Soziale Nachhaltigkeit als Thema für die Jugendarbeit – Bildung und Lebensbewältigung im Konfliktfeld von Wachstumszwang und sozialökologischer Sorge

Lothar Böhnisch

Beim Nachdenken über Jugendarbeit und Nachhaltigkeit kommt einem zwangsläufig die Frühgeschichte der Jugendarbeit, die Jugendbewegung in den Sinn. Denn hier liegen ihre sozialökologischen Wurzeln. Der Mythos der Jugendbewegung, aus der damals viele Jugend- und Sozialarbeiter*innen hervorgingen, war der Mythos des Auszugs der Jugend aus der Gesellschaft hin zur Einheit mit der Natur. Nur in der Natur, so das Bild, könne sich Jugend in ihrer Vitalität entfalten und entwickeln. Das Motto hieß Leben, ein selbstbestimmtes Jugendleben, in dem sich Jugend formen und sich gegenseitig erziehen sollte. Die Bindung an die Natur war gleichzeitig der Protest gegen eine Erwachsenengesellschaft, die diese Natur unterdrückte. Selbstbestimmtes Lebensgefühl und politischer Protest entzündeten sich aneinander.

Dieser Lebensfunken ist in den letzten 100 Jahren bis zu den gegenwärtigen Schüler*innenprotesten zum Klimawandel immer wieder aufgeflammt. Nicht mehr außerhalb sondern in der Gesellschaft. Die Jugendarbeit hat immer wieder versucht, diesen Funken am Glimmen zu halten. Wenn heute das Motto in der Jugendarbeit an Bedeutung gewinnt, Jugendarbeit solle Jugend ermöglichen können, dann scheint auch diese Idee von der Jugend aus freiem Experimentierraum, von der ‚naturwüchsigen‘ politischen Lebenskraft der Jugend wieder auf.

Das Bild von der Jugend als „politischer Generation“ wurde von dem Soziologen Karl Mannheim geprägt. Er sprach von der „spezifischen Vitalität“ der Jugend: „Die Jugend ist ihrer Natur nach weder fortschrittlich noch konservativ, doch zufolge der in ihr schlummernden Kräfte zu allem Neuen bereit“ (Mannheim 1952: 62). Jugendliche sind nach diesem Bild in ihrem Alter noch nicht in den Status quo der herrschenden Ordnung verstrickt, sie treten gleichsam neu aus der Familie heraus in die Kultur der Gesellschaft ein, sie haben noch keine festen gesellschaftlichen Interessenbindungen. In dieser Möglichkeit des jungen Menschen, in die Gesellschaft der festen Institutionen und Rollen einzutreten, ohne auf deren Geschichte Rücksicht nehmen zu müssen, in ihrem Noch-Nicht-Gewöhnt-Sein an den gesellschaftlichen Status quo ist die lebensaltertypische Bereitschaft Jugendlicher angelegt, mit allem zu sympathisieren, was im sozialen Sinne dynamisch und/oder unetabliert erscheint.

Gerade Jugendliche sind heute rund um die Uhr in den Medien mit sich überstürzenden Bildern und auf sie einstürzenden Eindrücken konfrontiert: mit sich ständig wiederholenden Umwelt- und Hungerkatastrophen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der unsäglich großen Kluft zwischen Reichen und Armen auf der Welt und zunehmend auch im eigenen Land. Sie stehen unter dem situativen Zwang, sich damit auseinanderzusetzen und fühlen sich in ihrer Gegenwartsorientierung unmittelbar davon angesprochen. Der Generationsmechanismus wirkt auch hier: Sie reagieren direkt betroffen ohne Rücksicht auf Vergangenheit und (Hinweise auf) Sachzwänge. Nur: Im Gegensatz zur jungen Generation der 1968er und 1970er-Jahre, die noch in die gesellschaftliche Absicherung und biografische Verlässlichkeit einer bildungsoptimistischen Jugendphase eingebettet war und aus dieser Hintergrundsicherheit heraus politisch werden konnte, haben die neueren Jugendgenerationen diese Hintergrundsicherheit nicht mehr. Eher spüren viele ein biografisches Ausgesetzt-Sein angesichts einer Jugendzeit, in die immer wieder alltägliche Bedrohungen durch Bildungskonkurrenz und Statusangst latent hineinspielen. Adoleszenzkrisen im Jugendalter werden aber weiterhin Antriebe für kritisches Jugendverhalten sein. In welche Richtung sich nun aber dieses Verhalten bewegt, hängt von den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Konstellationen ab, in denen sich Jugendliche und ihre soziale Umwelt entwickeln.

Konsumjugend und Nachhaltigkeit

Für das Jugendalter ist der Konsum längst zur Normalität, zur selbstständigen Lebensform geworden. „Die jugendkulturelle Verselbstständigung zeigt sich über Musik, Kleidung und Stilmuster. Deshalb geben Jugendliche ihr Geld für Musik und ihre optische Erscheinung aus. […] Sie verbringen ihre Freizeit an jugendtypischen Orten (Schnellrestaurants, Event-Locations, Discos etc.). Sie konsumieren Softdrinks, Alkopops, Zigaretten und teilweise illegale Drogen. Vor allem aber wenden sie bis 50 % ihres Taschengeldes für Kommunikation im weitesten Sinne auf (Handy, Downloads, Spiele, Internet, Skype, PC etc.). […] Im Konsum zeigt sich, ob die Person in oder out ist und ob sie Kenntnis davon hat, was als no go, als geht gar nicht, gilt. Jugendkultur und Jugendkonsum sind so untrennbar verwoben“ (Tully/Krug 2011: 59).

Konsumpädagogisch geht es angesichts dieses tradierten Habitus erst einmal nicht um Verzicht, sondern vielmehr um die Frage, wie das Konfliktverdeckende der Konsumkultur transparent gemacht und so die Probleme der ‚Handlungsfähigkeit im Konsum‘ und der ‚Grenzen des Konsums‘ thematisiert werden können. Konsum symbolisiert – neben Konfliktlosigkeit – auch Grenzenlosigkeit: Ich verbrauche etwas, um etwas Neues, anderes, Besseres zu kaufen zu können, vielleicht auch – um der Statusdemonstration willen – zu ‚müssen‘. Es werden Produkte um Lebensstile gruppiert, die ‚Grenzenlosigkeit‘ verheißen: schrankenlosen Genuss, grenzüberschreitende Erlebnisse, traumhafte Erfüllungen, grenzenlose Möglichkeiten. Wir finden diese Assoziationen in den Werbeparolen wieder. Das macht natürlich auch uns Erwachsenen zu schaffen. Die Lebensphase der Kids und der Jugendlichen ist aber noch einmal spezifisch von diesem Aspekt der Grenzen berührt. Kinder und Jugendliche, die nicht in berufliche und institutionelle Positionen und Rollen eingebunden sind, bei denen die Aneignung der sozialen und kulturellen Welt noch sozialräumlich offen verläuft, benutzen den Konsum (inzwischen) als Raum, als ihr lebensphasentypisches Experimentierfeld. Jugendliche brauchen Experimentierräume, um sich von der Herkunftswelt ihrer Eltern abzulösen und neue soziale Rollen zu erproben; Beziehungen testen, sich selbst in einem neuen und eigenständigen Status erfahren und mit Konflikten allein umgehen zu können. Eigenständiger Konsum und die mit dem Alter zunehmende Mobilität werden vor allem gebraucht, um Abstand zu den Eltern zu bekommen. Dieses lebensaltertypische Experimentieren bringt notwendigerweise Risikoverhalten mit sich: sich an Grenzen reiben, sie überschreiten und verletzen, um die eigenen Grenzen und Möglichkeiten erfahren zu können. Grenzen werden erprobt, provoziert, überschritten, verändert, akzeptiert – aber sie müssen da sein und man muss sie spüren können. Ist der grenzenlose Konsum das einzige Experimentierfeld, so ist der Mechanismus der Grenzwahrnehmung, des Umgangs mit Grenzen oft außer Kraft gesetzt. Jugendliche ‚suchen‘ entwicklungstypisch Grenzen und geraten so in die Dynamik des Konsumrausches: Grenzen sind beim Konsumakt nicht greifbar, weil immer Neues verheißen ist, der nächste Konsumschritt getan werden ‚muss‘, um die Hoffnung auf das Finden der Grenzen aufrechterhalten zu können. Übersteigerter Konsum bis hin zur Sucht sind dann nichts anderes als Varianten vergeblicher Grenzsuche, die konsumtiv vorenthaltene Grenze lässt die Verfügbarkeit über die eigenen Grenzen verkümmern, der Zustand der Abhängigkeit ist zumindest in diesem Sinne erreicht.

Dennoch bleibt die politische Potenzialität der Jugend, die sich aus einer Entwicklungsphase schöpft, die unter dem Zeichen der Ablösung steht und vom Neuen angezogen ist. Konflikt oder Technik? Die Jugendforschung ist hier zwar geteilter Meinung und erinnert an Karl Mannheim, der ja davon gesprochen hat, dass die Jugend dem „Neuen“ gegenüber aufgeschlossen ist und dass dies nicht unbedingt das Politische sein muss. Vielmehr sei doch bei vielen Jugendlichen die Technik an die Stelle der Politik getreten, verbinde sich für sie die Vorstellung von revolutionären Inhalten eher mit technischen Innovationen und sie bewegten sich damit in einer konfliktlosen Welt. Gleichzeitig gibt es aber immer noch und immer wieder genug Jugendliche und junge Erwachsene, die den aktiven Kern von sozialen Initiativen und Bewegungen bilden.

Mit der Entgrenzung der nationalstaatlichen Politik im Prozess der Globalisierung haben sich wieder – nun in den neuen Kommunikationstechnologien transnational miteinander verbunden – politische Erlebnis- und Aktionsgemeinschaften Jugendlicher entwickelt. Jugendliche und junge Erwachsene aus aller Welt bilden den Kern, die kritische Masse neuer sozialer Bewegungen. Während in den westeuropäischen Gesellschaften der demografische und technologische Wandel dazu geführt hat, dass Jugend als gesellschaftliches Aufbruchspotenzial entwertet ist, verhält sich das inzwischen im transnationalen Kontext anders. Die Globalisierung mit ihren neuen Möglichkeiten des World Wide Web hat Themen freigesetzt, die bisher nationalpolitisch gebunden waren und kann weltweit junge Leute aufeinander beziehen, die in ihren Gesellschaften keine Zugänge zu politischer Aktion mehr finden können. Menschenrechte, Gerechtigkeit und Gleichheit der Lebenschancen waren ja als politische Themen je sozialstaatlich besetzt und eingefriedet. Nun erhalten sie eine neue Offenheit, signalisieren ein weltökonomisches und weltpolitisches Ungleichgewicht, einen Humanisierungsrückstand, den gerade viele Jugendliche als generationale Herausforderung empfinden. Insofern hat der Begriff der politischen Generation wieder überraschende Impulse erhalten. Auch hier bewahrheitet sich Karl Mannheims These, dass die Jugend bereit zum Neuen, egal welcher Richtung ist, wenn sie es durch die institutionellen Grenzen hindurch erspürt. Das erlebten wir 2019, als wie aus dem Nichts heraus Massen von Schüler*innen in internationalen Freitagskampagnen eine Umkehr in der Klimapolitik forderten. Dabei ist es schwierig für Jugendliche, auf der einen Seite zwar global vernetzt zu sein und eine Fülle von Informationen zu Risiken und Bedrohung zu erhalten und gleichzeitig im Alltag sozial und im Hinblick auf vielfältige Verpflichtungen unter Druck zu stehen. „Mehr als zuvor sind diese Lebenswelten und die Anforderungen aus der Gesellschaft heute geprägt durch neuartige soziale, technologische, kulturelle Dynamiken und Grenzüberschreitungen, durch hohe Mobilitätserfordernisse in den Bildungs- und Beschäftigungsverhältnissen, Multioptionalität in sämtlichen Lebensbereichen sowie vor allem durch die Konsumgesellschaft hervorgerufenen Trends zu Selbstmarketing und Selbstdarstellung. Dies führt vor allem bei jungen Menschen in unterschiedlicher Weise in unterschiedlichem Maße zur Anpassungsstrategien. Dies führte offensichtlich dazu, dass das komplexe und zusätzlich verunsichernde Thema Nachhaltigkeit mit all seinen Facetten innerhalb der jungen Generation nur schwer anschlussfähig zu machen ist“ (Thio/Göll 2011: 3).

Wie soll man da eine gefestigte Einstellung zu Nachhaltigkeit entwickeln können? Das reduziert sich dann auf die Alltagspraxis des Konsums, des Recyclings, des Energiesparens und der Mobilität. Hier die Brücke zu globalen Risiken zu schlagen ist schwierig. In einer neueren repräsentativen Jugendbefragung (BMU 2017) heißt es dazu: Vor allem der Eindruck vieler Jugendlicher, dass ihr individuelles Verhalten doch wenig Wirkung für die große Nachhaltigkeitsfrage zeige, blockiert. Wo doch Selbstwirksamkeit für den Selbstwert gerade Jugendlicher so wichtig ist. Hier wird deutlich, dass es nicht um den direkten Zusammenhang von individuellem Handeln und nachhaltiger Wirksamkeit gehen kann, sondern wieder um das Engagement in der Gruppe in der sich die individuellen Aktivitäten erst einmal zusammenfügen und politisieren. Denn die Gruppe ist trotz digitaler Welt weiterhin, neben der Familie – der soziale Mittelpunkt der jugendkulturellen Lebenswelt. Der Einfluss der Gruppe auf das Verhalten einzelner ist hoch. Hier liegt auch der Zugang der Jugendarbeit.

Von den Teilnehmenden der bereits erwähnten Repräsentativstudie wurden verschiedene Ideen entwickelt, wie man Nachhaltigkeitsthemen besser vermitteln könnte: „Mithilfe von Videos könnten Lifestyle-Trends in Verbindung mit Nachhaltigkeit gebracht oder virale Inhalte gestreut werden. In sozialen Netzwerken könnte zu Wettbewerben oder Gewinnspielen rund um Nachhaltigkeitsthemen aufgerufen werden. Über Foto-Apps könnten aktuelle Nachrichten und Updates in Form von Bildern zu Umwelt- und Klimaschutzthemen verbreitet werden. Gleichzeitig könnte zu bestimmten Aktionen aufgerufen oder auch nur zu alltäglichem Handeln im Sinne der Nachhaltigkeit motiviert werden. Gemeinsam ist diesen Ideen, dass sie das Erlernen neuer Sachverhalte mit einem spielerischen Zugang zur Thematik verbinden“ (ebd.: 56). Zwar bietet das Internet eine breite Informationsbasis und Verbindungen zwischen den Usern. Diese Fülle der Informationen kann aber erst über die reale Gruppe zu sozialem Wissen werden.

Natürlich haben Jugendliche unterschiedliche Zugangschancen zu Nachhaltigkeit. „Der Blick auf die formale Bildung macht vor allem klar, dass komplexere Themen und die Abstraktion vom eigenen Alltag erst ab einem bestimmten Bildungsgrad wahrgenommen bzw. möglich werden […] Heranwachsenden mit Migrationshintergrund und Jugendlichen aus der Unterschicht [sind] andere lebensweltliche Voraussetzungen gegeben“ (Gaiser et al. 2012: 20). Eine kritische Haltung gegenüber dem Klimawandel wird aber in verschiedenen jüngeren Jugendstudien einer deutlichen Mehrheit der Jugendlichen bescheinigt, wobei weibliche Jugendliche – besonders auch was nachhaltigen Konsum betrifft – vorne liegen (vgl. ebd.).

Nachhaltigkeitssensible Jugendarbeit als sozialräumliche Arbeit

Wenn man in der Jugendarbeit an der besonderen Form des gegenwärtigen politischen Engagements der Jugend in den Klimademonstrationen ansetzen will, müssen die Jugendlichen zuerst einmal als Bürger*innen wahrgenommen und anerkannt werden. Sie müssen selbst Projekte initiieren und in den öffentlichen Raum tragen können. Jugendarbeiter*innen begleiten und beraten. Jugendliche lernen also sozialräumlich; entsprechend können sie auch Neugier und Interessen entwickeln, wie ihre räumliche Umwelt erhalten werden kann. Von daher die Hypothese, dass eine sozialräumlich ausgerichtete Jugendarbeit am ehesten die Nachhaltigkeitsperspektive integrieren kann.

Dass Jugendliche eine eigene räumliche Öffentlichkeit suchen, lässt sich jugendtheoretisch aus der sozialräumlichen Aneignungsdynamik des Jugendalters erklären. Jugendliche brauchen Räume, um sich spüren, erproben, auf sich aufmerksam machen, sichtbar werden zu können. Im Drang nach räumlicher Öffentlichkeit spiegelt sich die jugendtypische Spannung zwischen der Suche nach jugendkultureller Eigenständigkeit und der verdeckten Sehnsucht nach dem Erwachsenwerden wider. Aus ersterer entsteht Abwehr gegenüber der Erwachsenenwelt, aus der zweiten das Verlangen nach Anerkennung. Subkulturelle Raumaneignung und die Suche nach Anerkennungsräumen gehen bei Jugendlichen ineinander über. Für die Erwachsenenwelt provoziert das Konflikte. Damit – wenn wir den Konflikt und seine Austragung als Schlüsselthema des Politischen ansehen – zeigt die jugendkulturelle Suche nach räumlicher Öffentlichkeit ihre politische Seite.

Nun werden körperlich-räumliche Öffentlichkeiten nicht so sehr von einzelnen Jugendlichen, sondern in der Regel von Gruppen, Cliquen gesucht. Auf die zentrale Bedeutung der Gleichaltrigengruppe im Jugendalter brauchen wir hier nicht weiter einzugehen (vgl. dazu Böhnisch 2018). Wichtig ist an dieser Stelle die jugendsoziologische Erkenntnis, dass solche Gruppen eine eigene Dynamik entfalten, die sich vor allem räumlich abbildet. Peers suchen ihre Gruppenidentität über Räume, die sie besetzen, jugendkulturell einfärben, gegen andere abgrenzen wollen. Parks, Verkehrs-, Einkaufs- und Vergnügungszonen sind für Erwachsene in erster Linie Funktionsräume. Für Jugendliche aber stellen sie Aneignungsräume mit hohem Aufforderungscharakter, sie umzuwidmen, dar. Solche Funktionsräume sind aber meist so angelegt, dass sie nonkonformes bis abweichendes Verhalten ausgrenzen. Damit werden sie für Jugendliche zu Kontrollzonen, für allem für solche, die auf diese Räume angewiesen sind, um sichtbar werden zu können. So kann sich eine doppelte Konfliktstruktur entwickeln, Aneignungs- und Kontrollkonflikte gehen ineinander über, laden sich gegenseitig auf. Statt zur politischen Auseinandersetzung kommt es dann aber oft zur Kriminalisierung, die dann die eigentlich politische Grundstruktur des Konflikts überdeckt.

Die Jugendarbeit versucht, dem über Raum- und Projektangebote entgegenzuwirken, in denen sie Jugendöffentlichkeiten organisiert. Dabei gerät die Jugendarbeit immer wieder in die Spannung zwischen jugendkultureller Konfliktorientierung und ordnungspolitischen Befriedungszumutungen. Auch sie steht damit nicht außerhalb des jugendpolitischen Konflikts, sondern ist selbst darin verwickelt. Das stellt hohe Ansprüche an ihre politische Selbstreflexivität. Nur in dieser eigenen Auseinandersetzung kann sie zum Ort Politischer Bildung werden. Lokale öffentliche Räume sind dadurch vielerorts für Jugendliche noch enger geworden. Die sozialräumlich inspirierte politische Jugendbildung richtet dabei eher weniger den sozialpädagogischen Blick auf die soziale Exklusion Jugendlicher, sondern auf die damit verbundenen Konflikt- und Ohnmachtserfahrungen und die Art und Weise, wie diese von den Jugendlichen bewältigt und – im Exemplarischen Lernen (s. o.) – gruppendynamisch transformiert werden.

Jugendarbeit mit marginalisierten jungen Menschen

In Gesellschaft und Bildungssystemen marginalisierte Kinder und Jugendlichen und/oder junge Menschen mit Migrationsgeschichte sind oft bereits über ihre Sprache ausgeschlossen. Zudem verbleiben ihre sozialen Beziehungen oft auf ihr Milieu zentriert und eingeschränkt. Sie kommen deshalb schwerer in öffentliche Beteiligungskulturen hinein. Was ihnen bleibt ist der Raum als Schlüssel, um öffentlich zu sein. Allerdings werden ihre räumlichen Aneignungsformen schneller stigmatisiert und als Auffälligkeit etikettiert. Sie übernehmen dies dann oft und geben sich dann auch nicht selten aggressiv als ‚Raumbesetzer‘ aus: In diesen Park kommt keiner mehr rein, denn der gehört jetzt unserer Clique. Mittelschichtjugendliche erzählen dann ihren Eltern, dass sie in keinen Park mehr gehen können, weil alle Parks von anderen Peer Groups und/oder ethnisch homogenen Jugendgruppen besetzt sind. Über diese Stigmatisierungsprozesse kommt es dann meist zu negativen Verstärkungen. Bei den männlichen Jugendlichen ist das vor allem eine Verstärkung des Maskulinen.

In diesem Zusammenhang müssen wir aber sehen, dass Jugendliche am Rand der Gesellschaft selbst entdecken und spüren, dass sie sich den Raum anders als andere Jugendliche aneignen. Was z. B. von außen oft als Anmache etikettiert wird, hat für die Jugendlichen selbst meist eine andere Bedeutung: Sie stehen – meist unbewusst – unter dem Drang, auf sich aufmerksam zu machen, darüber Anerkennung zu erreichen: Repräsentation von Maskulinität über Territorialität. Deshalb ist ein anderer Zugang zu den Jugendlichen, der Zugang des Reframing (s. o.) notwendig. Das heißt, man muss das Kreative in den Aneignungsformen sehen. Von außen sieht es wie eine aggressive territoriale Aneignung aus. Die Jugendlichen aber wollen zeigen, dass sie heimisch sind, ihre aggressiven Gesten sind zwar bedrohlich aber meist nicht gefährlich. Es ist eben ihr Habitus. Nur wenn dieser Hintergrund erkannt wird, wenn man die Aneignungsbotschaft versteht, findet man einen Zugang zu diesen Jugendlichen. Hier wird deutlich, dass Integration eben nicht nur über Sprache laufen kann, dass heimische Identität vor allem durch räumliche Aneignung erworben wird. Wenn den Jugendlichen bedeutet wird, dass sie nicht die nötigen Gepflogenheiten und/oder die richtige Sprache beherrschen, und deshalb nicht hierher gehören, werden sie das zurückweisen: Sie gehören hierher, weil sie über ihre räumlichen Aneignungsformen heimisch geworden sind.

Der öffentliche Raum hat sich längst zu einem hegemonialen Kontrollraum entwickelt, der eigene Raumaneignungen von Jugendlichen zurückdrängt. Sie werden in unsichtbare Räume geschoben oder in Räume, in denen sie sich nicht zurechtfinden, ob dies nun Kaufhäuser oder U-Bahnschächte sind. Das erzeugt erneut Hilflosigkeit, denn diese sind nicht ihre Räume. Sie müssen sich dann als Gruppe in Räumen konstituieren, in denen sie sich nicht zurechtfinden, wo dann die Gruppenkonstitution selbst sofort wieder zu Auffälligkeiten führt. Dann kann sich Kreativität in Destruktivität wandeln.

Räume, in denen man nicht heimisch werden kann, die im Gegenteil zu Räumen der Stigmatisierung werden, drängen zum Zerstörerischen. Ein Nachhaltigkeitsdenken kann hier überhaupt nicht aufkommen. Dies wird ja von randständigen Jugendlichen auch kaum erwartet. Wieder schlägt das Gesellschaftlich-Dominante und das Einheimisch-Hegemoniale durch. Deshalb gehört es zum Kern sozialräumlicher Arbeit mit Jugendlichen an den Rändern der Gesellschaft, dass diese in der Mainstreamgesellschaft heimisch werden können. Vor allem auch in Projekten mit milieuübergreifenden und transkulturellen Begegnungen, in denen man, statt der Fixierung auf Fremdheit und Andersheit, „“kulturelle Überschneidungssituationen“ aufzeigen und inszenieren kann, die – meist überraschend – Gemeinsamkeiten in Einstellungen und Verhaltensweisen aufzeigen können (vgl. Leenen 2008). Da ist dann der Weg nicht weit, die Bewahrung der für die Jugendlichen so wichtigen räumlichen Umwelt als das den Jugendlichen ‚gemeine Eigene‘ zu entdecken.

Literatur

BMU – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (Hrsg.) (2017): Zukunft? Jugend fragen! Nachhaltigkeit, Politik, Engagement – eine Studie zu Einstellungen und Alltag junger Menschen. Berlin.

Böhnisch, Lothar (2018): Lebensbewältigung. Ein Konzept für die Soziale Arbeit. Weinheim.

Gaiser, Wolfgang et al. (2012): Jugend, Nachhaltigkeit und nachhaltiger Konsum. Hans-Böckler-Stiftung Arbeitspapier 262. Düsseldorf.

Leenen, Wolf-Rainer/Groß, Andreas/Grosch, Harald (2008): Interkulturelle Kompetenz der Sozialen Arbeit. In: Auernheimer, Georg (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden, 101–123.

Mannheim, Karl (1952): Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen. Frankfurt a. M.

Thio, Sie Liong/Göll, Edgar (2011): Einblick in die Jugendkultur. Das Thema Nachhaltigkeit bei der jungen Generation anschlussfähig machen. Dessau-Roßlau.

Tully, Claus J./Krug, Wolfgang (2011): Konsum im Jugendalter. Umweltfaktoren, Nachhaltigkeit, Kommerzialisierung. Schwalbach i. Ts.

Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Beltz Juventa Verlages, Weinheim. Der Text wird hier mit leichten Überarbeitungen veröffentlicht. Er erschien ursprünglich als Abschnitt „Nachhaltigkeit in der Jugendarbeit“ auf den Seiten 153–162 in folgender Originalquelle:

Böhnisch, Lothar (2019): Sozialpädagogik der Nachhaltigkeit: Eine Einführung. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN-13: 978-3-7799-6060-7, 19,95 €.


Zitiervorschlag

Böhnisch, Lothar (2020): Soziale Nachhaltigkeit als Thema für die Jugendarbeit – Bildung und Lebensbewältigung im Konfliktfeld von Wachstumszwang und sozialökologischer Sorge. In: sozialraum.de (12) Ausgabe 1/2020. URL: https://www.sozialraum.de/soziale-nachhaltigkeit-als-thema-fuer-die-jugendarbeit.php, Datum des Zugriffs: 29.03.2024