Das Aneignungskonzept als Praxistheorie für die Soziale Arbeit

Ulrich Deinet

Der folgende Beitrag ist ein einführender Kurzbeitrag, der anlässlich des Erscheinens der umfangreicheren Online-Publikation „Vom Aneignungskonzept zur Activity Theory“[1] veröffentlicht wurde und deren Hauptargumentationslinien als Einstieg zusammenfasst.

1 Von der gegenständlichen Aneignung zum „Spacing“

Jugendliches Verhalten insbesondere im öffentlichen Raum kann mit dem Begriff der „Raumaneignung“ beschrieben werden und meint über die konkrete Inbesitznahme eines Ortes (etwas einer Parkbank) aber auch die sehr viel komplexere Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche sich handelnd die gegenständliche und symbolische Kultur erschließen und dass gegenständliche und geschaffene „Räume“ für die Entwicklung von Kindern, Jugendlichen eine wichtige Rolle spielen.

Mit dem Begriff der „Aneignung“ beziehe ich mich auf die sogenannte „Kulturhistorische Schule“ der sowjetischen Psychologie und deren kritische Rezeption in den 1970er Jahren. Mit dieser Herleitung reiht sich der Aneignungsbegriff in ein marxistisch-geprägtes Denk- und Gesellschaftsmodell ein (vgl. May 2004). Bei der historischen Einordnung des Konzepts spielen die Namen von Wygotzki, Leontjew oder Galperin eine große Rolle, sowie auch Klaus Holzkamp und seine Berliner KollegInnen, die für die kritische Rezeption im bundesdeutschen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre stehen.

Mit dem Begriff der „Raumaneignung“ haben wir versucht, eine Brücke zu bauen zwischen den handlungsorientierten Ansätzen (manchmal spricht man auch von Tätigkeitstheorie) der Kulturhistorischen Schule und den Lebensweltmodellen der sozial- ökologischen Ansätzen (Baacke, Bronfenbrenner, Zeiher) bis hin zu neueren raumsoziologischen Ansätzen (Kessl, Reutlinger).

Im Konzept der sozialräumlichen Aneignung, welcher auf die kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie zurück zu führen ist, wird die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt begriffen, die vordergründig in den Orten des informellen Lernens erfolgt (vgl. Deinet 2004, 178). Das Aneignungskonzept wurde in Deutschland in einem ersten Schritt von Holzkamp (1983) auf eine gesellschaftliche Ebene übertragen. Demnach vollzieht sich Entwicklung der Heranwachsenden in der eigentätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt durch die „Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur“ (Deinet 2004, 178). In einem zweiten Schritt kann der Gesellschaftsbezug des Aneignungskonzepts vor dem Hintergrund sozialökologischer Raummodelle auf die konkreten sozialräumlichen Strukturen übertragen werden. Dieser Schritt ist entscheidend, um den Zusammenhang von Raum und Aneignung für die sozialräumliche Entwicklung von Heranwachsenden untersuchen zu können. Die Ansätze der kulturhistorischen Schule der Psychologie werden international in der englischsprachigen Wissenschaftswelt und im europäischen Raum als „Cultural Activity Theory“ intensiver diskutiert als im deutschen Sprachraum.

Aus dem aktualisierten Aneignungskonzept lassen sich insgesamt fünf konkrete sozialräumliche Aneignungsdimensionen operationalisieren, um die sozialräumliche Entwicklung von Heranwachsenden als Wechselbeziehung zwischen Raum und Mensch untersuchen zu können (vgl. Derecik 2011: 70-75). Die Aneignung als Erweiterung motorischer Erfahrungen basiert dabei zunächst auf der grundlegenden Aneignung von Gegenstandsbedeutungen nach Leontjew (1973). Die nächsten drei Aneignungsdimensionen lassen sich anhand sozialökologischer Raumvorstellungen bestimmen (vgl. Deinet 1992; 1999), wobei Aneignung als Verknüpfung von Räumen die Schnittmenge zwischen den klassischen und den erweiterten Formen der Aneignung darstellt. Aneignung als Spacing ist schließlich den neuen Raumvorstellungen und damit dem neuen Raumbegriff von Löw (2001) zu verdanken. Alle fünf Aneignungsdimensionen basieren dabei auf der eigentätigen Auseinandersetzung der Heranwachsenden mit der Umwelt.

Aneignung als Erweiterung motorischer Fähigkeiten

Von Leontjews (1973) grundlegender Gegenstandsbedeutung ausgehend, kann Aneignung als Erweiterung motorischer Fähigkeiten als erste Aneignungsdimension betrachtet werden. Sie ist auf den Umgang mit Gegenständen, Werkzeugen, Materialien und Medien zurückzuführen, die Bestandteile der gegenständlichen und symbolischen Kultur sind und von Heranwachsenden über Tätigkeiten erschlossen werden müssen.

Aneignung als Erweiterung des Handlungsraums

Mit Bezug auf die sozialökologischen Raummodelle, die für die Entwicklung der Heranwachsenden zentral sind (vgl. Kap. 4.1.3 im Online-Text), definieren wir die sukzessive Erweiterung des Handlungsraums als eine dominante Tätigkeit von Heranwachsenden.

Aneignung als Veränderung von Situationen

Die eigentätige Veränderung von vorgefundenen Situationen stellt eine weitere wichtige dominante Aneignungstätigkeit von Kindern und Jugendlichen dar. In dieser Dimension der Aneignung geht es um die Umgestaltung einzelner Strukturelemente von Situationen, womit z. B. die Veränderung des Themas, des Umfeldes und des Handlungskontextes gemeint ist. Dies ist insofern bedeutend, als für Heranwachsende zugängliche und „von ihnen selbst gestaltbare Räume Quellen der Selbstwertschöpfung und Orte des Experimentierens mit sich selbst“ sind (Böhnisch 1999: 124).

Aneignung als Verknüpfung von Räumen

Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer Mediengesellschaft mit veränderten Kommunikationsformen bzw. in einer verinselten Lebenswelt auf, wodurch sie nicht nur unterschiedliche Raumvorstellungen entwickeln, sondern gleichzeitig auch die Fähigkeit erlernen, sich sozusagen in unterschiedlichen Räumen gleichzeitig aufzuhalten. Sie stellen Verbindungen her zwischen unterschiedlichen Räumen, etwa dem konkreten geographischen, an dem sie sich gerade befinden (dem durch Aneignung eine Sinnbedeutung gegeben wurde, sodass ein sozialer Raum entsteht) und den entfernteren Orten und sozialen Räumen, mit denen sie jederzeit kommunizieren können (über Handy oder PC) sowie virtuellen Räumen im Internet (Chatrooms), die z. T. auch als soziale Räume verstanden werden.

Aneignung als Spacing

Löw betont (2001: 231-246) die Bedeutung von „gegenkulturellen Räumen“ als notwendiges Erfordernis zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit von Heranwachsenden. Eine wesentliche Dimension von Aneignung kann demzufolge in der körperlichen Inszenierung und der Verortung in Nischen, Ecken und Bühnen ausgemacht werden. Diese Selbstinszenierungen bilden die fünfte Aneignungsdimension von Heranwachsenden und werden als Spacing bezeichnet. Spacing, also das eigentätige Schaffen von Räumen, ist nicht nur eine erweiterte Form der Aneignung, sondern ermöglicht es ebenso, „neu über bildungspolitische und pädagogische Aspekte der Kämpfe um Raum nachzudenken“ (Löw 2001: 245).

Mit dem Aneignungskonzept besonders dem Begriff der „Raumaneignung“ lässt sich eine Brücke bauen zwischen dem aktuellen Bildungsdiskurs und den Sozialräumen, in denen Menschen leben.

2 Das Aneignungskonzept in aktuellen Diskursen

Das Konzept der Raumaneignung kann hilfreich sein, um zu verstehen, wie aus einer handlungsorientierten Perspektive (d. h. auch einer relationalen Raumvorstellung) subjektive Prozesse der Umwelt-Mensch Auseinandersetzungen in der menschlichen Entwicklung stattfinden. Dies hat sich insbesondere als produktive Perspektive für die Beschreibung in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erwiesen auch in Ergänzung zu den klassischen entwicklungspsychologischen Theorien von Erikson und Piaget.

Das Aneignungskonzept ist auch geeignet und anschlussfähig an Positionen der Jugendhilfe, besonders der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zum aktuellen Bildungsdiskurs: Dieser ist ja oft sehr schulgeprägt besonders durch die gesellschaftliche Dominanz der formellen Bildung und ihrer Bedeutung für den weiteren Lebensweg von Kindern und Jugendlichen. Die Bedeutung informeller Bildungsprozesse („chaotisches“ oder „wildes“ Lernen an informellen Bildungsorten) lässt sich gewinnbringend durch eine Aneignungsperspektive aufschließen, indem das eigentätige Potenzial von Kinder und Jugendliche beschreibbar wird.

Besonders im aktuellen Bildungsdiskurs kann mit Hilfe des Aneignungskonzeptes der eigenständige Bildungsbegriff der Jugendhilfe akzentuiert werden. Auch wenn sicher mit dem Begriff „Raumaneignung“ noch kein eigenständiges Bildungskonzept entsteht, ist das Aneignungskonzept sehr gut anschlussfähig an die Paradigmen der Jugendhilfe z. B. in Bezug auf eine subjektorientierte Sichtweise auf Lernprozesse, aber auch auf Institutionen. Mit dem Aneignungskonzept und dem Paradigma der Raumaneignung kommt die Jugendhilfe aber aus einer einseitigen Schieflage in Bezug auf den eher formellen Bildungsbegriff der Schule heraus, weil sie sich auf andere Bereich als die Schule konzentriert, außerschulische Bildungsbereiche (so wie sie in Bildungslandschaften leider zu wenig thematisiert werden) im öffentlichen Raum, auf der Hinterbühne von Institutionen, in der Gleichaltrigengruppe, natürlich auch in den Bereichen der Jugendhilfe, etwa der Kinder- und Jugendarbeit.

Wenn informelle Bildung und non-formale Bildung als die Bildungsbereiche der Jugendhilfe beschrieben werden, reicht dies noch nicht aus, um die spezifische Qualität der Jugendhilfe als handelnde Sozialpädagogik zu beschreiben. Die Förderung der Aneignungstätigkeiten von Kindern und Jugendlichen, die Schaffung von Aneignungs- und Ermöglichungsräumen schafft eine inhaltliche Füllung für die Ziele und Funktionen der Jugendhilfe, so wie sie auch in den Strukturmaximen des Achten Kinder- und Jugendberichts beschrieben werden, an die das Aneignungskonzept an vielen Stellen anschlussfähig ist.

Mit dem Aneignungskonzept kann auch der Versuch gemacht werden, aus einer Subjektperspektive zu erklären und verstehen, was Kinder und Jugendliche im öffentlichen Raum tun, welche Qualitäten Orte und Räume aus ihrer Sicht haben. Das Einbringen dieser Subjektperspektive ist ein immanentes Merkmal der Kinder- und Jugendhilfe und ihre besondere Stärke. Sie kann damit auch ihre eigene Position deutlicher bestimmen und diese Sichtweise auch sehr fruchtbringend in die Kooperation mit anderen Bereichen, etwa der Schule, aber auch der Stadtentwicklung etc. einbringen.

Ich habe das Aneignungskonzept immer auch in einem direkten Zusammenhang mit einer sozialräumlichen Orientierung gesehen. Das Konzept einer sozialräumlichen Jugendarbeit (auf der von Lothar Böhnisch und Richard Münchmeier entwickelten Grundlagen) ist immer auch ein Aneignungskonzept, weil es nach den Aneignungsformen der Kinder und Jugendlichen in ihrer Umwelt fragt und weil es nach Möglichkeiten sucht, wie die Kinder- und Jugendarbeit die Aneignungstätigkeit von Kindern und Jugendlichen unterstützen, entwickeln usw. kann.

Mit Hilfe des Aneignungskonzeptes kann auch ein weiteres Problem sozialräumlicher Debatten überwunden werden: Eine starke Orientierung in der sozialräumlichen Diskussion dreht sich immer um Sozialraum als Planungsraum, um quantitative Daten, Sozialstrukturdaten, die Abgrenzung von Sozialräumen etc. So wichtig diese Seite des „Sozialräumlichen“ ist, so bedeutsam ist auch die individuelle Seite, d. h. das Erleben der Subjekte in ihren Sozialräumen etc. Im Hinblick auf Kinder und Jugendliche kann diese Seite des „Sozialräumlichen“ sehr gut mit dem Aneignungskonzept erklärt und bearbeitet werden. Sozialraum wird deshalb von mir immer in seinen beiden Dimensionen verstanden als Planungsraum, als sozialgeographischer Raum, aber auch als Aneignungs- und Lebensraum. Damit wird das Aneignungskonzept auch anschlussfähig an das Konzept der Lebenswelt, so wie es von Hans Thiersch u. a. begründet wurde.

3 Das Aneignungskonzept als Praxistheorie sozialräumlicher Jugendarbeit

Die Kinder- und Jugendarbeit kann ihren Bildungsbegriff sehr fruchtbar an das Aneignungskonzept anlegen und ihre gesellschaftliche Funktion gerade im Bereich des sozialen informellen Lernens entwickeln; sie hat in diesem Feld auch wesentliche Vorteile z. B. gegenüber der Schule.

Das Aneignungskonzept im Sinne der Subjektbildung im Raum passt sehr gut zum Konzept der informellen Bildung, das für die Jugendarbeit als typisch angesehen wird, etwa von Burkhard Müller: „Jugendarbeit sollte davon ausgehen, dass in ihrem elementaren Bereich Bildung vor allem ‚informelle Bildung´, d.h. Selbstbildung, ‚Selbstauffassungsarbeit´ von Jugendlichen ist. Nimmt man das ernst, so ist pädagogische Bildungsarbeit primäre Unterstützung von und Einmischung in solche Prozesse, weniger aber Vermittlung von noch so fortschrittlichen Bildungsgütern: Sie ist reflexive Begleitung jener ‚informellen Bildung, sie arrangiert auch Gelegenheiten dafür“ (Müller 2002: 17).

Die Aneignungsräume und Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind Ausgangspunkt der konzeptionellen Weiterentwicklung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA). Dabei geht es darum, mit einem ethnographischen, sozialräumlichen Blick in die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen „einzutauchen“, diese besser zu verstehen, zu interpretieren und daraus Rückschlüsse für die Konzeptentwicklung zu ziehen.

Im Fokus solcher Lebensweltanalysen gehören heute auch die „neuen Räume“ der Jugendlichen, d. h. besonders die virtuellen Räume wie soziale Netzwerke, aber auch die Ganztagsschule als „Lebensort“ (s. o.), so wie sich die Schule in den letzten Jahren in ganz Deutschland immer deutlicher von der Halbtags- zur Ganztagsschule entwickelt hat und deshalb für viele Kinder und Jugendliche den wichtigsten Ort außerhalb der Familie darstellt. Eine sozialräumliche Betrachtung, die auf der Grundlage des Aneignungskonzeptes geschieht, betont vor allem das jugendliche „Leben“ in diesen Räumen.

Im Zusammenhang der Entwicklung von Konzepten auf der Grundlage der sozialräumlichen Bedarfe in den unterschiedlichen Stadtteilen und Lebenswelten ist auch der Unterschied zwischen „Bedürfnissen“ und „Bedarfen“ bedeutsam: Sehr verbreitet in der Jugendarbeit sind Abfragen von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf ihre Wünsche, Erwartungen an die Kinder- und Jugendarbeit. Diese reproduzieren aber lediglich meist vorhandene Angebote oder Wünsche, die im Rahmen der OKJA oft nicht zu befriedigen sind. Verbreitet ist auch der Versuch, aus Bedürfnissen, z. B. verbal geäußerten Wünschen von Jugendlichen, direkt auf Bedarfe zu schließen.

Für die Entwicklung von Zielsetzungen – und im Anschluss daran von Angeboten – der Kinder- und Jugendarbeit ist es daher erforderlich, auf der Grundlage einer breiten Analyse Bedarfe zu interpretieren und dabei multiperspektivisch vorzugehen.

In der Entwicklung sozialräumlicher Analyse- und Beteiligungsmethoden spielt das Aneignungskonzept eine große Rolle. In zahlreichen der entwickelten Methoden geht es implizit immer um Aneignungsqualitäten, Aneignungsräume aus Sicht von Kindern und Jugendlichen, so wie sie etwa mit der Nadelmethode skizziert werden oder beim Cliquenporträt von den Jugendlichen über ihre gleichaltrigen Gruppen und ihre Szene- und Cliquenorientierungen erklärt werden.

Auf einem subjektorientierten Verständnis aufbauend, versucht eine sozialräumliche Lebensweltanalyse Einblicke in die unterschiedlichen Lebenswelten und Sozialräume von Kindern und Familien zu erhalten und Aneignungsmöglichkeiten und -einschränkungen zu analysieren. Qualitative Methoden einer Lebensweltanalyse ermöglichen die erforderlichen differenzierten Blickwinkel:

(vgl. Deinet/Krisch 2002, Deinet 2009, Krisch 2009).

Auf der Grundlage der heute fast überall zur Verfügung stehenden statistischen Materialien und sozialräumlicher Daten für die jeweiligen Stadtteile, Regionen etc., werden in einer Lebensweltanalyse qualitative Methoden aus dem Reservoir der empirischen Sozialforschung im Rahmen einer kleinen Feldforschung eingesetzt. Die Anwendung solcher Methoden soll helfen, Lebenswelten von Kindern besser zu erfassen und die in der Praxis immer noch vorhandene Einrichtungsbezogenheit zu überwinden. Diese Methoden lehnen sich zum Teil an qualitative ethnografische oder biografische Forschungsmethoden an und versuchen, diese für die Praxis der Jugendarbeit anwendbar zu machen.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch die Zielgruppe der Methoden: Über die Anwendung der Methoden mit den Besuchern einer Einrichtung hinaus (so wie sie im Rahmen der internen Qualitätsentwicklung von Einrichtungen durchaus üblich und sinnvoll ist) geht es um den Blick auf Nichtbesucher/innen, also Kinder und Jugendliche im Sozialraum, die die jeweiligen Einrichtungen gar nicht oder nur selten besuchen, so dass sich damit auch die Untersuchungsorte von der Jugendeinrichtung wegbewegen, z. B. in den öffentlichen Raum oder an den Ort Schule (s. u.). Auch wenn Jugendliche in den meisten Befragungen nach ihrer Nutzung der vorhandenen Jugendeinrichtungen explizit gefragt werden, geht es darüber hinaus meist um eine tiefere Einsicht in die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, ihre Freizeitgewohnheiten, die Nutzung unterschiedlicher Angebote etc. Auch wenn sich aus den Ergebnissen solcher Befragungen kaum direkte Rückschlüsse auf die konzeptionelle Weiterentwicklung der OKJA entnehmen lassen, bilden sie doch eine wichtige Grundlage, um die Situation von Jugendlichen in einem Sozialraum einzuschätzen, ihre Freizeitinteressen näher zu beleuchten und auch die Nutzung öffentlicher Räume und institutioneller Angebote in den Blick zu nehmen.

3.1 Förderung der Aneignungsprozesse von Kindern und Jugendlichen – Aufgabe einer sozialräumlich orientierten Jugendarbeit

Reutlinger und Wigger (Reutlinger/Wigger 2008) formulieren Dimensionen einer „Sozialraumarbeit“, die auch auf die Offene Jugendarbeit bezogen werden können. Im Sinne einer übergreifenden „Aneignungsförderung“ bestünde der normative Anspruch an die Kinder- und Jugendarbeit, in drei Ebenen („Gestaltung von Orten, Arbeit an Strukturen, Arbeit mit Menschen, Einzelnen und/oder Gruppen“ Reutlinger/Wigger 2008: 344) sozialräumlich aktiv gestaltend tätig zu sein. Christian Spatscheck „übersetzt“ diese drei Ebenen für die Kinder- und Jugendarbeit und spricht von „der Gestaltung von Strukturen…, der Gestaltung von Orten…und der Gestaltung durch pädagogische Arbeit“ (Spatscheck 2010: 11). In Anlehnung an diese drei Ebenen sehe ich folgende Herausforderungen für eine sozialräumlich orientierte Kinder- und Jugendarbeit:

Gestaltung von Aneignungsorten

Auf der Ebene der Gestaltung von Orten geht es zunächst um die Jugendarbeit selbst, d. h. die Gestaltung der Einrichtungen. In deren Gestaltung spiegeln sich auch die Strukturmerkmale und pädagogische Prinzipien der Offenen Arbeit wieder. Besonders der sogenannte „Offene Bereich“ einer Einrichtung (Eingangsbereich, Café, Spielbereich usw.) ist durch das Prinzip der „Freiwilligkeit“ gekennzeichnet, in dem sich Kinder und Jugendliche jederzeit aus der Einrichtung zurückziehen können. Der traditionelle Begriff für Jugendeinrichtungen als „Offene Tür“ versinnbildlicht diesen konzeptionellen Kern. Die offenen Bereiche bilden durch ihre freie Zugänglichkeit damit auch Teile des öffentlichen Raumes für Kinder und Jugendliche und bilden in den Einrichtungen einen Übergang zwischen der allgemeinen Öffentlichkeit und den spezifischen Räumen der Jugendarbeit (z. B. den Werkräumen oder den Räumen, in denen spezielle Projekte durchgeführt werden).

Aneignungsförderung als Arbeit im Sozialraum

In der Gestaltung der pädagogischen Arbeit verstehen sich sozialraumorientierte Jugendarbeiter/innen immer auch als Bestandteil ihres Sozialraumes und wirken über die Einrichtung hinaus. Dazu gehören heute etwa kontinuierliche Angebote außerhalb der Einrichtungen im öffentlichen Raum (etwa auf Spielplätzen, Schulhöfen etc.). Solche herausreichenden Angebote beziehen sich auf die Unterstützung von Aneignungsprozessen von Jugendlichen im öffentlichen Raum, die durchaus auch im Widerspruch zu den Interessen von Erwachsenen und anderen Zielgruppen stehen können. Die Übernahme mobiler Arbeitsformen schafft eine Präsenz im Sozialraum/Gemeinwesen. So können die entstehenden Konflikte z. B. in der Nutzung von Treffs im öffentlichen Raum durch unterschiedliche Zielgruppen auch dazu genutzt werden, aktivierende Methoden (etwa Befragungen, Begehungen, etc.) einzusetzen, um die unterschiedlichen Interessenlagen der einzelnen Zielgruppen deutlich zu machen – diese können dann in einem Mediationsprozess zwischen GWA und Jugendarbeit sowie anderen beteiligten Institutionen (z. B. Schule) bearbeitet werden.

Konflikte zwischen Jugendlichen und Erwachsenen oder zwischen rivalisierenden Gruppen deuten auf Tendenzen hin, die weit über die alleinige Verdrängung Jugendlicher aus dem öffentlichen Raum hinausgehen: Etwa grundsätzliche Veränderungen in der Stadtentwicklung. In vielen deutschen Großstädten lassen sich einander ähnliche Prozesse beobachten, die u. a. auf die zunehmende Privatisierung öffentlicher Räume, die nach ökonomischen Gesichtspunkten geführte Stadtplanung und die damit verbundene Verdrängung bestimmter Gruppen zurück geführt werden können.

Aneignungsförderung als jugendpolitisches Mandat der Jugendarbeit

Der Anspruch der Kinder- und Jugendarbeit sollte deutlich über die Arbeit in der Einrichtung hinaus gehen, um z. B. mit den Zielgruppen Räume im Stadtteil zu verteidigen oder zu schaffen, sich in Planungsprozesse, Freiraum-, Spielplatzgestaltung und Verkehrsgestaltung einzumischen und Kinder und Jugendliche direkt daran zu beteiligen. Dies hat den Aspekt einer lokalpolitisch aktivierenden Sozialraumarbeit, die auch versucht, die Menschen für ein Engagement in ihrem direkten Lebensumfeld zu motivieren. Dabei haben die Fachkräfte eine entscheidende Funktion und übernehmen oftmals die Rolle von Vorbildern oder zumindest Orientierungspersonen. Dazu gehört eine regelmäßige Präsenz, etwa durch Stadtteilbegehungen, Projekte im Umfeld der Jugendeinrichtung etc. Wichtig ist auch der Aufbau einer Lobby für die Interessen von Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit: Dafür haben die Fachkräfte das sozialräumliche Wissen, d. h. die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können als Experten für die Interessen von Kindern und Jugendlichen im Sozialraum auftreten, Politik und Verwaltung beraten, sich in Stadtteilkonferenzen und anderen Institutionen einmischen. Die Kooperation und Vernetzung mit anderen Institutionen hat hier keinen Selbstzweck, sondern das eindeutige Ziel, die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern.

4 Das Aneignungskonzept in der aktuellen Wissenschaftslandschaft

Im Gegensatz zu diesen klassischen Ansätzen wird das Aneignungskonzept in Deutschland heute leider nicht sehr intensiv rezipiert, insbesondere auch deshalb, weil die moderne Psychologie bis auf einige Ansätze in der Entwicklungspsychologie keinen Bezug mehr zu diesem Konzept herstellen kann. Mit der hier leitenden Aneignungsperspektive soll deshalb auch einen kleinen Beitrag geleistet werden, an der – an vielen Stellen verschwundenen – Tradition einer Forschung zum Verhältnis von Mensch-Umwelt anzuschließen und damit das Aneignungskonzept weiter zu entwickeln.

Das Aneignungskonzept im deutschsprachigen Raum hat keine wirkliche wissenschaftliche Heimat! Die Psychologie ist eigentlich die Mutter dieses Ansatzes sowohl in ihren historischen Vätern (Leontjew usw.) als auch in den sozial-räumlichen Übertragungen mit Hilfe der sozialökologischen Ansätze. Auch diese kommen aus der Psychologie, der Ökopsychologie, der Gemeindepsychologie, die heute kaum noch gelehrt oder erforscht werden. Insofern sitzt das Aneignungskonzept heute im deutschsprachigen Raum zwischen allen Stühlen, weil die fachwissenschaftliche Anbindung eigentlich fehlt. Die kritische Psychologie von Klaus Holzkamp wird nicht weiter verfolgt, auch die sozialökologischen Ansätze sind zwar einerseits weit verbreitet werden andererseits aber in der modernen Psychologie als einer empirischen Wissenschaft mit einer stark quantitativen Grundlage, die sehr stark individualpsychologisch vorgeht, nicht mehr intensiv verfolgt.

Aus Sicht der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit sowie der Jugendhilfe im engeren Sinne ist das Aneignungskonzept eigentlich sehr gut geeignet um sowohl das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in ihren unterschiedlichen Räumen und Lebenswelten zu verstehen, als auch in der Bildungsdebatte und darüber hinaus ihren eigenen Beitrag zu beschreiben. Kindern und Jugendlichen Aneignungsräume zu erschließen, Möglichkeitsräume herzustellen, für die Revitalisierung öffentlicher Räume sich einzusetzen, Aneignungsverhalten zu fördern entspricht weitgehend einem sozialpädagogischen Ansatz das Subjekt in den Mittelpunkt zu stellen und entsprechend zu fördern.

Es fehlt eine fachwissenschaftliche Anbindung des Aneignungskonzeptes sowie eine Anbindung an die englischsprachige Diskussion der Activity Theory. Mit der jetzt zugänglichen Veröffentlichung soll ein Beitrag geleistet werden, diese Lücke zu schließen und das Aneignungskonzept als Entwicklungs- und Bildungskonzept aus Sicht der sozialen Arbeit zu etablieren.

Literatur

Baacke, D. (1980): Der sozialökologische Ansatz zur Beschreibung und Erklärung des Verhaltens Jugendlicher. In: Deutsche Jugend, (28) 11/1980, S. 493-505

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Bronfenbrenner, U. (1989), Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Frankfurt a. M.

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Zeiher, H. (1983). Die vielen Räume der Kinder. Zum Wandel räumlicher Lebensbedingungen seit 1945. In: Preuss-Lausitz, U. (Hrsg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Weinheim: Beltz, S. 176-194.


Fussnote

[1] Ulrich Deinet (2014): Vom Aneignungskonzept zur Activity Theory. Transfer des tätigkeitsorientierten Aneignungskonzepts der kulturhistorischen Schule auf heutige Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Veröffentlicht bei: socialnet Materialien,  http://www.socialnet.de/materialien/197.php.


Zitiervorschlag

Deinet, Ulrich (2014): Das Aneignungskonzept als Praxistheorie für die Soziale Arbeit. In: sozialraum.de (6) Ausgabe 1/2014. URL: https://www.sozialraum.de/das-aneignungskonzept-als-praxistheorie-fuer-die-soziale-arbeit.php, Datum des Zugriffs: 24.04.2024