitäten im Tourismussektor verknüpft ist und die durch die Verortung touristischer Unternehmungen im Sozialraum noch deutlicher zu Tage tritt, ist die nach touristischen Präsentationen und Repräsentationen. Welche Bilder und Vorstellungen von Kreuzberg repräsentieren die jugendlichen Stadtführerinnen und Stadtführer? Welche Bilder und Vorstellungen von Kreuzberg haben die Gäste? Wie verändern sich die gegenseitigen Bilder durch die Stadtführungen? Inwieweit werden durch die Stadtführungen bestimmte Bilder stabilisiert? Wo tragen wir mit unserem Projekt vielleicht doch zur Reproduktion von Stereotypen bei? Diese und viele weitere Fragen beschäftigen uns im Projektalltag, sind Teil der Projektarbeit. Ihre Reflektion wird uns auch mit Blick auf das baldige Projektende weiter beschäftigen; es ist gut, sich die Zeit „zum Weiterdenken“ zu nehmen, das ist ein wichtiger Beitrag für einen gelungenen Projektabschluss.

Literatur

Böhnisch, Lothar/ Schröer, Wolfgang (2010): Soziale Räume im Lebenslauf . In: sozialraum.de, 1/2010. URL: http://www.sozialraum.de/soziale-raeume-im-lebenslauf.php, Datum des Zugriffs: 04.10.2011

Quartiersmanagement Wrangelkiez (2011): Integriertes Handlungs- und Entwicklungskonzept. Berlin. URL: http://www.quartiersmanagement-wrangelkiez.de/fileadmin/user_upload/pdf/2011/02_Feb/Wrangelkiez_IHK_2010_Netz.pdf

Schumann, Michael: Sozialraum und Biographie - Versuch einer pädagogischen. Standortbeschreibung. In: Neue Praxis, 34 (2004), S. 323.


Fussnoten

[1] Im offiziellen Berliner Verwaltungsjargon ist Kreuzberg ein Ortsteil des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Bis zur Verwaltungsreform im Jahr 2001 war es ein eigenständiger Bezirk. Wir benutzen die Begrifflichkeiten Orts- und Stadtteil in diesem Artikel synonym.

[2] Der Tourismus in Berlin boomt, die Stadt liegt 2010 nach London und Paris mit 21 Millionen Übernachtungen auf Platz 3 der beliebtesten Reiseziele in Europa. Bis 2020 werden 30 Millionen Übernachtungen erwartet.  

[3] Die Begrifflichkeit bezieht sich auf das Städtebauförderungsprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - Soziale Stadt“, das seit 1999 die Abwärtsentwicklung so genannter benachteiligter Stadtteile aufhalten soll.

[4] Das Projekt „Wir sind Kreuzberg!“ besteht aus drei Modulen. In dem vorliegenden Text konzentrieren wir uns auf das Modul 1 „Projektunterricht Stadttourismus“. Für Informationen zu Modul 2 „Vertiefte Berufsorientierung“ und Modul 3 „Elternzusammenarbeit“ siehe www.wirsindkreuzberg.de.

[5] Sofern nicht anders angemerkt, entstammen die Zitate Gesprächen mit den am Projekt beteiligten Jugendlichen und Lehrkräften. Alle Namen wurden verändert.


Zitiervorschlag

Hermann, Katja (2012): Tourismus im Sozialraum - Praxislernen im Stadttourismus als pädagogischer Ansatz im Projekt „Wir sind Kreuzberg!“. In: sozialraum.de (4) Ausgabe 1/2012. URL: https://www.sozialraum.de/tourismus-im-sozialraum.php, Datum des Zugriffs: 19.04.2024