Space Oddity. Raumtheorie nach dem Spatial Turn

Martina Löw

[1]

Als David Bowie 1969 seinen Song „Space Oddity“ (Raum-Eigenartigkeit) auf den Markt brachte, ahnte er sicherlich nicht, dass 2014 nicht nur Astronauten regelmäßig sich mit diesem Lied von der Erde verabschieden, sondern auch eine weltweit gezeigte Bowie-Ausstellung mit Space Oddity eröffnet wird. Es steht zu vermuten, dass „Major Toms“ Erfahrung, völlig losgelöst von der Erde zu sein, eher ein Drogenerlebnis beschreibt denn als Kritik an Weltraumexperimenten oder gar als Ausdruck einer Verwirrung über sich wandelnde Raumbezüge zu lesen ist. Doch passt das Lied sehr gut in den Zeitgeist, in die aufgeregte Beobachtung der Ausweitung menschlicher Handlungsräume. Die Mission Apollo 11, die erste bemannte Mondlandung im selben Jahr (1969), steht für die Erfahrung und für die bildliche Aufbereitung, dass menschlicher Raum nicht allein der umschließende Erdraum sein muss, sondern sich auch in Beziehung zu anderen Planeten konstituiert oder zumindest konstituieren kann. Hannah Arendt (1994, orig. 1958) schreibt z. B. über die zuvor in den Weltall gesandten Satelliten, dass „unsere eigenen Apparate und Geräte uns (nun aus dem Himmel, M.L.) entgegenleuchten“ (S. 7) und trotz aller Unheimlichkeit das Gefühl der Erleichterung sich einstellt, „daß der erste Schritt getan sei, um dem Gefängnis der Erde zu entrinnen“ (ebd.).

Bevor ich im Folgenden meine Überlegungen formuliere, auf welchem Fundament sich Raum-, Architektur- und Planungssoziologie, aber auch interdisziplinär Raumtheorie, nach dem Spatial Turn weiterentwickelt werden kann, ist es notwendig sich zu vergegenwärtigen, zu welchen Denkfiguren der Spatial Turn Distanz oder Nähe gewinnen wollte, um den Umbruch im Denken produktiv nutzen zu können.

Der Blick zurück

Das letzte Jahrhundert (bisweilen auch die letzten zwei Jahrhunderte) werden häufig als Jahrhunderte des Raumes beschrieben (Foucault 1984; Maier 2000; Jureit 2012). Einerseits gab es vor und nach den beiden Weltkriegen zahlreiche Versuche, die Raumfrage noch einmal ganz grundsätzlich neu zu durchdenken, z. B. in der Mathematik mit der Entwicklung der nicht-euklidischen Geometrien, in der Physik durch die Relativitätstheorie oder in der Kunst im Feld des Kubismus und Expressionismus, im absurden Theater und in der dadaistischen Literatur. Auch die Architektur beginnt ihre Praxis über den Raum zu denken. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Architekten davon ausgehen, dass sie Räume bauen oder gestalten. Zwar taucht die Architektur als „Raumkunst“ bereits in Schellings Vorlesungen über die Philosophie der Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts auf (Schelling 1859), aber erst Ende des 19. Jahrhundert setzt sich August Schmarsow (2011, orig. 1894) mit der Position durch, dass die Architektur eine Raumgestalterin sei. „Was“, so fragt er, „steckt in dieser Aula der Universität, in der wir versammelt sind, ebenso wie in der Klause des Gelehrten, der einsiedlerisch seinen Gedanken lebt? Was hat der Sitz des Reichsgerichtes drüben mit dem Konzerthaus oder Bibliothek daneben, mit dem Pantheon in Rom und dem Dom zu Köln, mit der Schneehütte des Eskimo und dem Zelt des Nomaden gemein? (…) sie sind samt und sonders Raumgebilde“ (Schmarsow 2011: 42f.). Die Provokation liegt darin, dass die Definition architektonischen Wirkens über „Raum“ es nicht mehr erlaubt, zwischen niederen und höherwertigeren Bauformen zu unterscheiden. Hatte sich doch Gottfried Semper noch kurz zuvor dagegen verwehrt, die Hütte des Karaiben mit der Architektur als Kunst zu vergleichen (Semper 1884: 294).

Doch die Provokation geht noch weiter. Denn kaum hat Schmarsow „das Wesen der architektonischen Schöpfung“ als Raumbildung definiert, schränkt er in Kantianischem Gestus die Wirkmacht des Schaffens wieder ein, indem er betont, dass Raum nur dort entsteht, wo das Subjekt ihn um sich aufrichtet und notwendig vorstellt (Schmarsow 2011: 43). Das heißt, die Entstehung von Raum ist, so Schmarsow, nicht nur professionelle Leistung, sondern auch Vorstellungskraft und Synthesefähigkeit des Nutzers bzw. der Nutzerin.

Andererseits und gleichzeitig kommt im 19. und 20. Jahrhundert die Kolonial- und Imperialpolitik zu einem Höhepunkt mit der auf die Spitze getriebene Vorstellung vom Raum als zu verteidigendes, zu eroberndes, zu erweiterndes Territorium. Das Territorium mit seinen klaren Grenzen, Homogenität nach innen und Heterogenität außen, ist das räumliche Leitmodell der Moderne. Wir verbinden damit die topographische Vermessung sowie die statistische und kartographische Erfassung der Welt und jene an die Aufklärung gekoppelte Vorstellung, dass Territorialität staatlich herstellbar sei. Das Territorium steht für die obsessive Vorstellung, man könne Menschen und Dinge kontrollieren, indem man Räume kontrolliert (eine Vorstellung, die nicht nur Nationalstaatskonzeptionen anleitet, sondern auch die Einrichtung von Kinderspielplätzen – ebenfalls eine Erfindung des 20. Jahrhunderts – oder die Überwachung von Innenstädten). Raum erschien master-planbar und in Volk-ohne-Raum-Strategien auch beliebig erweiterbar.

Das heißt, die kognitive und emotionale Situation ist im 20. Jahrhundert einerseits durch Kolonial-, Lebensraum- und Großraumkonzepte geprägt, andererseits zeigen sich deutlich, gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die ersten theoretische Spuren, vor allem aber von wirkungsmächtige Bildern relationaler Räume.

Spatial Turn

Die Jahre 1990-2000 stehen für den Spatial Turn. Der Spatial Turn, so schien es vielen, schloss das 20. Jahrhundert ab. Kurz gefasst steht der Spatial Turn für die – nun alle Disziplinen durchziehende und nicht länger auf einige Vordenker/-innen beschränkte – Einsicht, dass Räume (architektonische Räume, städtische Räume, Regionen, Nationalstaaten, Schlafzimmer, Freizeitparks, Flusslandschaften) soziale Produkte sind. Nicht nur in dem Sinne, dass es Professionen gibt, die diese Räume planen und gestalten, sondern auch in der herausfordernden Einsicht, dass Räume für Menschen nur dadurch zu Räumen werden als sie als soziale Gebilde hergestellt werden müssen. Im Moment der Platzierung bilden wir Relationen zwischen Dingen (und Klassen von Dingen) mit dem Ergebnis, dass wir diese Dinge oder Elemente (den Tisch, die Tür, die Kirche, die Linien auf der Karte einer Region) zu einer Gestalt verbinden. Soziologisch gesehen ist das weder ein einfacher kognitiver Akt noch ein reines Wahrnehmungsphänomen, sondern geschieht sozial vorstrukturiert durch Institutionen, Konventionen und Diskurse. Aber mehr noch: Der Spatial Turn steht auch – und das ist für die Sozialwissenschaften immer noch eine Herausforderung zu denken, viel weniger als z. B. für die Architektur – für die Einsicht, dass das Soziale räumlich ist. Gesellschaften werden grundlegend über Räume geordnet.

Es schien, als hätten die Geistes- und Sozialwissenschaften kurz vor dem 21. Jahrhundert, das Territorium oder den Container als Basiskonstrukt des Nachdenkens über Räume und der Politikkonzeptionen verabschiedet. Wenn man sich nun die Frage stellt, wie dieser Umschwung in der Konzeption von Raum international und interdisziplinär möglich wurde, stößt man schnell auf die Ereignisse rund um die 1970er Jahre: Mit den Weltraumexperimenten entstehen die ersten Bilder von der Erde, die das Bild vom Territorium zum Globus verschieben und zugleich die Erde als Teil einer planetarischen Konstellation erkennen lassen. Es ist auch die Zeit des Vietnamkrieges, der zum symbolischen Zentrum jener auch mit dem Jahr „1968“ umschriebenen Umbruchsphase wurde, in der in vielen Gesellschaften totalitäre Handlungsmuster und lineare Geschichtserzählungen an Legitimation verloren. In den sozialen Bewegungen etablieren sich wie selbstverständlich auch neue Raumfigurationen, wenn z. B. im Zuge der Friedensbewegung Vorgärten zu atomwaffenfreien Zonen erklärt werden und damit in bislang unbekannter Weise globale Bedrohungen mit lokalen Handlungen verbunden werden (Schregel 2011). Zeitgleich stellen die Frauen- wie auch die Schwulen- und Lesbenbewegungen Einheits- und Ordnungsfantasien grundlegend in Frage – wie z. B. die Figur der Identität – was wiederum sich auf das Model des Behälterraums mit der Behauptung der Homogenität seiner Elemente nach innen und die Zuweisung einer Differenz nach außen auswirkt. Die 1970er Jahre stehen zudem für die Krise des modernen Städtebaus und damit die Frage, wie viel Vielfalt und Spezifik der städtische Raum braucht, um als attraktiv erfahren zu werden. Diese Entwicklungen werden in den 1980er Jahren begleitet von der Verbreitung des Internets und der damit verbundenen Informationsrevolution, die dem Konstrukt des Behälterraums jede Plausibilität raubt. Verstärkte Transnationalisierung und Mobilität tragen zudem dazu bei, dass das Raumverständnis sich ändert. Im Rückblick stellen die Ereignisse um und ab 1970 einen prägnanteren Wendepunkt dar, als das zum Zeitpunkt des Spatial Turns in den 1990er Jahren angenommen wurde.

Zunächst hatte es vor allem den Anschein, als würden Menschen mit Globalisierung und Mobilisierung, mit neuen Medien und sozialen Bewegungen den Bezug zu Raum grundlegend verlieren. Der Mensch wird beschrieben als das »aus seiner Raumdimension gefallene Wesen« (Guggenberger 1985, 43). Heiner Müller schreibt, dass das Drama unserer Generation sei, „daß es nur noch Zeit oder Geschwindigkeit oder Verlauf von Zeit gibt, aber keinen Raum mehr“ (Kluge/Müller 1995, 80). Paul Virilio vertritt die These, dass Menschen „nicht mehr den Raum, sondern die Zeit (...) bevölker(n)“ (Virilio 1983, 16). Frederic Jameson (1984) argumentiert, dass Menschen nicht länger in der Lage seien, mentale Karten über die verschiedenen Scales und Beziehungen zu erstellen, die die Welt nun prägen. Und David Bowie sang „Planet Earth is blue, and there's nothing I can do“.

Heute lassen sich all diese Diagnosen und Beobachtungen als Artikulationsformen über einen grundlegenden Umbruch lesen, der aber noch nicht begrifflich zu fassen war. Man ahnte zunächst mehr als dass man wusste, dass der Begriff von Raum sich verändern muss, um die Welt noch zu verstehen, um den Bezug zu Raum zu behalten, um Räume zu bauen, die als attraktiv erfahren werden. Schließlich hat sich das Raumverständnis verändert und wir denken heute Raum relationaler und dynamischer.

Wobei die Erfolge nicht übertreiben werden sollten: In den Sozialwissenschaften werden häufig noch Raumausschnitte definiert und darin Inhalte erhoben. Und die Helden der Raumtheorie, wie z. B. David Harvey, Manuel Castells, Michel Foucault, ja sogar Henri Lefebvre, unterlegen ihre Reflexionen mit einer ziemlich undynamischen Unterwerfungshypothese. Das freie Spiel der Kräfte, sei es der Kapitalismus oder die Moderne, scheinen den Raum fast undurchdringbar zu kontrollieren, nur im Widerstand kann Aneignung hier und da gelingen. Die Vielfalt der Raumarrangements, formelle und informelle, mobile und starre, Raumüberlagerungen und Überschreitungen, somit die Relationalität von Raum geraten, entgegen der Intension der Autoren, zuweilen aus dem Blick.

Oder in der Architektur: Die Architekturtheoretikerin Christina Hilger argumentiert, dass trotz der vernetzten Dynamik der Gesellschaft das Architekturdenken noch zu stark von der Figur des „statischen architektonischen Raum(s) als Rahmen, Hintergrund oder Repräsentation von sozialen Handlungen und Bewegungen“ (Hilger 2011: 15) geprägt sei. Sie analysiert architektonische Entwurfs- und Bauprozesse und demonstriert, dass Gebäudeform, Gebäudetechnik, Fassade und Innenraum kaum als Beziehungsgefüge verstanden werden, sondern in der Projektumsetzung die einzelnen Aspekte Projektphasen zugeordnet werden und nacheinander abgehandelt werden. Die Folge sei z. B. eine starke „Innen-Außen-Opposition in der architektonischen Arbeit“ und die Annahme, getrennter Raumrealitäten durch abgeschlossene Planungselemente.

Dennoch stimmt unzweifelhaft, dass eine relationale raumtheoretische Perspektive mittlerweile state of the art ist. In der Regel wird Raum nicht als gegeben betrachtet, sondern die gebauten und platzierten Elemente stellen Strukturierungsangebote, -aufforderungen und -zwänge dar, die sozial relevant nur in der Nutzung werden. Raum ist an Praxis gebunden und Objekt des Wissens.

Aber, wissen wir deshalb, was wir unter Raum verstehen wollen? Kürzlich publizierte Jeff Malpas (2012) in Enviroment and Planing einen Aufsatz, in dem er festhält, dass eine relationale raumtheoretische Perspektive mittlerweile dominant ist, dass damit aber fälschlich der Eindruck entstanden sei, wir könnten uns nun in Ruhe zurücklehnen. Leider ginge es vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gar nicht darum, Raum verstehen zu wollen, sondern Raumrhetoriken und Raumimaginationen würden genutzt, um politische Argumentationen aufzubauen.

Bei Doreen Massey, wie auch bei Ash Amin oder Nigel Thrift u. a., kritisiert Malpas, dass die Ideen von bewegten relationalen Räumen sowohl die Differenz von Raum und Ort verschwinden lassen als auch Raum selbst als Begriff immer unklarer werde. Raum werde zu einem Strudel aus Bahnen und Flüssen. Wie Grenzen zu relationalen Räumen in Verhältnis gesetzt werden, gehöre zu den völlig ungeklärten Sachverhalten.

Indem wir angefangen haben, stärker in Beziehungen zu denken, relationale Raumbegriffe zu entwickeln, den Raum nicht mehr als etwas betrachteten, was einfach herumlungert, während die Zeit fortschreitet (Massey 1993: 118), haben wir eine neue Perspektive auf die soziale und die materielle Welt gewonnen. Was nun zugleich deutlich wird, das ist, dass die Neuformulierung des Raumbegriffs erst ein Anfang für Theoriebildung ist, nicht das Resultat.

Raum als Beziehungsform

Mein Vorschlag war und ist es, Raum zunächst einmal als relationale Anordnung sozialer Güter und Lebewesen an Orten zu begreifen. Meine Rede von einer Dualität von Raum soll zum Ausdruck bringen, dass Räume nicht einfach nur existieren, sondern dass sie im Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln vorstrukturieren. Der Behälterraum oder das Territorium ist hierbei eine mögliche, wenn auch vergleichsweise seltene Form der Raumkonstitution.

Von dieser relationalen Definition ausgehend stellt sich nach dem Spatial Turn nun für die Theoriebildung die Frage, welche Konsequenzen aus dieser Definition gezogen werden. Doreen Massey endet in ihrem Buch „For Space“ mit den Worten: „If time presents us with the opportunities of change and (as some would see it) the terror of death, then space presents us with the social in the widest sense: the challenge of our constitutive interrelatedness“ (Massey 2005: 195). Raum ist die Kategorie, die uns zur Kenntnis nehmen lässt, dass die Dinge nur schwer einzeln erfahrbar sind, sondern im Arrangement existieren, d. h. zu Räumen synthetisiert werden können, ja sogar verbunden werden müssen. Eine leere Schüssel auf dem Tisch mag trostlos wirken, stellt man einen Strauß Rosen daneben erstrahlt dieselbe Schüssel mit einem Mal prächtig, fast verheißungsvoll. Der chinesische Topf aus der Sung Dynastie wirkt im Shanghai Museum viel prunkvoller als ein vergleichbarer Topf im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt, nicht weil er nach China gehört, sondern weil der Topf in Shanghai so positioniert ist, dass das räumliche Arrangement der Vitrine ihn stärker zur Wirkung bringt. D. h. Dinge sind abhängig davon, in welches räumliche Arrangement wir sie setzen und zugleich umgekehrt im räumlichen Arrangement entfalten sie je spezifische Wirkungen auf uns (selbstverständlich unterschiedlich je nach Geschlecht, Milieu, Alter, Ethnizität).

In der Soziologie ist die konstitutive Kraft des In-Beziehung-Seins durchaus Teil der theoretischen Reflexionskultur, jedoch in der Regel nur in Bezug auf die menschliche Existenz als Frage der Identität und als Möglichkeit zur Solidarität. Für Emile Durkheim basiert Solidarität in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft auf der notwendigen Einsicht in den fundamentalen Verflechtungszusammenhang (siehe u. a. Durkheim 1893/1999). Norbert Elias (1968/1994) hat hierfür den Begriff der Figuration gewählt: die Abhängigkeit von der spezifischen historischen Situation und der eigenen Position gegenüber anderen Menschen. Mit Judith Butler (2012) denken wir die Erfahrung von Alterität als konstitutiv für Identität. Mit Jacques Lacan (1986, orig. 1948) wissen wir, dass am Anfang eines Lebens nicht die Erfahrung des Alleinseins, sondern die Verbundenheit mit der Mutter steht. Bevor wir „eins“ denken können, wissen wir, dass es zwei, vielleicht sogar drei oder vier gibt.

Obwohl diese Figurationen durchaus Raum bildend sind (nicht zufällig wählt Sloterdijk 1998 den Begriff der Blase für die Mutter-Kind-Figuration), zwingt uns doch die Raumtheorie, die Rolle von Dingen in den Verflechtungen ebenso zu fokussieren wie die anderer Menschen. Das berühmteste Ding ist vielleicht der Spiegel. Mit Lacan (1986, orig. 1948) verstehen wir erst mit dem Blick in den Spiegel (oder in das Glitzern einer glatten Wasseroberfläche) die Grenzen unseres Selbst. Im Spiegel erkennen wir uns, allerdings – das ist die Pointe – spiegelverkehrt, verzerrt und am anderen Ort. Anders formuliert: Wie die Schüssel prächtiger wirkt neben den Rosen, so bilden sich Figurationen nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und Dingen heraus. Bislang neigen wir dazu, menschliche Anordnungszusammenhänge als Figurationen und dingliche Anordnungskonstellationen als Räume zu bezeichnen. Wie künstlich diese Trennung ist zeigen die Beispiele: Nicht nur die leere Schüssel, jeder wirkt prächtiger neben einem Rosenstrauß! Und niemand schaut in den Spiegel, ohne Teil einer komplexen räumlichen Figuration zu werden. D. h. was wir sind und wer wir sind und wie wir für andere in Erscheinung treten ist abhängig von dem Raum, in den wir eingebunden sind und den wir zugleich mit unserer Platzierung bilden.

Was an einem Alltagsgegenstand wie einer Schüssel sich einfach vorstellen lässt, gilt in gleicher Weise auch für komplexe Raumfigurationen wie Europa oder Stadträume: Der Modus der Abhängigkeit oder – positiv gesprochen – der Verbundenheit prägt die Relation zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen und zwischen Dingen. Dabei sind die Dinge keine passiven Objekte, sondern selbst verführend. Die Frage, die jede Raumanalyse uns aufgibt, ist, wie Teile des Raums anderen Teilen ermöglichen zu wirken.

Die Crux ist: Wir müssen heute sogar von einer Zunahme räumlicher Verflechtungen ausgehen. Konnte Durkheim (1999, orig. 1893) im ausgehenden 19. Jahrhundert Solidarität noch aus der gegenseitigen Abhängigkeit in der nationalstaatlich verfassten französischen Gesellschaft ableiten, so müssen wir nun von intensivierten räumlich strukturierten Abhängigkeiten, die gleichzeitig auf globalen Verflechtungen und medialen Umwälzungen basieren, ausgehen. Gegen die Intuition, dass schnelle Transportmittel und neue Medien den Raum unbedeutend werden lassen, können wir – wie es z. B. AbdouMalic Simone (2011: 363) beschreibt – ein „spacing out“ beobachten, ein Prozess der Generierung, Entfaltung und Ausweitung von Räumen, wo mapping immer hinterher ist, immer im Versuch, die aktuelle Konstellation zu erfassen.

Es ist kompliziert: Der Rosenstrauß und die Schüssel (um bei dem einfachen Beispiel zu bleiben) bilden einen Raum. Gleichzeitig ist fast jedes Objekt in weltweite Raumbildungen integriert. Nicht selten wird eine Rose in Europa gezüchtet, in Ecuador angebaut und in Chicago verkauft. Die Schüssel wurde über Ebay aus Paris importiert. D. h. ein Esszimmer mag Grenzen aufweisen, doch ist der Raum, der durch Blumen und Schüssel entsteht, kein Territorialraum. Er ist lokal und global zugleich. Und die verspielten Blumen französischer Fayence färben die Atmosphäre des Raums anders ein als die gezielt als ländlich und authentisch inszenierten Muster usbekischer Töpfer.

Allgemein gesprochen heißt das, nicht-territoriale Raumformen wie Place-Making, networking und rescalling (Beziehungsaufbau in verschiedenen Scales) werden gesellschaftlich relevanter. Das Soziale existiert nicht in einem einzigen Raumtyp, sondern relationales Raumdenken ist die Voraussetzung, um die fundamentale Abhängigkeit, die das Einzelne und den Einzelnen umgibt, in den Blick zu nehmen. Sozial-Sein erklärt sich ganz wesentlich aus der räumlichen Figuration. Diese Figurationen haben materielle und symbolische Dimensionen. Sie entstehen nicht nur vor Ort zwischen Dinglich-Sichtbaren, sondern auch unter Einbeziehung des Medial-Sichtbaren, in diesem Beispiel dadurch dass die gemalten Blumen und Muster auf der Schüssel abwesende kulturelle Kontexte vor Ort anwesend machen. Die gemalten Blumen sind deshalb ein gutes Beispiel, weil sie so eindeutig auf das Zusammenwirken von Symbolischem (die Handschrift des Malers/der Malerin) und Materiellem (die Wirkung durch die Art des verwendeten Tons, durch die Glasur, durch Farben etc.) verweisen.

Orte sind insofern mit Räumen unauflöslich verwoben als sie durch Räume hervorgebracht werden (erst mit der Platzierung entsteht das Bewusstsein für den Ort) sowie auch sie im Sinne der Stelle Voraussetzung für Raumkonstitution sind. Im Unterschied zu Räumen sind Orte immer markierbar, benennbar und einzigartig. Zu unterscheiden ist daher die „Differenzlogik von Räumen“ und die „Eigenlogik von Orten" (Rehberg 2006: 46). Blickt man sozialwissenschaftlich oder architektonisch auf eine Formation als Ort, oft mit der Einheit stiftenden Kraft eines Namens versehen, so rücken die lokalen Strategien und Strukturen (individuell und kollektiv) in den Blick: Überlieferungen, Erinnerungen, gemeinsame Erfahrungen (weshalb wir in der Stadtforschung von einer Eigenlogik der Städte, nicht von einer Differenzlogik sprechen, Berking/Löw 2008). Raum hingegen lenkt den Blick auf die Verknüpfung und Abhängigkeit von einander Verschiedenem mit seiner möglichen Ortsbindung. An einem Ort können über Verknüpfungen unterschiedliche Räume aufgespannt werden (z. B. zwischen Kindern und Erwachsenen); gleichwohl ist den Orten eigen (welche Räume sich auch immer mit ihnen verbinden), dass sie entweder als Eigenbereiche, soziologisch relevanter aber als kollektive Sinnbereiche, zeitlich überdauern.

Diese Unterscheidung von Raumkonstitution und Ortskonstitution erlaubt es auch, neu über Grenzen nachzudenken. Gunter Weidenhaus (2015) argumentiert, dass Grenzen insofern ein Sonderfall der Raumkonstitution sind, als sie nicht allein über die Anordnung sozialer Güter zu Räumen gedacht werden können, weil sie stets mit der Konstitution zweier Räume und mehrerer Orte einhergehen, selbst wenn der zweite Raum nur als 'Außen' oder 'Umgebung' konzipiert ist. Auch wenn die Grenze gezogen wird, um einen Innenraum zu schaffen, ist der zweite Raum durch die Grenzziehung konstitutiv für den ersten. Die Grenze befindet sich demnach niemals an nur einem Ort und ist niemals ein Raum, sondern immer schon zwei. Sie ist selbst prozesshaft und raumbildend. Was wir derzeit beobachten ist ein Debordering, eine steigende Permeabilität territorialer Grenzen und die sinkende Fähigkeit, sich selbst abzuschotten (Albert/Brock 2000: 20). Zugleich sehen wir ein Rebordering, ein Errichten neuer Grenzen und eine Steigerung der Grenzkontrollen, womit auch Versuche der Re-Territorialisierung von Räumen verbunden sind (ebd.: 39-40). Wobei die Grenze einen Raum territorialisieren kann, während sie zugleich den oder die anderen Räume öffnet. Rebordering kann verstanden werden als ein „social phenomena within the framework of an overall debordering of the world of states (…) as a specific reaction to the debordering processes that are actually taking their course within the framework of globalization” (ebd. 42f.).

Ich fasse zusammen. Wenn wir aus den Ereignissen um 1970 wirklich etwas gelernt haben, dann dass der Raum uns zum Abschied vom Individuum und Einzelding zwingt. Wir leben in vielfältigen Affiliationen und zwar zu Dingen und zu Menschen. Und auch die Dinge sind für uns nur als Teil einer räumlichen Anordnung erfahrbar. Sozial-Sein erklärt sich deshalb ganz wesentlich aus den räumlichen Anordnungen, in die wir eingebunden sind. Oder, wie Marc Augé es ausdrückt, „der Raum ist nicht mehr das, was er einmal war“ (Augé 1994: 34).

Literatur

Albert, M./Brock, L. (2000): De-bordering the World of States. New Spaces in International Relations. In: Dies. (Hrsg.): Civilizing World Politics: Society and Community Beyond the State. Lanham; 19–43.

Arendt, H. (1994, orig. 1958): Vita activa oder vom tätigen Leben. München.

Augé, M. (1994): Die Sinnkrise der Gegenwart. In: Kuhlmann, A. (Hrsg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main, 33-47.

Berking, H./Löw, M. (Hrsg.) (2008): Die Eigenlogik der Städte. Frankfurt am Main.

Butler, J. (2012): Parting Ways: Jewishness and the Critique of Zionism. New York.

Durkheim, E. (1999, orig. 1893): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main.

Elias, N. (1994, orig. 1969): Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt am Main,

Foucault, M. (1984): Of Other Spaces, Heterotopias. Architecture, Mouvement, Continuité, Nr. 5, 46-49.

Guggenberger, B. (1994): Unterwegs im Nirgendwo. In: Die ZEIT (11.11.1994), S. 43.

Hilger, C. (2011): Vernetze Räume. Plädoyer für den Spatial Turn in der Architektur. Bielefeld.

Jameson, F. (1984): Postmodernism, or the cultural logic of late capitalism. New Left Review (146), 53-93.

Jureit, U. (2012): Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg.

Kluge, A./Müller, H. (1995): Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche. Hamburg.

Lacan, J. (1986, orig. 1948): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Ders.: Schriften I. Weinheim, Berlin, 61–70.

Maier, C. S. (2000): Consigning the Twentieth Century to history: Alternative narratives for the modern era. In: American Historical Review 105 (3), 807-831.

Massey, D. (1993): Raum, Ort und Geschlecht. Feministische Kritik geogra­phischer Konzepte. In: Bühler, E., u. a. (Hrsg.): Ortssuche. Zur Geographie der Geschlechter& Geschlechterdifferenz. Zürich, Dortmund, 109-122.

Massey, Doreen (2005): For Space. London.

Rehberg, K.-S. (2006): Macht-Räume als Objektivationen sozialer Beziehungen – Institutionenanalytische Perspektiven. In: Hochmuth, C./Rau, S. (Hrsg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz, 41-55.

Schelling, F. W. J. von (1859): Philosophie der Kunst. In: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 5, Stuttgart.

Schmarsow, A. (2006, orig. 1894): Das Wesen der architektonischen Schöpfung. In: Dünne J./Günzel S.(Hrsg.): Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main.

Schregel, S. (2011): Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik, 1970–1985. Frankfurt am Main, New York.

Semper, G. (1884): Kleine Schriften. Berlin.

Simone, A. (2011): The Politics of Urban Intersection: Materials, Affect, Bodies. In: Bridge, G./Watson, S. (Hrsg.): The New Blackwell Companion to the City, 357-366.

Sloterdijk, P. (1998): Sphären I, Blasen. Frankfurt am Main.

Virilio, P. (1983): Der kritische Raum. In: Tumult (7/83), 16-27.

Weidenhaus, G. (2015): Soziale Raumzeit. Berlin.


Fussnote

[1] Überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung am 09.07.2014 an der TU Berlin


Zitiervorschlag

Löw, Martina (2015): Space Oddity. Raumtheorie nach dem Spatial Turn. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015. URL: https://www.sozialraum.de/space-oddity-raumtheorie-nach-dem-spatial-turn.php, Datum des Zugriffs: 15.10.2024