Integrierte Immobilien- und Stadtteilentwicklung nach dem Initialkapital-Prinzip
Robert Ambrée
1. Gemeinwohl bauen für chancengerechte Stadtteile
Chancen sind in unserer Gesellschaft nicht gerecht verteilt. Ein bedeutender Anteil an Personen kann nicht oder nur eingeschränkt am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Faktoren wie das Geschlecht, die Herkunft, der Bildungsstand oder der Wohnort – oft in Kombination – beeinflussen die Teilhabemöglichkeiten und damit die Chancengerechtigkeit. Hier setzt das Leitbild der Montag Stiftungen an, in dem es heißt: „Unser Ziel ist eine Alltagswelt, die prinzipiell allen Menschen die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben eröffnet. Wir setzen uns dafür ein, dass die materiellen und immateriellen Güter der Gesellschaft möglichst vielen Menschen zugutekommen. Dabei orientieren wir uns an dem Ideal des eigenverantwortlich handelnden Bürgers in einer solidarischen Gesellschaft. Für uns gehören individuelle Freiheit und Verantwortung für das Gemeinwesen untrennbar zusammen, denn ohne Gemeinsinn droht die Freiheit im Konflikt vieler Einzelinteressen verloren zu gehen.“ Montag Stiftungen (o. D.)
Für die Montag Stiftung Urbane Räume, eine von vier operativen Montag Stiftungen, begründet sich daraus der Stiftungsauftrag, den urbanen Raum, den städtischen Raum, den Sozialraum als programmatischen Handlungsraum zu setzen. Als Handlungsprinzip hat die Stiftung das Initialkapital-Prinzip entwickelt, das seit 2014 an bisher sechs Standorten auf Stadtteilebene umgesetzt wird. Weitere potenzielle Projekte sind in Untersuchung.
2. Die Rendite ist das Gemeinwohl
Nach dem Initialkapital-Prinzips bauen wir Immobilien gemeinwohlorientiert um und eröffnen Chancen in Stadtteilen und Nachbarschaften, die in besonderem Maße sozialen und ökonomischen Herausforderungen gegenüberstehen. Das sind Sozialräume, in denen viele Menschen wenige Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe haben, Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren. Zum größten Teil handelt es sich bei den Stiftungsprojekten um Sanierungen von leerstehenden oder teilgenutzten Bestandsimmobilien, denen aufgrund ihres Standorts oder ihrer Geschichte eine Schlüsselrolle im Stadtteil zukommt. Erbbaurechts- und Kaufverträge sichern die langfristige Tragfähigkeit der Projekte, wobei die Erbbaurechtsgeber:innen – in unseren bisherigen Projekten sind das Kommunen, Wohnungsbaugesellschaften und private Eigentümer:innen – auf die Erhebung des jährlichen Erbbauzinses verzichten.
Die Projektentwicklungen fußen nicht auf langfristigen Förderungen und Zuschusskonzepten. Vielmehr setzen wir am Anfang Initialkapital – Eigen- und Fremdkapital sowie, wenn passend, öffentliche Fördermittel – ein mit dem Ziel, durch selbsttragende und selbstorganisierte Projekte Chancengerechtigkeit und Teilhabemöglichkeiten für die Menschen im Stadtteil zu verbessern. Die Investitionen fließen in der Regel über einen Zeitraum von vier bis sechs Jahren – sowohl in die baulichen Maßnahmen als auch in kooperative und partizipative Prozesse der Planung, Gemeinschaftsbildung und Selbstermächtigung. Beteiligung und Zusammenarbeit sind für uns nicht nur „Beiwerk“, sondern integrale Bestandteile unserer Projekte. [1]
Durch die Vermietung der sanierten und umgebauten Gebäude erwirtschaftet jedes Initialkapital-Projekt Geld. Von diesen Einnahmen müssen die Immobilie verwaltet und instandgehalten, Kredite getilgt und Zinsen gezahlt werden. Alle Überschüsse kommen ausschließlich gemeinnützigen Aktivitäten und Maßnahmen vor Ort zugute. Zusätzlich stellt das Projekt einen Teil der Nutzflächen zum Selbstkostenpreis oder kostenfrei der Nachbarschaft zur Aneignung und Nutzung zur Verfügung. Das sind Räume der Teilhabe und des informellen Lernens, für Begegnung und Bewegung. Alles zusammen – Geld, Raum und Engagement – ist die Gemeinwohlrendite. Voraussetzung für eine dauerhafte Gemeinwohlrendite sind das im Projekt verbleibende Eigenkapital sowie der nicht erhobene Erbbauzins.
Für die Initialkapital-Projekte der Montag Stiftung Urbane Räume wurden fünf übergeordnete Ziele definiert, die die jeweiligen Projektverantwortlichen projektspezifisch ergänzen können:
- Rund um das Projekt existiert eine solidarische, inklusive Gemeinschaft.
- In der Gemeinschaft gibt es Personen, die Verantwortung übernehmen, um das Projekt stetig gemeinnützig weiterzuentwickeln und langfristig zu tragen.
- Alle im Stadtteil haben bessere Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, Bildung und Lebenszufriedenheit.
- Die Projektimmobilie ist durch eine hohe ästhetische und funktionale Qualität ein belebter und identitätsstiftender Ort im Stadtteil.
- Das Projekt trägt sich selbst und stellt Geld und Raum für bürgerschaftliches und zivilgesellschaftliches Engagement zur Verfügung.
3. Einblicke: Jedes Projekt ist einzigartig
Wir verstehen uns als lernende Organisation und die Initialkapital-Projekte als Reallabore auf Stadtteilebene. In über zehn Jahren gemeinwohlorientierter Projektentwicklungen haben wir einen großen Erfahrungsschatz gesammelt, der uns in unserem Handeln bestärkt und gleichsam Demut lehrt. Der Austausch und Wissenstransfer zwischen Stiftung und Projekten sowie der Projekte untereinander zeigt wiederkehrende Fragestellungen, gut oder weniger gut funktionierende Methoden der Beteiligung, vergleichbare Lösungsansätze. Doch jedes Projekt ist einzigartig. Das mag banal klingen, ist es in der operativen Projektarbeit aber nicht. Denn es bedeutet, auf Routinen, eingespielte Prozesse und Best-Practice-Beispiele zurückgreifen zu können, sich aber nicht darauf zu verlassen beziehungsweise zu beschränken. Ein Initialkapital-Projekt ist keine Kopie eines Vorgänger-Projekts, sondern stets ein eigener Kosmos einer besonderen sozialräumlichen Konstellation mit besonderen Menschen.
3.1 Eine leerstehende Textilfabrik wird zum Stadtteilcampus
Eines der bisher sechs nach dem Initialkapital-Prinzip entwickelten Projekten ist der BOB CAMPUS in Wuppertal-Oberbarmen. Auf dem Gelände einer ehemaligen, 2012 aufgegebenen Textilfabrik entstand zwischen 2017 und 2023 der BOB CAMPUS. Dieser neue Stadtteilcampus beherbergt viele Nutzungen: eine Kita, Fachräume für Kunst, Technik und Textiles Gestalten der benachbarten Realschule, Räume für den Offenen Ganztag der nahegelegenen Grundschule, Büro- und Gewerbeeinheiten, eine nutzungsoffene Nachbarschaftsetage, eine Stadtteilbibliothek, elf Wohnungen in zwei Wohnhäusern sowie ein Nachbarschaftspark mit Terrassen zum gemeinschaftlichen Gärtnern. Architektur und Nutzungskonzept schaffen Offenheit und setzen bewusst auf das temporäre Teilen von Räumen und Ausstattungen. Damit eröffnen sie Möglichkeiten für Begegnung, Austausch und Zusammenarbeit verschiedener Nutzer:innen.
Abbildung 1: Der BOB CAMPUS und Umgebung aus nordöstlicher Blickrichtung, diagonal verläuft die Nordbahntrasse (Quelle: Michel Wenzel, 2023)
Wer sind diese Nutzer:innen? Das Initialkapital-Prinzip hat einen klaren Quartiersbezug. Es wirkt im Stadtteil und möchte vor allem Menschen aus dem Stadtteil zu Mitwirkenden machen. Aus eigenen Erfahrungen, den Erfahrungsberichten anderer sowie aus wissenschaftlichen Studien wissen wir hinlänglich, dass Beteiligungsverfahren in der Stadt- und Stadtteilentwicklung in der Regel exklusiv sind und nur bestimmte Personen und Akteursgruppen erreichen. Für die Entwicklung des BOB CAMPUS hatten wir uns daher von Anfang an sehr bewusst dazu entschieden, in unseren Planungs-, Teilhabe- und gemeinschaftsbildenden Prozessen möglichst inklusiv zu sein und der Diversität der Menschen in Wuppertal-Oberbarmen gerecht zu werden.
Oberbarmen ist ein Stadtbezirk im Osten Wuppertals. Den großstädtisch geprägten, dicht bebauten Teil des Bezirks bilden die beiden Stadtteile Oberbarmen-Schwarzbach und Wichlinghausen-Süd, typische ehemalige Arbeiter:innenviertel mit zusammen circa 27.000 Einwohner:innen (vgl. Stadt Wuppertal 2024). Die Grenze zwischen den Stadtteilen bildet die Nordbahntrasse, eine ehemalige Bahnstrecke, die heute ein wichtiger Fuß- und Radweg für ganz Wuppertal ist. Zuwanderung und Diversität prägen seit Jahrzehnten die beiden Stadtteile. Die hier lebenden Menschen haben familiäre Wurzeln in über 100 Ländern: 72 Prozent der Bewohner:innen in Oberbarmen-Schwarzbach haben eine internationale Familiengeschichte, in Wichlinghausen-Süd sind es 58 Prozent (vgl. ebd.). Neben großen, seit Jahrzehnten bestehenden griechisch-, türkisch- und italienischstämmigen Gemeinschaften sind in den vergangenen Jahren vor allem Menschen aus Südosteuropa, viele von ihnen Rom:nja, und Syrien nach Oberbarmen gezogen. Zudem leben hier im städtischen Vergleich überdurchschnittlich viele Kinder und Jugendliche, was im Straßenbild deutlich sichtbar ist. Für viele Menschen gehören Armut, Erwerbslosigkeit, Ausgrenzung und Diskriminierung zum Alltag. Die Arbeitslosenquote liegt bei 12 Prozent, die SGB-II-Betroffenheitsquote bei etwas über 30 Prozent (vgl. Stadt Wuppertal 2023).
Um den Strukturwandel zu meistern und neue Perspektiven für den Wuppertaler Osten zu eröffnen, ist ein Großteil des Bezirks Oberbarmen seit 2012 Fördergebiet im Rahmen des Bund-Länder-Programms Soziale Stadt beziehungsweise Sozialer Zusammenhalt, mittlerweile in der dritten Förderphase. Bauliche, insbesondere freiraumplanerische Maßnahmen im Rahmen des Förderprogramms haben den öffentlichen Raum qualitativ und quantitativ verbessert – auch der Nachbarschaftspark des BOB CAMPUS wurde mit Mitteln der Städtebauförderung gebaut. Ausgehend vom Quartiersmanagement hat sich zudem ein breites Netzwerk verschiedenster lokaler Träger:innen gebildet beziehungsweise erweitert. Doch auch hier zeigt sich das oben genannte Phänomen: Vor allem professionelle Akteur:innen und einige „Beteiligungsprofis“ beteiligen sich, kommen zu den Stadtteilkonferenzen, bewerben sich um Gelder aus dem Verfügungsfonds.
3.2 In die Tiefe des Stadtteils eintauchen
Ist es überhaupt möglich, in die Tiefe eines Stadtteils dieser Größenordnung einzutauchen? Das heißt, die verschiedenen Communitys kennenzulernen, ein Verständnis für die sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten der Menschen zu entwickeln? Und wie kann es gelingen, daraus passende Angebote und Anlässe für Beteiligung und Mitbestimmung zu schaffen?
Wir haben gelernt, dass es wichtig dafür ist, sich der eigenen Rolle und gesellschaftlichen Stellung bewusst sein: Wir selbst kommen als solvente Stiftung von außen in Stadtteile, in denen viele Menschen über wenig finanzielle Ressourcen verfügen. Die kleinen Teams, die die Initialkapital-Projekte federführend vor Ort umsetzen [2], beziehen ein gesichertes Einkommen und bestehen überwiegend aus weißen Akademiker:innen. Sie sind bisher auch nicht so divers, wie die Stadtteile, in denen sie wirken (sollen). Diese Unterschiede können wir nicht unter den Teppich kehren, wir müssen offen damit umgehen.
Am Anfang der Projektentwicklung kommt es vor allem darauf an, zuzuhören. Der Einstieg erfolgt über Gespräche mit Menschen, die sich bereits vor Ort engagieren und – meistens beruflich – mit dem Stadtteil beschäftigen: Lehrer:innen, Kita-Betreiber:innen, Sozialarbeiter:innen, Vertreter:innen der Kommune – Multiplikator:innen. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass die Zusammenarbeit mit professionellen Träger:innen im gesamten Prozess wichtig und notwendig ist. Sie ist die Basis des Initialkapital-Prinzips. Das darf aber nicht dazu führen, die Bewohner:innen des Stadtteils und die eher informell Engagierten außer Acht zu lassen. Anders ausgedrückt: Es ist der einfachere Weg, sich im Netzwerk bestehender Einrichtungen einzurichten, sich regelmäßig darin auszutauschen, hier und da gemeinsame Kooperationsprojekte durchzuführen und gegenseitig die Veranstaltungen der Netzwerkpartner:innen zu besuchen.
Gerade dem Gemeinwohlmanagement in den Initialkapital-Projekten kommt indes die Aufgabe zu, auch und kontinuierlich Beziehungsarbeit außerhalb der etablierten Trägerstrukturen im Stadtteil zu leisten. Das erfordert entsprechende Zeitressourcen, eine bewusste Prioritätensetzung und das Verlassen der eigenen Komfortzone. Damit ist explizite wöchentliche Arbeitszeit gemeint, die für Beziehungsarbeit zur Verfügung steht, und die Gewissheit, dass der Aufbau von Vertrauen und Beziehungen eine andere Geschwindigkeit hat als die parallellaufenden Planungs- und Bauprozesse. Ebenso bedeutet es, gut abzuwägen, welche Netzwerkveranstaltungen, Runden Tische oder externen Besichtigungsanfragen im Sinne der Projektziele wirklich nötig sind. Und ob es nicht viel zielführender ist, sich gebührend Zeit für die interessierte Anwohnerin aus der Nachbarschaft zu nehmen oder noch einmal in das Café an der Hauptstraße zu gehen, um mit den Menschen dort ins Gespräch zu kommen, auch, wenn der Einstieg vielleicht schwerfällt.
Zwei Beispiele aus der Entwicklungszeit des BOB CAMPUS sollen nachfolgend veranschaulichen, wie wir unseren Anspruch einer inklusiven Beteiligung verfolgt und welche Erfahrungen wir dabei gesammelt haben.
3.3 Zwei Beispiele: BOB Botschafter:innen und BOB LAB
Im Rahmen der Planung des BOB CAMPUS, also der Transformation der ehemaligen Textilfabrik zu einem Stadtteilcampus, führten wir eine Reihe moderierter Planungsworkshops mit künftigen Mieter:innen, Nutzer:innen und Interessierten durch und informierten regelmäßig über die Planungsstände. Weitere Gelegenheiten zum Mitwirken an Planung und Bau sprachen andere Menschen an, zum Beispiel offene, ganztägige Planungstage ohne festes Programm und Moderation oder Gartenworkshops zum Anpflanzen und Bau von Hochbeeten.
Planung ist und bleibt abstrakt. Die Zukunft einer verlassenen, unwirtlichen Industrieanlage in fünf Jahren berührt den Lebensalltag der meisten Menschen im Stadtteil in der Gegenwart nicht. Gerade deshalb war es uns wichtig, breit zu vermitteln, welcher neue Möglichkeitsraum mitten in Oberbarmen entsteht. Wir wollten viele Menschen, Gruppen und Perspektiven aktiv in die Entwicklung des BOB CAMPUS einbeziehen. In einer frühen Phase der Projektentwicklung entstand daher die Idee der BOB Botschafter:innen. Die Fragen hinter der Idee lauteten: Wie erfahren möglichst viele Menschen aus dem Stadtteil, dass sie mitmachen und ihre Belange einbringen können? Und wie können die unterschiedlichen Bedürfnisse und das spezifische Wissen dieser Menschen in den Entwicklungsprozess einfließen? Die BOB Botschafter:innen sollten das Projekt in ihre jeweilige Community, ihren Familien- und Freundeskreis tragen und gleichzeitig Anregungen und Belange aus ihrem Umfeld in die Projektentwicklung einbringen. Neben den zeitlich terminierten Anlässen zur Partizipation in Planungswerkstätten und Mitbauworkshops sollten sie beständig dafür sorgen, dass ein wachsendes Bewusstsein für den BOB CAMPUS im Stadtteil entsteht. Wir wollten einen offenen und zugleich geschützten Raum schaffen, in dem die Mitwirkung vieler Menschen situativ, kultursensibel, bedürfnisorientiert und ungezwungen erfolgen kann. Dieser Raum wurde auch für uns ein Ort des Voneinander-Lernens.
Die ersten potenziellen Botschafter:innen fragten wir über bestehende Kontakte und Netzwerkpartner:innen an. Wir verzichteten bewusst auf feste Aufnahmekriterien, schließlich wollten wir viele Menschen erreichen. Wichtig war uns, dass die entstehende Gruppe möglichst viele Herkünfte, Altersgruppen und Interessen abbildete und BOB Botschafter:innen in der Mehrzahl in Oberbarmen lebten. Durch uns begleitet, trafen sich die Botschafter:innen regelmäßig in unserem Projektbüro, planten eigene Aktionen, um neue Botschafter:innen zu gewinnen und als Gruppe zusammenzuwachsen, und führten erste davon durch – zum Beispiel thematische Kulturabende oder die Teilnahme einiger am Bundeskongress der neuen deutschen organisationen (ndo) [3] unter dem Motto „We.Present Democracy“ in Berlin. So dynamisch die Gruppe im ersten Jahr 2019 gestartet und gewachsen ist – Anfang 2020 bestand sie aus rund 30 Interessierten, die Hälfte davon bildete den engeren Kreis der Aktiven –, so abrupt wurde sie durch die COVID-19-Pandemie ausgebremst. 2022, im Jahr der Inbetriebnahme des BOB CAMPUS, waren es noch zehn Botschafter:innen. Die Gruppe überstand zwar die Coronazeit, doch sie wurde nicht mehr größer, sondern kleiner.
Unabhängig von den absoluten Zahlen haben wir unser Ziel, den BOB CAMPUS über die Botschafter:innen im Stadtteil zu verankern, nur bedingt erreicht. Auch der empowermentorientierte Ansatz, den wir mit dem Projekt der BOB Botschafter:innen verfolgten, ist nur punktuell aufgegangen. Denn die verbliebenen zehn Mitglieder der Gruppe waren zur Hälfte erfahrene „Vereinsmenschen“, teilweise sogar in Vorsitz oder Geschäftsführung. In Bezug auf die Herkunft waren die Botschafter:innen zwar divers, von Armut betroffene Menschen zum Beispiel aber nicht dabei. Mit mehr eigener Beziehungsarbeit, so die Erkenntnis, hätten wir mehr Menschen aus noch mehr Bevölkerungsgruppen unmittelbarer erreicht. Dass sich Beziehungsarbeit auszahlt, hat uns der Botschafter:innen-Prozess selbst bewiesen. Einige Mitglieder der Gruppe sind heute wichtige Akteur:innen des BOB CAMPUS im Betrieb. Sie nutzen die Gemeinwohlflächen – Nachbarschaftsetage und Nachbarschaftspark – aktiv für eigene Angebote, Projekte und Initiativen, wie Lernförderung, Ferienkurse, Kochabende oder Kulturveranstaltungen. Es ist kein Zufall, dass arabischsprachige Frauen und französischsprachige, afrodiasporische Menschen zu den großen Nutzer:innengruppen auf dem Campus gehören. Dahinter steht einerseits das langjährige Engagement einer BOB Botschafterin respektive eines BOB Botschafters und andererseits die kontinuierliche Beziehungsarbeit, die wir aus der Projektgesellschaft heraus geleistet haben und leisten.
Waren die BOB Botschafter:innen als mehrjähriger Prozess angelegt, war das BOB LAB eine große, gebündelte Mitmach-Aktion im Herbst 2019: Vor Beginn des Umbaus luden wir die Menschen aus dem Stadtteil zu einer sechstägigen Werkstattwoche mit 20 offenen und entgeltfreien DIY-Workshops zu Themen wie Repair, Recycling, Nähen, Möbelbau, 3D-Druck, Programmierung oder Bewerbungscoaching in die leerstehende Fabrik ein. Das beauftragte Architekturbüro errichtete eigens für das BOB LAB provisorische Wände aus Paletten, um die geplante räumliche Unterteilung der künftigen Büroetage erfahrbar zu machen. In der späteren Nachbarschaftsetage kam eine von uns in Auftrag gegebene mobile Viertelsküche zum Einsatz: Zur Mittagszeit trafen sich dort alle an einer großen Tafel zum gemeinsamen Essen. Das BOB LAB bot den Teilnehmenden viel Raum zum Ausprobieren und Selbermachen und vermittelte eine Vorstellung davon, wie der Alltag auf dem Campus in Zukunft aussehen könnte. Es war Türöffner für die Wuppertaler Öffentlichkeit. Viele erfuhren während der Werkstattwoche zum ersten Mal, was mit dem Gelände passieren wird und dass sie Teil dieser Entwicklung sein können – darunter einige, die anschließend BOB Botschafter:innen wurden.
Abbildung 2: Lange Mittagstafel während des BOB LAB vor dem Umbau in der späteren Nachbarschaftsetage (Quelle: Simon Veith 2019)
Das BOB LAB zeigte Wirkung. Es erforderte aber auch viel Organisation und hatte seinen Preis: Honorare für Workshop-Leiter:innen und Architekt:innen, Kosten für Einrichtung, Material, Catering, Begleitprogramm und Kommunikation, nicht zuletzt die Personalressourcen im Team. Mit der Idee, über das BOB LAB das gesamte Projekt bekanntzumachen, ließen wir die Programmflyer in 15.000 Haushalten in den umliegenden Stadtteilen verteilen. Der Rücklauf fiel spärlich aus. Nur wenige Personen meldeten sich auf den Posteinwurf hin zu den Workshops an. Viele der Teilnehmer:innen an den ersten Tagen kamen über unser Netzwerk zum BOB LAB: Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Jugendzentrum und dem Berufskolleg, Beschäftigte aus Maßnahmen zur beruflichen Integration, Bekannte der Workshop-Leiter:innen. Zur zweiten Wochenhälfte änderte sich das Bild: Das BOB LAB sprach sich langsam im Umkreis herum. Es schien, als bräuchte es Zeit, die Hemmschwelle zu nehmen, um die verlassene, nur über einen kurzen, steilen Pfad zu erreichende Fabrik zu betreten. Abwechselnd standen wir unten an der Straße, um die vorbeilaufenden Menschen direkt anzusprechen und zum BOB LAB einzuladen. Street Promotion im besten Sinne.
Über die sechs Tage zählten wir rund 400 aktive Teilnehmer:innen. Nun lässt sich darüber diskutieren, ob Aufwand und Nutzen im Verhältnis stehen. War das BOB LAB zu groß angelegt? Oder hätte es sogar länger gehen müssen, um noch mehr Menschen aus der Nachbarschaft zu erreichen? Wäre ein kompakteres Format, das regelmäßig mit tragbarem Aufwand wiederholt werden kann, vielleicht der bessere Ansatz gewesen? Diese Fragen stellten wir uns im Nachgang. Sie berühren alle die zentrale Frage, die unsere partizipativen Prozesse in den Initialkapital-Projekten begleitet: Wie viel (punktuelle) Anlässe zum Beteiligen und Mitmachen sind sinnvoll und wie viel Zeit nehmen wir uns für kontinuierliche Beziehungsarbeit? Die Frage kann nur jedes Projekt für sich selbst abwägen und beantworten. Unsere Erfahrungen haben dazu geführt, dass wir der Beziehungsarbeit heute tendenziell mehr Bedeutung geben als zu den Anfängen des Initialkapital-Prinzips. Die Rolle der Projektgesellschaften, hierbei vor allem des Gemeinwohlmanagements, ist die einer Ermöglicherin, nicht einer Veranstalterin oder gar „Eventagentur“. Das gilt erst recht, wenn der Umbau abgeschlossen ist, die Projekte etabliert und im Betrieb sind und die Gemeinwohlflächen durch die Nachbarschaft und lokale Gruppen genutzt werden. Gemeinwohlmanagement bedeutet dann, Nutzer:innengruppen zu koordinieren, Nutzungsinteressen demokratisch auszuhandeln und offen zu bleiben für neue Nutzungsanfragen und Nutzer:innen. All das erfordert: Beziehungs- und Netzwerkarbeit.
4. Vom Stadtteilcampus zum lernenden Stadtteil?
Möglichkeitsraum, Dritter Ort, Bildungslandschaft, Stadtteilcampus – das sind von verschiedenen Personen verwendete Bezeichnungen für den BOB CAMPUS. In allen Begriffen steckt eine Kombination aus Lernen und Raum. [4] Der BOB CAMPUS ist ein Bildungs- und Lernort, nicht nur aufgrund der ansässigen Bildungseinrichtungen Kita, Schule, Ganztag und Bibliothek. Nachbarschaftsetage und Nachbarschaftspark sind Orte des informellen Lernens: Umgeben zu sein von Menschen in unterschiedlichen Abschnitten ihres Entwicklungs- und Bildungswegs sowie die offene Atmosphäre fördern den Austausch und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aktivitäten, Interessen, Lebenswegen und Lebensmodellen. In diesem nahezu unbewusst wahrgenommenen Angebot liegt eine große Chance für die Bildung einer diversen Gemeinschaft, die ganz selbstverständlich unterschiedliche Lebenskonzepte und Herkünfte der Menschen aus dem Stadtteil repräsentiert und sich dauerhaft für den sozialen Zusammenhalt engagiert.
Eingangs wurde der im Rahmen der Städtebauförderung aufgesetzte Verfügungsfonds erwähnt, den meist nur bestimmte, eher professionelle Akteur:innen in Anspruch nehmen. Diese Situation ändert sich aktuell. Das Wissen um den Verfügungsfonds hat die Nutzer:innen des BOB CAMPUS erreicht. Die Projektgesellschaft tritt bei Bedarf als Projektträgerin für Mittel aus dem Verfügungsfonds auf, um gemeinwohlorientierte Projekte auf Initiative der Nutzer:innen der Gemeinwohlflächen zu ermöglichen. [5] Zwischen Nutzer:innen, Quartiersmanagement und Projektgesellschaft ist ein neuer Kooperations- und Lernraum entstanden.
Abbildung 3: Mehrere Initiativen und Privatpersonen veranstalten gemeinsame Kochaktionen in der Nachbarschaftsetage, unterstützt mit Mitteln aus dem Verfügungsfonds (Quelle: Caroline Schreer, 2024)
Das ist nur ein kleines Beispiel, das zu einer Frage hinführt, die wir uns in der Montag Stiftung Urbane Räume stellen und künftig verstärkt untersuchen wollen: Welche Chance liegt in der Vernetzung informeller und formeller Strukturen für lebenslanges Lernen im Stadtteil? Dabei setzen wir an den Erfahrungen an, die wir mit dem BOB CAMPUS und den anderen Initialkapital-Projekten gemacht haben, die wir jeweils als einen von vielen Lernorten im Stadtteilgefüge begreifen. Wie werden aus den einzelnen Lernorten lernende Stadtteile mit mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit? Welche spezifischen Raumangebote, Kooperationen und Governance-Strukturen sind dafür nötig?
Können lernende Stadtteile die plurale und demokratische Gesellschaft schützen und stärken?
Literatur
Montag Stiftungen (o. J.): Unser Leitbild. www.montag-stiftungen.de/ueber-uns/leitbild (letzter Zugriff: 05.05.2025).
neue deutsche organisationen – das postmigrantische netzwerk e.V. (o. J.): https://neuedeutsche.org/ (letzter Zugriff: 05.05.2025).
Stadt Wuppertal (2023): Raumbezogene Daten – Ausführliche Auswertungen auf Quartiersebene. In: https://statistik.wuppertal.de/rbs_statistik/index.phtml?param=alles (letzter Zugriff: 05.05.2025).
Stadt Wuppertal (2024): Raumbezogene Daten – Ausführliche Auswertungen auf Quartiersebene. In: https://statistik.wuppertal.de/rbs_statistik/index.phtml?param=alles (letzter Zugriff: 05.05.2025).
Fußnoten
[1] Für jedes Initialkapital-Projekt gründen die Montag Stiftungen eine eigene gemeinnützige Projektgesellschaft, die das entsprechende Projekt umsetzt und die Immobilie betreibt.
[2] Je nach Projektgröße und Entwicklungsphase bestehen die Teams der Projektgesellschaften aus bis zu sechs Mitarbeiter:innen: Geschäftsführer:in, Office Manager:in, Projektentwickler:in, Gemeinwohlmanager:in, Hausmeister:in, Mietverwalter:in. Einige Projekte bieten auch die Möglichkeit an, einen Freiwilligendienst zu leisten.
[3] Die neuen deutschen organisationen (ndo) sind ein bundesweites, postmigrantisches Netzwerk aus rund 200 Initiativen und Organisationen, das sich aktiv gegen Rassismus und für ein inklusives Deutschland einsetzt (vgl. neue deutsche organisationen – das postmigrantische netzwerk e.V.).
[4] Wissen teilen: Die Erfahrungen und Erkenntnisse in der Entwicklung und im Betrieb des BOB CAMPUS veröffentlicht die Montag Stiftung Urbane Räume in zwei Büchern. Der erste Band Gemeinwohl bauen: BOB CAMPUS – Transformation einer stillgelegten Textilfabrik, erschienen 2023 im Jovis Verlag,widmet sich dem Bauprozess und den sich entwickelnden Raumqualitäten. Im zweiten Band, der voraussichtlich im Frühjahr 2026 erscheint, beleuchten 25 Autor:innen aus ihrer persönlichen Perspektive die sozialen und partizipativen Prozesse. Außerdem startet die Stiftung im Herbst 2025 die Web-Plattform Gemeinwohl bauen praktisch, die Erfahrungswissen, Methoden und Arbeitsmittel aus über zehn Jahren integrierter Immobilien- und Stadtteilentwicklung verfügbar macht.
[5] Vor allem für Initiativen von engagierten Privatpersonen, die nicht Teil einer gemeinnützigen Organisation sind, kann die Projektgesellschaft als Trägerin und formale Antragsstellerin für Mittel aus dem Verfügungsfonds dienen.
Zitiervorschlag
Ambrée, Robert (2025): Integrierte Immobilien- und Stadtteilentwicklung nach dem Initialkapital-Prinzip. In: sozialraum.de (16) Ausgabe 1/2025. URL: https://www.sozialraum.de/integrierte-immobilien-und-stadtteilentwicklung-nach-dem-initialkapital-prinzip.php, Datum des Zugriffs: 19.06.2025