Die gesellschaftliche Rückkehr des Alters

Lothar Böhnisch, Wolfgang Schröer

Das 20. Jahrhundert galt in Europa als das Jahrhundert der Jugend. Nicht nur, weil die Jugend demografisch eine starke Bevölkerungsgruppe war. Vielmehr war es (und ist es zum großen Teil immer noch) das industriegesellschaftliche Fortschrittsmodell des linearen Wachstums, nach dem das Neue permanent das Alte, Verbrauchte zu ersetzen hatte. Die Jugend und die jeweils neuen Produkt-„Generationen“ in Technologie und Konsum gingen symbolisch ineinander über, auch wenn die Jugendlichen selbst davon meist nichts hatten. Das Alter war aus dieser Fortschrittsformel ausgeschlossen. Natürlich nicht dort, wo Ältere in Politik und Wirtschaft an der Macht waren. Aber dies waren und sind exklusive Zirkel, denen allerdings nachgesagt wird, dass sie sich an Macht und Geld klammern, um die unvermeidliche Durchsetzung des Jungen und Unverbrauchten hinauszuschieben. In der Beschleunigungsdynamik der neuen Technologien galt Alterserfahrung als out und junges Risiko als in. Dass es vor allem ältere Intellektuelle waren, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder vor dem ökologischen Ausverkauf des Planeten Erde warnten, hat dem Alter wenig gebracht. Die alten Mahner wurden höchstens literarisch als Propheten gefeiert, im gesellschaftlichen Alltag dagegen wurden sie als Fortschrittsbremsen, als Gestrige abgestempelt. Und die „Grauen Panther“, die als Vorboten des demografischen Wandels in den 1980er Jahren ins Parlament einziehen wollten, wurden eher als skurril betrachtet.

So wie man diesem, in der industriellen Moderne gewordenen, negativen Altersbild verhaftet war, wirkte die demografische Wende hin zur „Überalterung“ der europäischen Gesellschaften wie ein Schock. Zumal in einigen Schwellenländern mit überproportional junger Bevölkerung nun erst das Jahrhundert der Jugend ausgerufen wird. Kein Wunder, dass sich das „überalterte“ Europa angesichts globalen Standortwettbewerbs demografisch buchstäblich in der Zange sieht und dass die gesellschaftlichen Zukunftsszenarien panisch klingen: Die „vergreisende Gesellschaft“ als Schreckgespenst. So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Alter keine Chance hat, sich auf sich selbst zu besinnen, sondern sich krampfhaft an die Jugend zu klammern versucht. Nur darin scheinen die Älteren auch unbedingt marktfähig, wenn ihnen schon keine gesellschaftliche Rolle zugesprochen wird. Anti-Aging-Kampagnen suchen das Land in immer wieder neuen Wellen heim, die Älteren haben es sich scheinbar zum Sport gemacht, die Jungen auszustechen, an luxuriöser Jugendlichkeit zu übertreffen. Der 65-jährige Harley-Davidson-Fahrer im exklusiven Leder-Outfit zieht an dem schon früh heruntergekommenen und chancenlosen 25-Jährigen vorbei. In der Kultur des Mithaltens – zumindest im Konsum – scheinen sich die Alten wieder in die Gesellschaft einfädeln zu können.

Im Konsum kann man sich vom Alter distanzieren. Im konsumwirtschaftlichen Kalkül gibt es längst nicht mehr „das“ Alter, sondern verschiedenartige Gruppierungen älterer mit entsprechend unterschiedlichen Konsummotivationen. Der Konsummarkt bringt das Alter in Bewegung und umgekehrt. Ältere Menschen verfügen heute – im Durchschnitt – über mehr Geld denn je, sind genussfreudiger und selbstbewusster geworden. Hier gelten sie als Aktivposten. Mit vitalen Sechzigern und Siebzigern wird heute offensiv geworben. Entsprechend ist die Selbstwahrnehmung der Älteren. Ein Großteil von ihnen fühlt sich nicht alt. Dennoch beobachten die Sozialgerontologen ein bezeichnendes Paradox: Dass jemand alt geworden ist, abbaut, sieht man meist nur bei anderen, will es aber bei sich selbst nicht sehen. Auch solche Selbsttäuschungen werden über den Konsum vermittelt.

Trotz des hohen Konsumstatus eines größer gewordenen Teils älterer Menschen – bei relativ gleich bleibender Altersarmut der anderen – ist die gesellschaftliche Rollenlosigkeit des Alters geblieben. Außer der Großelternrolle werden alten Menschen kaum soziale Rollen zugesprochen. Diese Rollenlosigkeit des Alters hat vor allem den Männern, deren biografische Identität sich primär über Arbeit und Beruf definiert, zu schaffen gemacht. Mit der Entgrenzung der Arbeit und der Biografisierung der Lebensverhältnisse kann sich aber das Alter zunehmend vom Stigma der Nichtproduktivität befreien. Biografische Erfüllung suchen und finden viele angesichts beruflicher Brüche und breitem Risiko der Arbeitslosigkeit nicht mehr allein in der Arbeit, sondern in konsumtiven Lebensstilen und biografischen Projekten, die man hofft, nun endlich im Alter realisieren zu können. Wenn man dazu bedenkt, dass sich in Europa eine breite Vorruhestandspraxis eingependelt hat, kann man sich vorstellen, dass das jüngere und mittlere Alter zwischen 60 und 80 Jahren zunehmend eine eigene Entwicklungs- und Entfaltungsdynamik ausweisen kann. Natürlich werden ältere und alte Menschen auch in Zukunft ihr Leben vor dem Horizont der gespürten Endlichkeit gestalten, werden sie die Balance von Aktivität und Rückzug suchen müssen. Daran wird sich nichts ändern. Es geht vielmehr darum, wie die alltägliche Lebensbewältigung im Alter zukünftig gesellschaftlich verankert werden kann, angesichts der Tatsache, dass immer größer werdende Teile der Bevölkerung nicht länger aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden können.

Allerdings müssen wir jetzt vorsichtig sein, wenn wir der gesellschaftlichen Befreiung des Alters angesichts der Entgrenzung der Arbeitsgesellschaft so optimistisch das Wort reden. Denn nach der Zeit der Exklusion des Alters kommt die Zeit der Spaltung des Alters auf uns zu. So wie wir an früherer Stelle aufgezeigt haben, dass das bislang zentrale Vergesellschaftungsprinzip der Arbeit durch das Vergesellschaftungsprinzip der Gesundheit überlagert wird, zeichnet sich eine Entwicklung ab, in der körperliche Fitness im Alter soziale Inklusion, Gebrechlichkeit aber soziale Exklusion bedeuten kann, zumal wenn sie mit Armut verbunden ist.

Angesichts dieser wachsenden Gefahr der sozialen Spaltung und Exklusion weiter Teile der alten Bevölkerung über das Medium Gesundheit ist eine gesellschaftliche Neubestimmung des Alters unabweisbar. Das Alter darf in Zukunft nicht länger einseitig von der Gesellschaft her gesehen werden, sondern die Gesellschaft muss auch vom Alter her in den Blick kommen. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass das Alter als ein zentrales Vergesellschaftungsprinzip der zweiten Moderne erkannt und gesellschaftspolitisch akzeptiert wird. Wenn das Alter als Hüter der Zeit, als Ort der Entschleunigung und Mittler der Nachhaltigkeit gesellschaftlich anerkannt und hofiert wird, fällt dabei auch einiges für die älteren und alten Menschen selbst ab: Lebenssinn und gesellschaftliche Teilhabe über den familialen Großelternstatus hinaus. So kann auch der Graben zwischen Gesundheit und Gebrechlichkeit überwunden werden, wenn wir in dieser neuen Sicht auf das Alter erkennen, dass sich das Leben in seiner Gefährdung und Bewältigung genauso im Gebrechlichen widerspiegelt wie im Gesunden.

Wie und wo wird sich die Soziale Arbeit in diesem Szenario der Alterswende über den theoretischen Diskurs hinaus praktisch verorten können? Ein Zugang bietet sich dort an, wo es um die Wiederaneignung des Raumes im Alter als Medium der Wiederaneignung von Gesellschaft geht. Denn gerade im sozialräumlichen Blick wird soziale Benachteiligung im Alter, werden soziale Isolation und Segregation, wie sie sich im Verlaufe der Biografie entwickelt haben, sichtbar. Zwischen der Welt der gehobenen Seniorenresidenzen und der Altersheimkasernen verläuft die soziale Scheidelinie der Zukunft, die auf die gesamte Gesellschaft zurückwirkt, je älter die Bevölkerung insgesamt wird.

So, wie sich die Soziale Arbeit heute für erweiterte Möglichkeiten der räumlichen Aneignung in den Kommunen und gegen das Hinausdrängen von Kindern und Jugendlichen engagiert, wird sie es in Zukunft verstärkt für bislang sozialräumlich isolierte und meist auch sozial benachteiligte alte Menschen tun müssen. Das ist aber nur der Anfang, dazu drängt die demografische Entwicklung ohnehin. Der sozialräumliche Blick erweitert sich für uns, wenn wir von der neuen gesellschaftlichen Rahmung des Alters ausgehen und Alter also als ein Medium zukünftiger Vergesellschaftung betrachten. In dieser Perspektive sehen wir das Alter gesellschaftlich öffentlich werden, aus dem Ghetto der Altersheime heraustreten. Schon heute zeigen Meinungsumfragen, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung jüngeren und mittleren Alters nicht so ohne weiteres in die Heime „abgeschoben“ werden will.

Aber auch die Familien werden es in Zukunft nicht alleine schaffen, ihre Alten zu betreuen und pflegen. Gerade im Alter zeigt sich die Janusköpfigkeit der zugleich beschworenen wie überforderten Familie. Dass es einer öffentlichen Infrastruktur der ambulanten wie professionell begleiteten häuslich-familialen Altenpflege bedarf, wird sich spätestens dann zeigen, wenn das bislang übergangene Tabu der Gewalt in der familialen Pflege aufbrechen und uns unter Schock setzen wird. Gerade der Intimwelt der Familie lauert die Gefahr der Übergriffe wie der Gewalt, weil Grenzen zum Übergriff nicht spürbar und sichtbar werden, Rollen sich auflösen können. Die gebrechlichen Eltern werden im Alter zu quengelnden Kindern, die Töchter und Söhne zu überreizten weil vor allem psychisch überforderten Eltern ihrer Eltern. Diese Verstrickung können sie nicht selbst überreißen, dazu braucht es sozialpädagogische Begleitung, Beratung; und Vernetzung mit Gleichbelasteten in einer öffentlichen Infrastruktur, an die sich auch Selbsthilfeinitiativen rückkoppeln können.

Schon von dieser Warte aus wird die alternde Gesellschaft keine tote, sondern eine lebendige sein. Damit ist nicht die Lebendigkeit und Behändigkeit gemeint, mit der zunehmend mehr ambulante Pflegerinnen in ihren Kleinwagen durch die Straßen flitzen und in die Häuser huschen. Vielmehr geht es um die sichtbare Lebendigkeit dieser von der Sozialen Arbeit wesentlich mitgetragenen Infrastruktur, die sich in Projekten und Kampagnen manifestiert und eben nicht nur in Dienstleistungen erschöpft.

Als einen Motor für diese Entwicklung sehen wir hier eine heute schon spürbare andere Intergenerationalität, ein neu belebtes Verhältnis der Generationen zueinander, wie es durch die Entgrenzung der Lebensalter (vgl. Böhnisch/Lenz/Schröer 2009) freigesetzt wird. Junge und Ältere werden sich in Zukunft noch stärker und intensiver in den Familien – auch wenn sie multilokal verstreut sind – aufeinander beziehen, im Internet aufeinander treffen und kommunale Räume in Wohn-, gegenseitigen Selbsthilfe- und Bürgerschaftsprojekten miteinander teilen müssen. Dennoch und gleichzeitig – das ist die Sowohl-als-auch-Logik der zweiten Moderne – werden sich weiter eigene Jugendkulturen und nun auch verschiedene Seniorenkulturen in entsprechenden kulturellen und sozialen Konfliktzonen aneinander reiben. Generationenkonflikte werden auch in Zukunft Machtkonflikte bleiben.

Literatur

Böhnisch, Lothar/Lenz, Albert/Schröer, Wolfgang (2009): Sozialisation und Bewältigung. Weinheim und München: Juventa

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Beltz-Juventa Verlages, Weinheim. Der Text erschien ursprünglich als gleichnamiges Kapitel 18 auf den Seiten 113-117 in folgender Originalquelle:

Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang (2011): Blindflüge: Versuch über die Zukunft der Sozialen Arbeit (Reihe Zukünfte, Band 1). Weinheim und München: Juventa. ISBN-13: 978-3779923701, 17,95 €.


Zitiervorschlag

Böhnisch, Lothar und Wolfgang Schröer (2013): Die gesellschaftliche Rückkehr des Alters. In: sozialraum.de (5) Ausgabe 1/2013. URL: https://www.sozialraum.de/die-gesellschaftliche-rueckkehr-des-alters.php, Datum des Zugriffs: 19.04.2024