Handeln bei Pierre Bourdieu – Implikationen für die Sozialraumforschung
Heiko Berner
1. Einleitung
Eine relativ junge Entwicklung in der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit stellt der Versuch dar, verschiedene Bezugstheorien auf ihre Tauglichkeit zur Begründung bestehender sozialraumorientierter Ansätze zu sichten oder sie zur Vertiefung bestehender Ansätze zu diskutieren. Dies können beispielsweise soziologische, kultur- oder kommunkationwissenschaftliche Theorien sein. Eine dieser Bezugstheorien stellt das Habituskonzept von Pierre Bourdieu dar. Markus Schroer bespricht es in seiner raumsoziologischen Arbeit „Räume, Orte, Grenzen“ (Schroer 2006). Er arbeitet dort Bourdieus sogenannte „Raumprofite“ (ebd., 91 ff.) heraus, die beschreiben, auf welche Weise Raum dazu beiträgt, die soziale Ordnung zu gliedern und zu reproduzieren. Ein anderer Beitrag – „Pierre Bourdieu. Ein ungleichheitstheoretischer Zugang zur Sozialraumforschung“ von Katharina Manderscheid (2008), erschienen im Sammelband „Schlüsselwerke der Sozialraumforschung“, der von Fabian Kessl und Christian Reutlinger herausgegeben wurde – holt zur Beschreibung des Habitusbegriffs aus und klopft ihn auf sein Potential für eine ungleichheitstheoretische, sozialraumorienterte Perspektive ab.
Der folgende Beitrag sieht sich in der Tradition dieser Zugänge und hat zum Ziel, die Diskussion um eine Facette zu ergänzen, die für eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit zentral ist: das Handeln im Raum. Die Fragen, die hier mit einer Bourdieuschen Brille betrachtet werden, lauten:
Warum handeln Menschen, wie sie handeln? Auf welche Weise ist ihr Handeln im Kontext des Raumes zu sehen, in dem sie sich bewegen?
Ein Umstand sorgt dafür, dass das Thema – dies wäre zumindest mein Wunsch – besonders interessant wird. Bourdieu selbst hat uns nicht den Gefallen getan, in seinem Werk alle Begriffe und Zusammenhänge eindeutig, widerspruchsfrei und in einfacher Sprache auszubreiten. Es handelt sich um keine Bedienungsanleitung. Daher ist die folgende Auseinandersetzung nicht nur eine Zusammenfassung Bourdieuscher Versatzstücke auf die Fragestellung hin, sondern auch ein Versuch der Bourdieu-Interpretation – und dies immer da, wo Bourdieu den Raum dazu gab.
2. Hintergrund für Bourdieus Beschäftigung mit Handeln
Bourdieu bemerkte in der Einleitung von „Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns“ (Bourdieu 1998), dass in Folge der internationalen Rezeption seines Werks, die im Laufe der 1990er spürbar zunahm, immer wieder der Vorwurf laut wurde, sein Handlungskonzept sei utilitaristisch. Aus diesem Grund befasste er sich eingehender mit diesem Thema und widmete ihm das Buch. Das Kapitel „Ist interessefreies Handeln möglich?“ aus der „Praktischen Vernunft“ wird im folgenden die Hauptquelle für die Auseinandersetzung mit Handeln bei Bourdieu sein.
Bevor darauf genauer eingegangen wird, soll zunächst die Kritik näher nachvollzogen werden, um überhaupt differenziert die wesentlichen Details der Diskussion herauszuarbeiten. Als exemplarisches Beispiel dafür dienen einige Äußerungen des Sozialphilosophen Axel Honneth zu Bourdieus Handlungslogik.
3. Kritik an Bourdieu am Beispiel Axel Honneths
Im Kontext seiner Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäben schlägt Axel Honneth vor, die soziologische Theorie Pierre Bourdieus als Rahmen heranzuziehen, der zur Beschreibung von Referenzrahmen für die Taxierung von Leistung unterschiedlicher sozialer Gruppen dienen kann (Honneth 1994, 205 f.). Honneth verweist aber darauf, dass Bourdieu einem utilitaristischen Grundgedanken folge, der ganz und gar nicht mit seiner – Honneths – Vorstellung einer vorbewussten Motivation zum Handeln einhergehe. Honneth selbst hat die Kritik an Bourdieus Utilitarismus in einem Kapitel in „Die zerrissene Welt des Sozialen“ (Honneth 1990) schon früher ausführlich ausgearbeitet. Dieser Text soll hier kurz skizziert werden.
3.1 Ethnologische Erforschung kabylischer Dorfgemeinschaften
Um den Grundsätzen von Bourdieus Denken nahe zu kommen, geht Honneth in „Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus“ (Honneth 1990) auf dessen zu Ende der 1950er Jahre in Algerien durchgeführte Forschungsarbeit über kabylische Dorfgemeinschaften zurück. Hier wurde zum ersten Mal in Bourdieus Werk deutlich, dass er sich von einem „ur“-strukturalistischen Zugang im Sinne Claude Lévi-Strauss‘ trennte. Dieser ging davon aus, dass Symbolsysteme tradiert, träge und für alle gleich gültig seien – dass sie einem „einheitlich strukturierten Geist“ (Honneth 1990, 180) folgen. Bourdieu allerdings stellte in seiner Forschungsarbeit fest, dass Verwandtschaftsbeziehungen zu Verstorbenen von einzelnen Familien so konstruiert wurden, dass sie zu deren sozialen Vorteil in ihrer gegenwärtigen Gesellschaft ausfielen. Er folgerte daraus, dass symbolische Konstruktionen „als soziale Tätigkeiten zu begreifen sind, die unter dem Gesichtspunkt der Nutzenmaximierung vollzogen werden können.“ (Honneth 1990,. 180) Honneth bezeichnet das von Bourdieu konzipierte Handeln als utilitaristisch, unter Betonung des Aspekts der Nutzenorientierung. Die Ausrichtung des Handelns ist dabei ökonomischer Gewinn und die Deutungshoheit über die symbolische Gesellschaftsordnung. In erster Linie geht es bei dieser Auslegung von Utilitarismus nicht so sehr um das größtmögliche Wohl aller Beteiligten, wie es im klassischen Utilitarismus gedacht war (vgl. zum Beispiel Höffe 2013), vielmehr steht das Wohl der je eigenen sozialen Gruppe im Zentrum.
Diese neue, poststrukturalistische Idee lag nun dem gesamten folgenden Werk Bourdieus zugrunde, so Honneth.
3.2 Sozialstruktur der modernen französischen Gesellschaft
Bourdieu übertrug die Erkenntnisse aus den Beobachtungen der Dorfgemeinschaften auf die moderne, differenzierte französische Gesellschaft und schuf seine bekannte, zwei Dimensionen berücksichtigende Sozialstruktur. Sie baut auf einem marxistischen Verständnis von drei Klassen auf, erweitert die ökonomische Achse aber um eine kulturelle Achse, die kulturelle Güter, Merkmale und Praktiken berücksichtigt. Die dritte Kapitalart, die Bourdieu nennt – das soziale Kapitel – vernachlässigt er in seinen Ausführungen allerdings, so Honneth (ebd., 186). Welche Rolle gerade dieses soziale Kapital spielen kann, wird unten noch deutlich werden. Aus den je unterschiedlichen Kombinationen von ökonomischem und kulturellem Kapital ergeben sich verschiedene soziale Gruppen, die sich in einer zweidimensionalen Sozialstruktur zu einem Gesellschaftsquerschnitt zusammenfügen. Die Gruppen unterscheiden sich durch die Art und durch die Menge an Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, d. h. an ökonomischem Kapital und an kulturellem Kapital (ebd., 186). Daraus resultiert eine Sozialstruktur, die nicht allein durch materielle Ressourcen gegliedert ist, sondern auch durch symbolische.Denn kulturelles Kapital umfasst zum einen manifeste Ressourcen, in Form von Bildungszertifikaten, zum anderen aber auch symbolische, in Form von Geschmack und kulturellen Praktiken, die in Bourdieus Verständnis ihres Werts an sich entledigt sind und lediglich zur Distinktion, also zur Unterscheidung, zwischen sozialen Gruppen taugen.
3.3 Habitus und Distinktion
Jeder Mensch ist in Bourdieus Verständnis qua Sozialisation durch seine soziale Lage geprägt und er verinnerlicht im Zuge seiner Sozialisation einen gruppenspezifischen Habitus. Einmal erworben, stellt der Habitus, der alle Teilhabenden einer Gruppe als Kollektiv konstituiert, den Rahmen für ein in der Gruppe typisches Verhalten und typische Geschmacksurteile dar. Hier wird deutlich, wie Honneth Nutzenorientierung bei Bourdieu auffasst: Er betrachtet Handeln nicht als bewussten, reflektierten Zweckrationalismus, sondern als ökonomischen Utilitarismus, der unbewusst, vermittelt durch den Gruppenhabitus und verinnerlicht in diesem, stets auf die Verbesserung sozialer Positionen gerichtet ist. Diese Dimension kultureller Praxis nennt Honneth „instrumentelle Funktion“ (ebd., 198). Kultur hat hier keinen Wert an sich, sie ist vielmehr Gegenstand strategischer Handlungen, die darauf aus sind, die sozialen Positionen von Gruppen zu verbessern. Diese Funktion wird ergänzt durch den Faktor der Distinktion. Kultur hat hier die Funktion, Gruppen in einem relationalen Sinne voneinander zu trennen[1].
Wie Bourdieu selbst Handeln beschreibt, ist Thema der folgenden Erörterung seines Texts „Ist interessensfreies Handeln möglich?“ (Bourdieu 1998)
4. Handeln bei Bourdieus Begriff des Interesses
4.1 Interesse
„Man kann Soziologie nicht treiben ohne […] anzunehmen, dass die sozialen Akteure nicht beliebig handeln, dass sie nicht verrückt sind, dass sie nicht ohne Grund handeln.“ (Bourdieu 1998, 139) Bis hierher dürften die beiden Konzepte in Einklang zu bringen sein, denn auch nach Honneths Verständnis lassen sich Gründe für Handeln finden und lässt sich Handeln nach dessen Gründen hin analysieren. Die Gründe, die Honneth in den Vordergrund stellt, sind allerdings vorbewusster Art. Bevor Handelnde ein Interesse formulieren können, verspüren sie ein Unbehagen, das noch nicht reflektiert ist. Honneth spricht in diesem Zusammenhang von der Erfahrung sozialen Leids (vgl. Honneth/Fraser 2003, 152) und davon, dass der Schwerpunkt seiner Betrachtungen darauf liegt, „der alltäglichen, noch unthematisierten, deswegen aber nicht minder dringlichen Vorform sozialen Leidens und moralischen Unrechts“ gerecht zu werden (ebd., 135).
Doch auch bei Bourdieu geht es um vorbewusstes Handeln „Zwischen den Akteuren und der sozialen Welt herrscht ein Verhältnis des vorbewussten, vorsprachlichen Einverständnisses.“ (Bourdieu 1998, 144) Genau dies ist im Begriff des inkorporierten Habitus beinhaltet.
Seine Entgegnung auf eine Kritik von außen, die bei ihm Utilitarismus als Handlungsform unterstellt, beginnt Bourdieu in seinem Kapitel „Ist interessenfreies Handeln möglich?“ (ebd., 140 ff.) mit der Definition des Begriffes Interesse. Interesse, in Bourdieus Sinne, meint das Interesse am Spiel.
„Interesse heißt ‚dabeisein‘, teilnehmen, also annehmen, dass das Spiel das Spielen lohnt und dass die Einsätze, die aus dem Mitspielen und durch das Mitspielen entstehen, erstrebenswert sind; es heißt, das Spiel anzuerkennen und die Einsätze anzuerkennen.“ (Bourdieu 1998, 141)
Allerdings meint es eben gerade nicht ein planhaftes, bewusst das Ziel anvisierendes Interesse. Damit entspricht er in seiner eigenen Auslegung weitgehend Honneths Interpretation, der ja gerade darauf verwies, dass Bourdieus Handlungskonzept durch den Umstand der Habitualisierung eine Art verinnerlichter Utilitarismus sei. Dass sich Bourdieus Lesart von Interesse dennoch von der im Utilitarismus üblichen abhebt, verdeutlicht folgendes Zitat: „Der Gegensatz zum Begriff Interesse ist die Interessenfreiheit, aber auch die Indifferenz.“ (ebd.) Interesse in Bourdieus Lesart meint also die Nicht-Gleichgültigkeit der am Spiel Teilhabenden. Sie erkennen das Spiel und seine Regeln an. Er umschreibt den Begriff weiter mit illusio, was als Glauben an das Spiel und ein grundlegendes Einverständnis mit den Spielregeln verstanden werden kann. Ein guter Spieler, so Bourdieu, antizipiert die nächsten Schritte.
„Den Sinn für das Spiel haben heißt, das Spiel im Blut haben; heißt, die Zukunft des Spiels praktisch beherrschen; heißt, den Sinn für die Geschichte des Spiels haben. Während der schlechte Spieler immer aus dem Takt ist, immer zu früh oder zu spät kommt, ist der gute Spieler einer, der antizipiert, der dem Spiel vorgreift. […] Er ist Körper gewordenes Spiel.“[2] (ebd., 145)
Bourdieu verwendet weiter den Begriff der libido. Ohne ihn näher zu erläutern, führt er damit – ganz untypisch für Bourdieu – eine naturalistische Komponente ein: die interessevolle Teilnahme am Spiel ist naturgegeben, die TeilnehmerInnen folgen ihrem Spieltrieb.
4.2 Soziale Felder
Um das Bild des Spiels auf das Handeln in der Gesellschaft übertragen zu können, situiert Bourdieu Handeln im sozialen Feld. Dieser Argumentationsschritt ist nötig, weil Bourdieu einen Ort finden muss, an dem Handlung in der Gesellschaft überhaupt stattfindet. Sein Klassenbegriff versteht unter sozialen Gruppen Klassenlagen (vgl. etwa Bourdieu 1987, 174 ff.), in denen Menschen mit gleichen Merkmalen versammelt sind. Nicht gemeint sind damit hingegen reale Gruppen, die auf die Begegnung zwischen Menschen hin ausgelegt sind. Problematisch ist die Wahl des Feldbegriffes aber insofern, als dass er in Bourdieus Werk nicht eindeutig definiert ist[3]. Die Annahme liegt nahe, dass in „Ist interessenfreies Handeln möglich?“ funktionale gesellschaftliche Teilsysteme gemeint sind. So heißt es bei Bourdieu: „Im Laufe ihrer Entwicklung bilden die Gesellschaften Universen aus (das was ich Felder nenne), die eigene Gesetze haben und autonom sind.“ (ebd., 148) Diese Charakterisierung spricht für diese Variante des Feldbegriffs. Für dieselbe Auslegung sprechen auch die Beispiele, die Bourdieu anführt: vom Feld der Religion, dem Feld der Ökonomie oder dem Feld der Bildung etwa ist die Rede. Diese Lesart eines Bourdieuschen Feldbegriffs ist durchaus üblich (vgl. beispielsweise Lorenzen/Zifonun 2012), mitunter wird Bourdieus Konzept insgesamt sogar eher systemtheoretisch gelesen und der sozialstrukturelle Aspekt wird hintangestellt, so etwa bei André Kieserling (2008). Allerdings bemerkt Kieserling, dass „die weitaus meisten Personen auf dem Bildschirm von Bourdieu zweimal vor[kommen]: zum einen innerhalb dieser oder jener Klasse, zum anderen innerhalb dieses oder jenes Feldes.“ (ebd., 12) Diese Zweiteilung von Bourdieus Konzept hat auch Auswirkungen auf das soziale Handeln, die sich zunächst in der doppelten Gestalt des Habitus zeigen: einmal ist von einem Habitus die Rede, der auf der sozialen Lage gründet, das andere Mal von einem feldspezifischen Habitus (hierzu a.a.O.). Dass in diesem Sinne im Feld utilitaristisch gehandelt wird, leuchtet ein, denn die Definition von dieser Art des Feldes ist eng verknüpft mit der professionellen Entwicklung von Feldern. Gerade im professionellen Bereich ist utilitaristisches Handeln, auch in seiner strengen zweckrationalen Spielart, naheliegend.
Problematisch wird die Betrachtung allerdings, wenn man von einem weiteren Feldbegriff ausgeht. Bourdieu verwendet den Begriff in „Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997) im Sinne von sozialem Raum:
„Die gesellschaftlichen Akteure, die als solche immer durch die Beziehung zu einem Sozialraum (oder besser: zu Feldern) herausgebildet werden, […] sind immer an einem konkreten Ort des Sozialraums angesiedelt, den man hinsichtlich seiner relativen Position gegenüber anderen Orten und hinsichtlich seiner Distanz zu anderen definieren kann.“ (ebd., 160)
Raum ist hier im Übrigen, anders als dies Katharina Manderscheid interpretierte (vgl. Manderscheid 2008, 168) nicht abstrakt gemeint, sondern ganz physisch. Damit bekommt das Handeln – das bisher nachvollziehbar auf Konkurrenz und utilitaristischem Vorteilsstreben aufbaute – eine ganz andere Note. Besonders schwierig ist diese Interpretation des Feldbegriffs, weil nicht klar wird, ob sie nun von der Feldlogik (im Sinne funktionaler Teilsysteme) oder von der Klassenlogik geprägt ist. Bourdieu selbst führt Beispiele an, die beide Lesarten plausibel erscheinen lassen oder besser: bei denen deutlich wird, dass sich Feld, soziale Lage und räumliche Positionierung überschneiden. Ein längeres Zitat verdeutlicht dies:
„Ebenso wie in der Madison Avenue versammelt auch die rue du Faubourg Saint-Honoré Kunsthändler, Antiquitätenläden, große Namen der Modewelt, Schuhdesigner, Innenarchitekten usw., also eine ganze Palette von Geschäften, deren gemeinsamer Nenner darin liegt, dass sie hohe, also strukturähnliche Positionen in ihren jeweiligen Feldern innehaben und dass man sie nur dann richtig einschätzen kann, wenn man sie in Beziehung zu Geschäften des gleichen Feldes, jedoch von geringerem Rang und in anderen Regionen des physischen Raums platziert, setzt. So sind etwa die Innendekorateure der rue du Faubourg Saint-Honoré sowohl hinsichtlich ihrer noblen Geschäftsnamen als auch betreffs all ihrer Eigenschaften (Natur, Qualität und Preis der angebotenen Waren, soziale Herkunft der Kunden etc.) das exakte Gegenteil von dem, was man in der rue du Faubourg Saint-Antoine einen ‚ébéniste‘, d.h. einen Kunsttischler nennt. Gleicherart treten die ‚hairdressers‘ in Gegensatz zu den einfachen Friseuren, die Schuhdesigner in Opposition zu schlichten Schustern etc.“ (Bourdieu 1997, 161 f.)
Durch das Versetzen des Feldes in den Raum, kann Bourdieu die Ebene der Sozialstruktur mitberücksichtigen. Aber er geht den folgerichtig nächsten Schritt nicht, den Handlungsbegriff auf diese Ebene zu transportieren. Dass aber Handeln auch entlang der Logik der Sozialstruktur erklärt werden kann, wird deutlich, wenn – anders als Honneth konstatierte – das Sozialkapital einen höheren Stellenwert bekommt. Dies ist der Fall, wenn der Feldbegriff auf den Raum übertragen wird:
„Die Nähe im physischen Raum erlaubt es der Nähe im Sozialraum, alle ihre Wirkungen zu erzielen, indem sie die Akkumulation von Sozialkapital erleichtert, bzw. genauer gesagt, indem sie es ermöglicht, dauerhaft von zugleich zufälligen und voraussehbaren Sozialkontakten zu profitieren, die durch das Frequentieren wohlfrequentierter Orte garantiert ist.“ (ebd., 164)
Die stärkere Betonung des Sozialkapitals legt es nahe, einen Milieubegriff einzuführen, so wie dies etwa Vester et al. in ihrer Studie zum gesellschaftlichen Strukturwandel in Deutschland taten (Vester et al. 2001). Sie definieren Milieu folgendermaßen:
„Der soziale Zusammenhalt wird immer wieder gestiftet durch die Wahlverwandtschaften, die sich aus einem gemeinsamen Habitus und Geschmack ergeben und die sich in Freundschaften, Partnerschaften und anderen (in sich immer auch konfliktreichen) Handlungsgemeinschaften verkörpern. Diese Zusammenhänge finden wir nicht nur bei Menschen aus den gleichen räumlichen Nachbarschaften, in den ‚Mikromilieus‘, sondern auch zwischen Menschen, die sich nicht persönlich kennen und aus verschiedenen Regionen oder Ländern stammen, in den ‚Makromilieus‘. (Vester et al. 2001, S. 169)
Durch die Unterscheidung von Mikro- und Makromilieus ermöglichen die Autoren es, den Begriff der sozialen Lage oder der sozialen Klasse mit realen Begegnungen zwischen Menschen dieser Klassen zu verbinden. Dies hat freilich Implikationen auf das Handeln.
4.3 Handeln im Feld, Handeln im Milieu
Wurde seither Handeln in den funktionalen Teilsystemen beschrieben, so wurde Handeln im Milieu wenig erklärt. Kieserling erläutert einen wesentlichen Unterschied: „Nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch in den Feldern geht es um knappe Ressourcen und ihre Verteilung; in beiden Fällen finden sich Strukturen sozialer Ungleichheit, die das Interesse an Umverteilung von oben nach unten hin anwachsen lassen.“ (Kieserling 2008, 6, Hervorh. HB) Findet in diesem Sinne Konkurrenz zwischen Individuen innerhalb der Felder statt, so findet sie auf der Ebene der Klassen zwischen den sozialen Gruppen statt. Verwendet man statt Konkurrenz den Begriff der Mobilität, so lassen sich drei Formen nennen: Individuelle Mobilität ist entweder (1.) innerhalb der Felder mit ihren beruflichen Manifestationen gegeben. Oder sie ist (2.) auf den Wechsel von Individuen zwischen sozialen Milieus hin ausgerichtet. Oder (3.) soziale Klassen sind insgesamt mobil, insofern als dass sie eine Verbesserung innerhalb der Sozialstruktur anstreben. Sein Handeln wird dem einzelnen Menschen in dieser Form auch individuell erscheinen, allerdings muss es kollektiv vorkommen, um wirksam zu werden.
Das normale, alltägliche Handeln innerhalb der Milieus wurde von Bourdieu in „Praktische Vernunft“ allerdings vernachlässigt. Dadurch wird Platz frei für ein eher wertegeprägtes oder traditionales Handeln, so wie es vielleicht Max Weber beschreibt. Weber unterscheidet zwischen zweckrationalem, wertrationalem, affektuellem und traditionalem Handeln (vgl. Weber 1980). (Man müsste nun die Liste um Bourdieus „inkorporierte Teilhabe am Spiel“ ergänzen, die irgendwo zwischen zweckrational und affektuell angesiedelt wäre.) Wertrational ist, nach Weber, bestimmt „durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ (ebd.) Traditional bezieht sich auf „eingelebte Gewohnheit“ (ebd.). Handeln im Milieu ist auch Handeln im Privaten: Was „der Feldbegriff [derjenige, der sich auf funktionale Teilsysteme bezieht, Anm. HB] nicht einschließt, ist […] das Privatleben der Rollenträger.“ (Kieserling 2008, 12) Genau dieses Privatleben ist aber Teil des Lebens im sozialen Milieu.
Bourdieu selbst überbetont in „Praktische Vernunft“ die Logik der Felder als funktionale Teilsysteme. Er vernachlässigt die Logik der sozialen Lagen bzw. der sozialen Milieus. Beide Handlungslogiken, die feldspezifische und die milieuspezifische, liegen im sozialen Raum quer zueinander.
5. Schlussbemerkung
Bourdieu selbst bezieht soziales Handeln in seinem Kapitel „Ist interessenfreies Handeln möglich?“ (Bourdieu 1998) auf das Handeln im Feld. Er betont eine Definition von Feld als funktionales Teilsystem. Dadurch bekommt Handeln einen Schwerpunkt als inkorporiertes utilitaristisches Handeln. Bourdieu selbst vermeidet den Begriff des Utilitarismus, da er ihn mit einem bewussten, zielorientierten Zweckrationalismus gleichsetzt. Er selbst bevorzugt eine Ausprägung, die auf die interessierte Teilhabe an den im Feld üblichen Spielregeln verweist. Axel Honneths Bermerkung, bei Bourdieu sei Handeln utilitaritisch gemeint, kann nur teilweise bestätigt werden. Honneth verortete das Handeln der Menschen in Bourdieus Klassenlogik, doch gerade da, so die hier präferierte Lesart, folgt es eher einer wertorientierten oder traditionalen Logik, wie sie Max Weber beschreibt.
Im „Elend der Welt“ verwendet Bourdieu einen offeneren Feldbegriff, der Feld als sozialen Raum auslegt. Hier trifft sich die Logik des Feldes als funktionales Teilsystem und diejenige der sozialen Struktur, die sich als Zusammentreffen verschiedener sozialer Milieus im Raum manifestiert. Die Milieus folgen aber – dies ist die hier vertretene Interpretation – einer anderen Handlungslogik, als die der Felder. Axel Honneth verweist später auf die mannigfaltigen Beispiele von sozialem Leid, die die Gruppe um Bourdieu in „Elend der Welt“ zusammengetragen hat. Er interpretiert sie als Beispiele für missachtete Anerkennung und für Kämpfe um Anerkennung (vgl. Honneth, Fraser 2003).
Für die sozialraumorientierte Soziale Arbeit eröffnet der weitere Feldbegriff eine Kategorisierung von Handeln im sozialen Raum, die es nahelegt, Handeln gemäß der beiden Logiken zu unterscheiden. Dies betrifft auch das Agieren der SozialarbeiterInnen selbst, die naturgemäß eher entlang der Logik des Feldes der Hilfen (vgl. Lorenzen/Zifonun 2012) handeln, ohne dabei von ihrem milieugeprägten Habitus frei zu sein! Folgt man dieser Unterscheidung, so ist bei der Einschätzung eines Falles wesentlich, wer welcher Logik folgt, wer nach welcher Logik in einem Konkurrenzverhältnis steht, seien es Individuen innerhalb eines Feldes, Indiviuen, die die Grenzen von Milieus überschreiten wollen, oder soziale Gruppen untereinander. Der Aspekt der Macht bezieht sich analog auf Individuen im Feld und auf Gruppen im sozialen Gefüge, was sich im physischen Raum niederschlägt. Mit der hier vorgeschlagenen Klassifizierung verschiedener Handlungslogiken lässt sich widersprüchlich erscheinendes Handeln erklären: Redet der Gemüsehändler im Quartier schlecht über seinen Konkurrenten eine Straße weiter (Feldlogik), so schließt dies nicht aus, dass er abends mit diesem zusammen sitzt und sich prächtig mit ihm versteht (Milieulogik).
Raum wird durch die so eröffnete Zweiwertigkeit des Handelns zum zentralen Bezugspunkt Bourdieuscher Gesellschaftskonzeption. Im physischen Raum verbinden sich seine Feldlogik und seine Klassenlogik und machen ihn durch die handelnden Menschen zum relationalen Sozialraum, der den machtvollen Ansprüchen der dort vertretenen Individuen und Milieus folgt.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Höffe, Otfried (2013): Einführung in die utilitaristische Ethik: Klassische und zeitgenössische Texte. Stuttgart: Francke (UTB).
Honneth, Axel (1990): Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Frankfurt a.M: Suhrkamp Verlag.
Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Honneth, Axel; Fraser, Nancy (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Lorenzen, Jule-Marie/Zifonun, Dariuš (2012): Das Eigengewicht der Institutionen und die Zentralität der Laien: Anmerkungen zur Feldtheorie Pierre Bourdieus. SWS-Rundschau (52), 1/2012, 92-108.
Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian (Hrsg.) (2008): Schlüsselwerke der Sozialraumforschung. Traditionslinien in Text und Kontexten. Wiesbaden: VS Verlag.
Kieserling, André (2008): Felder und Klassen: Pierre Bourdieus Theorie der modernen Gesellschaft. Zeitschrift für Soziologie, (37), 1/ 2008, 3-24.
Manderscheid, Katharina (2008): Pierre Bourdieu – ein ungleichheitstheoretischer Zugang zur Sozialraumforschung. In: Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian (Hrsg.): Schlüsselwerke der Sozialraumforschung. Traditionslinien in Text und Kontexten. Wiesbaden: VS Verlag, 155-171.
Sartre, Jean Paul (1997): Praxis des Intellektuellen. Stuttgart: Reclam.
Schroer, Markus (2006): Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Vester, Michael et al. (2001): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, 5. Aufl.. Tübingen, 1-31. Unter: http://www.zeno.org/nid/20011439076, 27.05.2015.
Fussnoten
[1] In diesen zwei Funktionen erkennt Honneth einen Widerspruch, ist die eine doch auf Veränderung und auf Anpassung an höher positionierte Gruppen hin ausgelegt, während die andere lediglich die Trennung von anderen Gruppen verfolgt, im Sinne einer Selbstdefinition oder einer Selbstvergewisserung der je eigenen Gruppe.
[2] Das Beispiel erinnert an ein Beispiel, das Jean Paul Sartre schon früher angeführt hatte, um eine bestimmte Form von Zukunft zu erklären: es handelt sich dort um einen Tennisspieler, der den Ball antizipiert, indem er die Bewegung des Gegenspielers richtig analysiert (vgl. Sartre 1997, 66).
[3] Ich danke den Mitgliedern der AG Sozialer Raum der OGSA, die mir in der Diskussion wertvolle Hinweise zur Auslegung des Feldbegriffs gaben und mich überhaupt erst dazu bewogen, den Begriff zu differenzieren.
Zitiervorschlag
Berner, Heiko (2015): Handeln bei Pierre Bourdieu – Implikationen für die Sozialraumforschung. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015. URL: https://www.sozialraum.de/handeln-bei-pierre-bourdieu.php, Datum des Zugriffs: 15.10.2024