Politische Bildung in sozialräumlicher Perspektive

Lothar Böhnisch, Richard Krisch

Wenn wir im Folgenden dafür plädieren, dass sich die politische Jugendbildung mehr als bisher an sozialräumlichen Aneignungs- und Konfliktprozessen orientieren sollte, gehen wir von zwei Grundhypothesen aus: zum einen ist politische Bildung und ihr praktisches Konstrukt der politischen Beteiligung auch heute vorwiegend institutionell besetzt und läuft damit immer wieder Gefahr, Jugendlichen keine Zugänge zu bieten und sie ihnen gar zu verwehren. Zum zweiten erreichen solche Bildungsprozesse bestimmte Gruppen von Jugendlichen kaum oder schließen sie aus. Dies betrifft vor allem die von der politischen Bildung selbst so benannten „bildungsfernen Schichten", zu denen in der Regel sozial benachteiligte Jugendliche gehören. Gerade ihnen gegenüber - ist unsere These - kann sich die politische Jugendbildung im sozialräumlichen Zugang öffnen.

Den theoretischen Bezugsrahmen für diese Perspektive können wir über den Begriff der Jugendöffentlichkeit entwickeln. Unter Öffentlichkeit verstehen wir dabei soziologisch jene Sphäre zwischen Lebenswelt und gesellschaftlich-politischem System, in der Erfahrungen und Interessen sichtbar und thematisierbar werden (vgl. Böhnisch 2006). Dabei unterscheiden wir zwischen institutionellen, abstrakt-medialen und körperlich-räumlichen Öffentlichkeiten. Letztere können wir auch als Aneignungsöffentlichkeiten bezeichnen. Unser Augenmerk richtet sich in diesem Zusammenhang nicht so sehr auf die Jugendlichen, die in institutionelle Öffentlichkeiten aktiv eingebunden sind - z.B. in Verbands- und Schulöffentlichkeiten -, sondern vor allem auf jene, die immer wieder körperlich-räumlich öffentlich werden und dabei in Konfliktzonen geraten. Sie sind vor allem die Bezugsgruppe der offenen Jugendarbeit.

Dass Jugendliche eine eigene räumliche Öffentlichkeit suchen, lässt sich jugendtheoretisch aus der sozialräumlichen Aneignungsdynamik des Jugendalters erklären (vgl. Böhnisch/Münchmeier 1990, Deinet 2009, Krisch 2009). Jugendliche brauchen Räume, um sich spüren, erproben, auf sich aufmerksam machen, sichtbar werden zu können. Im Drang nach räumlicher Öffentlichkeit spiegelt sich die jugendtypische Spannung zwischen der Suche nach jugendkultureller Eigenständigkeit und der verdeckten Sehnsucht nach dem Erwachsenwerden wider. Aus ersterer entsteht Abwehr gegenüber der Erwachsenenwelt, aus der zweiten das Verlangen nach Anerkennung. Subkulturelle Raumaneignung und die Suche nach Anerkennungsräumen gehen bei Jugendlichen ineinander über. Für die Erwachsenenwelt provoziert das Konflikte. Damit - wenn wir den Konflikt und seine Austragung als Schlüsselthema des Politischen ansehen - zeigt die jugendkulturelle Suche nach räumlicher Öffentlichkeit ihre politische Seite.

Nun werden körperlich-räumliche Öffentlichkeiten nicht so sehr von einzelnen Jugendlichen, sondern in der Regel von Gruppen oder Cliquen gesucht. Auf die zentrale Bedeutung der Gleichaltrigengruppe im Jugendalter brauchen wir hier nicht weiter einzugehen. Wichtig ist an dieser Stelle die jugendsoziologische Erkenntnis, dass solche Gruppen eine eigene Dynamik entfalten, die sich vor allem räumlich abbildet (vgl. Krisch 2009). Peers suchen ihre Gruppenidentität über Räume, die sie besetzen, jugendkulturell einfärben, gegen andere abgrenzen wollen. Parks, Verkehrs-, Einkaufs- und Vergnügungszonen sind für Erwachsene in erster Linie Funktionsräume. Für Jugendliche aber stellen sie Aneignungsräume mit hohem Aufforderungscharakter, sie umzuwidmen, dar. Solche Funktionsräume sind aber meist so angelegt, dass sie nonkonformes bis abweichendes Verhalten ausgrenzen. Damit werden sie für Jugendliche zu Kontrollzonen, vor allem für solche, die auf diese Räume angewiesen sind, um sichtbar werden zu können. So kann sich eine doppelte Konfliktstruktur entwickeln, Aneignungs- und Kontrollkonflikte gehen ineinander über, laden sich gegenseitig auf. Statt zur politischen Auseinandersetzung kommt es dann aber oft zur Kriminalisierung, die dann die eigentlich politische Grundstruktur des Konflikts (vgl. Böhnisch/Schröer 2007) überdeckt.

Die Jugendarbeit versucht, dem über Raum- und Projektangebote entgegenzuwirken, in denen sie pädagogische Jugendöffentlichkeiten organisiert. Pädagogische Öffentlichkeiten sind institutionelle Öffentlichkeiten, die in räumliche Öffentlichkeiten vermittelnd und regulierend hineinwirken. Dabei gerät die Jugendarbeit immer wieder in die Spannung zwischen jugendkultureller Konfliktorientierung und ordnungspolitischen Befriedungszumutungen. Auch sie steht damit nicht außerhalb des jugendpolitischen Konflikts, sondern ist selbst darin verwickelt. Das stellt hohe Ansprüche an ihre politische Selbstreflexivität. Nur in dieser eigenen Auseinandersetzung kann sie zum Ort politischer Bildung werden. Dass sie - in der sozialräumlichen Konfliktperspektive - Ort politischer Bildung sein kann, wollen wir im folgenden von einigen Grundprinzipien moderner politischer Bildung her beleuchten.

1. Politische Bildung und Raum

Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Bezugsrahmens Jugend-Raum-Öffentlichkeit-Politik wollen wir nun unseren sozialräumlichen Ansatz mit dem der politischen Bildung verknüpfen:

Soziale Räume als Konflikträume

Lokale öffentliche Räume sind dadurch vielerorts für Jugendliche noch enger geworden. Die sozialräumlich inspirierte politische Jugendbildung richtet dabei eher weniger den sozialpädagogischen Blick auf die soziale Exklusion Jugendlicher, sondern auf die damit verbundenen Konflikt- und Ohnmachtserfahrungen und die Art und Weise, wie diese von den Jugendlichen bewältigt und in ihren Aneignungsversuchen politisch transformiert werden (Formen der Durchsetzung von Interessen, wobei Auffälligkeit bis hin zur Gewalt auch durchaus politisch interpretiert werden kann bzw. muss).

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangshypothesen ist es nun notwendig, sozialräumliche Prozesse und Dynamiken in Bezug auf ihren politischen Gehalt her zu beschreiben: zum Beispiel die Prozesse der Verhäuslichung, der Unsichtbarmachung und Verdeckung, der ordnungspolitischen Durchdringung des öffentlichen Raumes, des Konflikts zwischen räumlicher Befriedungspolitik und Entwicklungspolitik. Es wird deutlich, dass es nur Entwicklungspolitik für bestimmte Räume gibt, und zwar für solche, die dem Markt nahestehen. Nicht marktfähige Jugendliche, denen man potentiell Auffälligkeit zuschreibt, werden vor dem Hintergrund lokaler und regionaler Standortkonkurrenzen ausgegrenzt. Sie gelten als soziale Gruppe, die symbolisiert, dass sie nicht mithalten können, aber auch, dass die Gemeinden nicht in der Lage sind, sie zu integrieren. Dies kann dann - im Ranking der Standortkonkurrenzen - den betreffenden Städten als Beeinträchtigung ihrer Standortqualität ausgelegt werden. Deshalb gehört es zur geplanten oder ungeplanten Innovationspolitik von Gemeinden, die Sozialgruppen, denen ein negativer Standortwert zugemessen wird, räumlich auszugrenzen und sozial zu befrieden.

Wir beobachten einen Wandel sozialstaatlicher Politik von der sozialräumlichen Gestaltungspolitik zur räumlichen Ordnungs- und Sicherheitspolitik. Städte werden unter der Hand in entwicklungssensible und entwicklungsriskante Zonen eingeteilt. Bürgerliche Mittelschichten schotten sich räumlich ab. Die Sozialgruppen, die auf öffentliche Räume verwiesen und angewiesen sind - vor allem auch MigrantInnen - stehen von ihrer sozialen Lage her unter dem Zwang, Räume zu besetzen, weil sie sich Markträume nicht leisten können und in den lokalen Diskursen zur Funktionsbestimmung von Räumen kommunikativ nicht mithalten können. So sind es vor allem ihre Jugendlichen, die diese Benachteiligung durch riskante Aneignungsversuche sichtbar machen und dabei nicht selten in Kriminalisierungsfallen geraten. Denn da sie sich Mobilität kaum leisten können (weder Fahrscheine noch beim Schwarzfahren erwischt zu werden ist für sie bezahlbar), sind sie auf ganz bestimmte Orte verwiesen, die sie dann - unter Aneignungsdruck - territorial voll in Anspruch nehmen. Indem ihre Aneignungsakte immer wieder als Akte der Auffälligkeit interpretiert werden, entstehen neue Konflikte, in die sie gedrängt werden, ohne sie als solche begreifen zu können.

Solche Konfliktdynamiken müssen erst einmal thematisiert werden, bevor politische Bildung beginnt. Erst wenn man den Aneignungshintergrund solcher Auffälligkeiten kennt und sie nicht vorschnell als potentielle Gewaltbereitschaft deutet, findet man Zugang zu diesen Jugendlichen. Stadtplaner denken meist nur an funktionelle Gestaltungen, sehen aber oft nicht dabei, wie Jugendliche dabei entweder in die Unsichtbarkeit verdrängt werden oder wie sie auf verengte Räume zentriert werden, aus denen heraus zwangsläufig Auffälligkeit entstehen muss.
Auch für die Bevölkerung ist es in diesem Zusammenhang wichtig, dass sie erkennt, dass ausländische Jugendliche oft Räume besetzen, um einen Aneignungsraum zu haben und nicht, um Gewalträume zu schaffen. Die Wiener Erfahrung zeigt, dass, wenn gegenüber diesen Jugendlichen anerkannt wird, dass sie den Raum als Aneignungsraum brauchen, diese auch bereit sind, den Raum mit anderen Gruppen zu teilen, sich mit ihnen oder auch BewohnerInnen des Viertels zu verständigen.

2. Kampf um Räume

Je stärker Jugendliche sozial unter Druck sind, desto dringender suchen sie nach Räumen als Bewältigungszonen. In dem Maße aber, indem sie Räume über ihr jugendkulturelles Experimentieren hinaus als Bewältigungsräume gebrauchen - um sichtbar zu werden, auf sich aufmerksam zu machen und dadurch anerkannt und wirksam zu werden - wird die Raumaneignung brisant, bekommt sie den Charakter eines Kampfes um Räume. Der Übergang von Experimentierräumen in Bewältigungsräume ist oft fließend, gerade von Erwachsenen schwer zu unterscheiden. Vielleicht könnte man überlegen, ob der Unterschied darin besteht, dass Experimentierräume mehr nach innen in die Gruppe hinein und ihre Dynamik gerichtet sind, Bewältigungsräume mehr nach außen, auf das Sichtbarwerden - und damit in der Sicht der Bevölkerung - auffällig werden hin. Bevor wir also die Fragestellung der politischen Bildung aufnehmen können, inwieweit solche Aneignungsräume für die Jugendlichen auch Beteiligungs- und Teilhabespielräume in der kommunalen Landschaft sein können, müssen wir also erst fragen, wie und unter welchem Bewältigungsdruck solche Räume von Jugendlichen angeeignet werden und wie diese Aneignungsprozesse von der erwachsenen Bevölkerung und der lokalen Politik gedeutet werden.

3. Unterschiedliche Raumdeutungen

Erwachsene deuten Räume anders als Jugendliche. Mehr funktional nutzerorientiert, weniger aneignungsorientiert. Wiesen in Parks zum Beispiel bedeuten für Erwachsene Funktionszonen der Ruhe, für Jugendliche haben sie einen dynamischen Aufforderungscharakter des Experimentierens. Dabei fällt auf, dass die Raumaneignung Jugendlicher durchaus geschlechtsdifferent ist. Wir können sehr gut beobachten, dass Burschen vor allem über die Clique territorial agieren und Räume für sich abgrenzen, während Mädchen mehr mobile und kommunikative Raumaneignung über territoriale Begrenzung hinweg bevorzugen. Sie besetzen die Räume nicht so wie die Jungen, sonder konstituieren Begegnungs- und Beziehungsorte. Sie „scannen" Räume gleichsam nach Mobilität, Gefahr, Anerkennung.

Man darf das nicht gleich als Zurückweichen der Mädchen vor dem Durchsetzungsverhalten der Jungen interpretieren (vgl. Reinprecht/Krisch 2006). Sicher sind diese Formen der weiblichen Raummobilität und räumlichen Vernetzung von Orten auch eine Reaktion auf das territoriale Durchsetzungs- und Besetzungsverhalten von männlichen Jugendlichen. Weibliches Aneignungsverhalten ist aber durchaus eigenständig, auch wenn es auf den ersten Blick wie Reaktionsverhalten aussieht. Man muss es deshalb von der Seite sehen, dass Mädchen nicht auf das „Burgverhalten", wie es Jungen zeigen, angewiesen sind. Sie sind durch ihre räumliche Flexibilität konfliktfähiger. Hieraus ergibt sich schon ein wichtiger Ansatz für die politische Bildungsperspektive bei Mädchen: denn aus diesem Blickwinkel kann man nicht mehr sagen, die Mädchen hätten Defizite im räumlichen Aneignungsverhalten, sondern man kann diese raumbezogene Mobilität und Konfliktfähigkeit als Kompetenz sehen, die es weiter zu entwickeln gilt.

Nach der Differenzierung des jugendlichen Aneignungs- und Konfliktverhaltens im Raum muss als nächstes das sozialräumliche Konfliktverhältnis von Jugendkultur und erwachsener Bevölkerung in den Vordergrund rücken. Wir sind schon ausführlich darauf eingegangen, dass bei Erwachsenen ein funktionales räumliches Nutzungsverhalten im Gegensatz zum räumlichen Aneignungsverhalten von Jugendlichen zu beobachten ist. Hier ist also in der Grundstruktur der Aneignung und Nutzung schon ein Politikum im Sinne eines Grundkonfliktes angelegt. Für die politische Bildung ist es nun nicht nur wichtig zu untersuchen, wie sich dieser Konflikt entwickelt, sondern vor allem auch, wie er ausgetragen wird bzw. ob er überhaupt zur Austragung kommen kann. Denn immer weniger Erwachsene sind nach unserer Beobachtung bereit, diesen Konflikt auszutragen. Sie wenden sich meist nicht an die Jugendlichen, sondern an Jugendarbeiter oder Polizei und transformieren dabei die potentielle Konfliktkonstellation in eine aktuelle Kontrollkonstellation. So ist es nicht abwegig zu behaupten, dass es so gut wie keine sozialräumliche Konfliktkultur (mehr) gibt, dass es kaum Erwachsene gibt, die sich eine solche Konfliktkultur mit Jugendlichen vorstellen können. Sie nehmen meist die Äußerungen Jugendlicher nicht als Argumente sondern nur als Störungen wahr.

Wir müssen deshalb fragen, warum sich Erwachsene in der Regel nicht auf diese räumliche Konfliktkultur einlassen. Liegt es an der Aneignungssymbolik der Jugendlichen, die Erwachsene nicht mehr verstehen können, vor der sie vielleicht sogar Angst haben? In der alltagskommunikativen und medialen Öffentlichkeit werden laufend Bilder von Jugendlichen erzeugt, die manifest oder latent gewalttätig sind. Gleichzeitig wissen wir aus der Erfahrung in Wiener Projekten, dass dort, wo Erwachsene sich argumentativ mit Jugendlichen auseinandersetzen, diese durchaus darauf eingehen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass viele Erwachsene davor Angst haben, dass sie, wenn sie sich mit Jugendlichen konfrontieren, mit sich selbst konfrontiert werden. Wenn ich über den Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen „herziehe", meine ich damit nicht auch meinen Alkoholmissbrauch, meine Einsamkeit, meine Chancenlosigkeit, mein Losersein? Erwachsene spalten vieles auf Jugendliche über räumliche Kontrollinterventionen ab. Auch dieses ist ein Ansatzpunkt für eine sozialräumliche politische Jugendbildung, die eben nicht nur auf die Jugend fixiert ist und sie damit auch entlastet.

Die Thematisierung dieses strukturellen sozialräumlichen Konfliktes zwischen Jugendlichen und Erwachsenen zeigt uns aber auch, dass Jugendliche und Erwachsene keine gemeinsame Raumsprache haben, sondern sie erst finden müssen. Ohne gemeinsame Raumsprache kann es keine gemeinsame sozialräumliche Verständigung geben. Erwachsene erleben offene Räume anders als Jugendliche. Jugendliche gehen zum Beispiel anders durch die Nacht als Erwachsene, nicht die Gefahren, die lauern könnten, sondern die Möglichkeiten, die sich vielleicht bieten werden. Offene Räume sind für Erwachsene eher bedrohlich. Sie stehen daher eher unter dem Druck, offene Räume zu kontrollieren bzw. ihre Kontrolle oder gar Schließung zu verlangen.

Deshalb gehört es zu einem der wichtigsten Ziele räumlich inspirierter politischer Jugendbildung danach zu fragen und daran zu arbeiten, wie Jugendliche und Erwachsene in bestimmten Situationen und Konstellationen eine gemeinsame, d.h. aufeinander bezogene Raumsprache finden können. Diese konzeptionelle Perspektive richtet sich vor allem darauf, dass die institutionen- und medienöffentlich etikettierten "Problemkonstellationen"(Jugendliche machen Probleme) als Konfliktkonstellationen aufgezeigt und damit die Erwachsenen und die Institutionen zur thematischen (statt kontrollzentrierten) Stellungnahme aufgefordert werden.

Dies kann aber nur in einem tendenziell herrschaftsfreien Diskurs gelingen. Dazu ist aber auch notwendig, dass Erwachsene ihre Ängste gegenüber den Jugendlichen formulieren und sich nicht gleich an die Kontrollinstanzen wenden. Auf der anderen Seite müssen gerade auch für die Jugendlichen die Voraussetzungen einer gleichberechtigten Kommunikation geschaffen werden. So muss zum Beispiel in solchen Projekten dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Raumverhalten von Jugendlichen vor allem Gruppenverhalten ist. Gruppe und Raum konstituieren sich in einer dynamischen Wechselwirkung. Löst man einzelne Jugendliche aus der Gruppe heraus, sind sie in der Kommunikation eher hilflos. Man muss aber nicht nur Jugendliche in solchen konfligierenden Situationen als Gruppe auftreten lassen. Auch die Erwachsenen sollten für die Jugendlichen als Gruppe erkennbar sein, die Verbindlichkeit symbolisiert und nicht die Jugendlichen durch unterschiedliche Einzelstellungnahmen verwirrt.

4. Fazit

All diese Erfahrungen legen es nahe, Konfliktaustragung und Verständigung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen gruppenbezogen und in offenen Räumen zu organisieren. Projekte allerdings, die an Institutionen gebundener Verfahren haben, die dann naturgemäß von Erwachsenen auch beherrscht werden, finden wenig Beteiligungsbereitschaft bei Jugendlichen. Dies kann an Beispielen gezeigt werden, bei denen Jugendliche motiviert werden sollten, sich in Mieterbeiräten oder in Arbeitskreisen zur Parkgestaltung zu engagieren (vgl. Wehsely 2008, Sander 2008) Denn solche institutionell-funktionellen Verfahren können schnell für Jugendliche insofern eine Bedrohung darstellen, als sie keinen Gruppenrückhalt mehr haben und die Bindung an den Raum verlorengeht. Dies trifft wiederum vor allem für Burschen zu, Mädchen sind angesichts ihrer höheren Fähigkeit zur Flexibilität und Mobilität - gerade auch in der Beziehungsgestaltung - eher bereit und motiviert, solche individuellen Engagements einzugehen (vgl. Eckhardt/Haschka 2008).
Wenn wir bisher von „den Erwachsenen" gesprochen haben, so müssen wir auch hier in Bezug auf die Initiierung politischer Bildungsprozesse differenzieren. Längst nicht alle Erwachsenen lassen sich in solche Konflikt- und Verständigungsprozesse hineinziehen. Ihre Angst davor haben wir beschrieben. Deshalb ist es notwendig, erwachsene Ansprechpersonen zu finden, die nahe am Problem aber möglichst unabhängig sind. Die Projekte sollten also mit Jugend zugewandten erwachsenen Akteuren vernetzt werden, die neben den JugendarbeiterInnen eine Rolle spielen. Sie können gleichsam intermediäre zwischen jugendkultureller Raumgesellung und der Institutionenabhängigkeit Erwachsener interagieren.

In der Wiener Jugendarbeit sehen wir in den word-up-Projekten den Versuch gelungen, tendenziell Gleichwertigkeit in der Konfliktaustragung und Verständigung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen herzustellen. Vom Projektverlauf (vgl. Holzhacker 2008) her treffen sich die JugendarbeiterInnen erst mit den Jugendlichen, um ihre Themen, die sie nachher im SchülerInnenparlament einbringen wollen, zu entfalten. Gleichzeitig sind Regeln geschaffen, dass kein Erwachsener länger reden darf, dass alle auf gleicher Sitzhöhe sind, dass die Erwachsenen sich verpflichten müssen, ihren aktuellen wie späteren Umgang mit den Argumenten der Jugendlichen darzulegen und zu begründen. Die JugendarbeiterInnen sorgen für die Einhaltung solcher Regel. Gelungen war das Projekt vor allem dort, wo das Jugendparlament in einem Einkaufszentrum stattfand und sich 250 Jugendliche beteiligten. Für die politische Bildungsarbeit ist dabei nur interessant, dass bei der Bevölkerung ein neuer Eindruck dahingehend entstand, dass diese Masse der Jugendlichen eben nicht randaliert. Viel wichtiger ist die Struktur, die wir in solchen Projekten erkennen und aufschließen können. Denn es ist ja ein Prozess, der Verräumlichung der institutionellen Beteiligungsmuster in Gang gesetzt worden. Institutionelle Arrangements wurden zu aneignungsfähigen Räumen gemacht, Jugendlichen wurde die Möglichkeit gegeben, institutionelle Arrangements in Aneignungsarrangements zu transformieren.

Diese Projektbeispiele zeigen, dass über einen konfliktreflexiven Verständigungsprozess über unterschiedliche aber gegenseitig anerkannte Rauminteressen Jugendliche zu konstruktiven Konfliktpartnern werden können. Dies ist ein anderer Zugang, als wenn wir - wie herkömmlich in der politischen Bildung - von Beteiligung sprechen. Beteiligung erweist sich vor diesem Hintergrund als hierarchischer Begriff - also gleichsam als Erwachsenenbegriff -, mit dem Jugendlichen das Angebot gemacht wird, sich in eine vorgegebene Kommunikationsstruktur „einzubringen" bzw. einzupassen. In der Dynamik der sozialräumlichen Konfliktaustragung hingegen müssen beide Seiten - Jugendliche wie Erwachsene - ihre divergierenden räumlichen Ansprüche offenlegen und aufeinander beziehen.

Literatur

Böhnisch, Lothar (2006): Politische Soziologie. Eine problemorientierte Einführung. Opladen

Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang (2007): Politische Pädagogik. Weinheim und München

Deinet, Ulrich. (Hrsg.) (2009): Sozialräumliche Jugendarbeit. Grundlagen, Methoden und Praxiskonzepte. 3., überarbeitete Auflage. Wiesbaden

Eckhardt Tanja/Haschka, Ulli (2008): Mädchenpavillon. In: Verein Wiener Jugendzentren: Partizipation. Zur Theorie und Praxis politischer Bildung in der Jugendarbeit. Wissenschaftliche Reihe. Band 5. Wien, S. 139-149

Holzhacker, Christian: Word Up! SchülerInnenparlament (2008). In: Verein Wiener Jugendzentren: Partizipation. Zur Theorie und Praxis politischer Bildung in der Jugendarbeit. Wissenschaftliche Reihe. Band 5. Wien, S. 64-73

Krisch, Richard (2009): Sozialräumliche Methodik der Jugendarbeit. Aktivierende Zugänge und praxisleitende Verfahren. Weinheim und München

Krisch, Richard, Reinprecht, Christoph (2006): Aktiv - passiv?. In: sozialraum.de, 1/2010. URL: http://www.sozialraum.de/aktiv-passiv.php, Datum des Zugriffs: 13.10.2010

Reutlinger, Christian (2003): Jugend. Stadt und Raum. Opladen

Sander, Reinhard (2008): ACTiN Park. In: Verein Wiener Jugendzentren: Partizipation. Zur Theorie und Praxis politischer Bildung in der Jugendarbeit. Wissenschaftliche Reihe. Band 5. Wien, S. 114-127

Wehsely, Tanja (2008): Parti. im Bau. In: Verein Wiener Jugendzentren: Partizipation. Zur Theorie und Praxis politischer Bildung in der Jugendarbeit. Wissenschaftliche Reihe. Band 5. Wien, S. 104-114


Zitiervorschlag

Böhnisch, Lothar und Richard Krisch (2010): Politische Bildung in sozialräumlicher Perspektive. In: sozialraum.de (2) Ausgabe 2/2010. URL: https://www.sozialraum.de/politische-bildung-in-sozialraeumlicher-perspektive.php, Datum des Zugriffs: 18.04.2024