Sozialraum ist veränderlich, sein Verständnis sollte es ebenfalls sein

Ein Plädoyer für eine raumtheoretische Begriffserweiterung in Bezug auf die Verfasstheit von virtuellem und realweltlichem Raum

Annkathrin Schwerthelm

1. Einleitung

Der Diskurs zum Online-Verhalten gerade junger Menschen ist insgesamt als stark polarisierend zu bezeichnen: auf der einen Seite der Reaktionen findet sich ein Fortschrittsoptimismus, auf der anderen Seite ein Kulturpessimismus. Dominierend scheint hierbei eine eher „problemfokussierte Betrachtungsweise“ (Döring 2016: 220) — auch in pädagogischen Professionen. Dabei zeigt die Forschung, dass Internet als virtueller Raum und ‚Neue Medien‘ [1] als Kommunikationsinstrument den Alltag von Kindern und Jugendlichen ganz wesentlich mitbestimmen und somit wichtige Erfahrungsräume sind (Dekker et al. 2016: 3). Sie „prägen die Kommunikation und das Verhalten […] aktuell in einem Ausmaß, welches mit vorherigen Prozessen kaum vergleichbar ist“ (Alfert 2018: 527). Wenig anderes hatte in den letzten Jahren einen größeren Einfluss auf die Gesellschaft — bis 2020 die Corona-Pandemie ausbrach, aber diese soll hier bewusst nicht thematisiert werden, auch wenn sehr deutlich wird, dass auch diese auf den Diskurs rund um ‚Neue Medien‘ und virtuellen Raum enormen Einfluss hat.

Seit mehreren Jahrzenten, daher unabhängig von der pandemischen Situation, ist ein stetiger gesellschaftlicher Wandel zu beobachten, der transnational unter dem Schlagwort Digitalisierung verhandelt wird. Digitalisierung meint dabei nichts anderes, als die „Umstellung von analoger auf die digitale Technologie bzw. Umwandlung analoger Signale in digitale Daten, die mit dem Computer weiterverarbeitet werden können“ (Hugger 2010: 8). Die in den 1990er Jahren u. a. von dem prominenten Technologie-Experten Bill Gates vertretene Meinung, dass es sich bei Internet lediglich um einen Hype handele, kann aus heutiger Perspektive der 2020er Jahre nur noch belächelt werden. Dass auf technische bzw. mediale Neuerungen zunächst mit Ablehnung reagiert wird, lässt sich jedoch als Muster identifizieren (Süss et al. 2018: 48). Internet ist heute lange schon nicht mehr nur eine Datenautobahn oder etwas Abstraktes, bei dem es ums Einwählen und ‚Drinsein‘ geht. ‚Neue Medien‘ und virtueller Raum sind längst verflochten mit der sozialen Praxis von Gesellschaften.

Die Grundannahme dieses Beitrags ist daher, dass Personen auch in virtuellem Raum handeln und Erfahrungen sammeln, wie in realweltlichem Raum [2]. Sein Anspruch ist es, die vermeintliche Dichotomie zwischen dem altbekannten, scheinbar gut erforschten realweltlichen Raum und dem abstrakten, gern als Parallelwelt diffamierten virtuellen Raum zu überwinden. Dieser Anspruch ist notwendig, da virtueller Raum für (junge) Menschen eines mit Sicherheit nicht ist: eine „Scheinwelt“ (kritisch Unger 2010: 99). Um virtuellen Raum kategorisier-, beschreib- oder analysierbar zu machen, fehlt bisher jedoch — zumindest in den Diskursen der Sozialen Arbeit — eine geeignete theoretische Grundlage (Kessl/Reutlinger 2018: 1601; Schwerthelm 2020). Dies führt u. a. dazu, dass für die Rede über den virtuellen Raum auf teils diffuse Bezeichnungen und Metaphoriken zurückgegriffen wird (u. a. Brüggen/Wagner 2017: 213; Schwerthelm 2020).

Im Folgenden wird darum der Versuch unternommen eine solche theoretische Grundlage herauszuarbeiten. Dabei sei schon einmal vorweggenommen: das Rad muss hierzu nicht gänzlich neu erfunden werden. Es geht zunächst weniger um die Frage der konkreten Ordnung des sozialen Raumes, wie u. a. Bourdieu (1989/2018) sie bearbeitet, sondern um die Kategorie Raum als Produkt sozialer Praxis, wie sie u. a. Lefebvre (1974/2018) oder Löw (2001/2017) versucht haben zu fundieren. Mit ‚Sozialraum‘ verfügen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit bereits über einen geeigneten fachspezifischen Begriff, dessen Verständnis es anzufragen und zu erweitern gilt. Eine solche Grundlage könnte dann auch sinnvolle empirische Untersuchungen in Bezug auf Potenziale des virtuellen Raumes für Identitätsbildungsprozesse (junger) Menschen ermöglichen und gleichsam die diffamierende Haltung überwinden, die virtuellen Raum lediglich als Gefahr resp. Parallelwelt abtut und damit (jungen) Menschen mindestens implizit die Echtheit ihrer Erfahrungen abspricht.

In sozialwissenschaftlicher Forschung, die sich ‚Neuen Medien‘ oder ‚der digitalen Welt‘ widmet, geht es derzeit vermehrt um Prävention und weniger um Bildungspotenziale für Kinder und Jugendliche oder — ebenfalls sehr beliebt und gern bewahrpädagogisch ausgerichtet — deren ‚Medienkompetenz‘. Vergessen wird dabei scheinbar, dass die jüngere Generation heute oft über mehr ‚Medienkompetenz‘ verfügt als die, die sie ihnen vermitteln will oder soll (u. a. Dekker et al. 2016; Hasebrink 2019). Die (sozial)pädagogische Literatur liefert zwar eine Vielzahl an Publikationen zu Themen wie Medienkompetenz, e-Learning, Gaming, Social Media usw., mit virtuellem Raum als Sozialraum findet hingegen kaum bis keine stärkere Auseinandersetzung statt. Anstatt sich raumtheoretisch mit virtuellem Raum als Sozialraum auseinanderzusetzen, wird ‚das Internet‘ oder ‚die Neuen Medien‘ als Parallelwelt etikettiert, die erstens erhebliche Risiken für Kinder und Jugendliche berge und zweitens mit solch einer Bezeichnung mindestens implizit als fiktiv diffamiert wird (u. a. Süss 2018; Alfert 2018; Schwerthelm 2020).

In diesem Beitrag soll es daher nicht um spezifische (sozial)pädagogische bzw. medienpädagogische Methoden gehen, sondern eben um grundlagentheoretische Überlegungen zu den sozialräumlichen Charakteristika virtuellen Raumes und seiner Verflechtung mit realweltlichem Sozialraum. Diese Grundlagentheorie sowie das sich hieraus speisende Verständnis von Sozialraum ist es schließlich, welches die Haltungen in der (sozial)pädagogischen Profession und damit das professionelle Handeln in einem Spannungsfeld zwischen Schützen und Stärken von Adressat:innen beeinflussen.

2. Zur (sozial)raumtheoretischen Ausgangslage — Eine Differenzierung zur Klärung der Raumbegriffe

Da die Darstellung der Historie des Raumes in der Wissenschaft und die der Genese des aktuell vorherrschenden relationalen Raumverständnisses hier jeglichen Rahmen sprengen würden, braucht es für das vorliegende Vorhaben zumindest eine kurze Klärung darüber, dass Raum nicht länger als Container- bzw. Behälterraum zu begreifen ist. Verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang auf die Darstellungen von Michel Foucault (1967/2018) sowie, etwas aktueller, Markus Schroer (2019) oder Martina Löw und Gabriele Sturm (2019). Nur so viel sei hier verdeutlicht: Das von Foucault (1967/2018: 317) für die Postmoderne ausgerufene „Zeitalter des Raumes“ und der damit verbundene ‚spatial turn‘ scheinen vor dem Kontext des virtuellen Raumes aktueller denn je (u. a. Schroer 2019).

Weiter handelt es sich hier nicht um eine allgemein raumtheoretische, sondern eine primär sozialpädagogische Betrachtung, womit an dieser Stelle eine Eingrenzung des sozialwissenschaftlichen Diskurses zu Raumtheorie insofern vorzunehmen ist, dass sie eine Fokussierung auf drei Typen des Raumverständnisses erfährt, die sich in der Sozialen Arbeit resp. der Sozialpädagogik finden lassen. Diese drei Verständnisse sollen in Kürze dargestellt werden, da innerhalb des sozialpädagogischen Diskurses in Teilen Unstimmigkeiten bei der konkreten Differenzierung der Raumbegriffe auftreten „oder differente Begriffe ohne weitere Explikation parallel Verwendung finden“ (Kessl/Reutlinger 2018: 1601).

2.1 Der absolute Raumbegriff

Das absolute Raumverständnis spricht „dem Raum eine eigene Realität jenseits des Handelns, der Körper oder der Menschen“ (Löw 2001/2017: 63) zu. Es sieht den euklidischen Raum „als unumgängliche Voraussetzung jeder Raumkonstruktion“ (ebd.). Übertragen auf die Sozialwissenschaften bedeutet dieses Axiom, dass soziale, politische und ökonomische Räume eins sind und an ihrer territorialen Begrenzung enden: Klare Grenzen ermöglichen eine Zuschreibung als zugehörig und nicht-zugehörig, innen und außen (Schroer 2019: 13f.). Raum kann aus dieser Perspektive mit einem Behälter verglichen werden: Seine Inhalte können den Raum folglich nicht beeinflussen, der Inhalt kann entfernt werden und der Raum wäre damit auch als leerer Raum denkbar (Reutlinger 2018: 615). Dieser Perspektive entspringt die Annahme, Raum würde sich durch Digitalisierungsprozesse gewissermaßen auflösen. Eine ‚Enträumlichung‘ wäre daher die Konsequenz. Die Vorstellung eines Raumes ‚an sich‘ erweist sich jedoch als verkürzt, da erst die Körper den Raum konstituieren, wie auch Kessl und Reutlinger (2010: 22ff.) für den Sozialraumdiskurs der Sozialen Arbeit betonen. Weder der absolute Raumbegriff noch das ihm anhängende Theorem der ‚Enträumlichung‘ bzw. des Verschwindens von Raum überzeugen vor dem Kontext des virtuellen Raumes (Dekker 2012: 48; Löw/Sturm 2019: 14). Ergo: Das absolute Raumverständnis scheint nicht geeignet, da es ausschließt, dass soziale Praxis Raum und räumliche Struktur (re)produziert.

2.2 Der relativistische Raumbegriff

Der relativistische Raumbegriff versteht den Raum als durch soziales Handeln konstituiert und findet sein „Äquivalent in tendenziell konstruktivistischen Positionen, die Sozialraum als unabhängig-individuelle Deutung, Denkleistung oder eben Konstruktion begreifen“ (Reutlinger et al. 2010: 13). Der Raum besitzt also keine eigene Realität, sondern wird durch soziales Handeln und die Beziehungen zwischen Körpern konstruiert (ebd.). Der relativistische Raum ist daher aus dieser konstruktivistischen Position ein sozialer Raum, da Räume nur als konstituierte Räume und nicht unabhängig existierend gedacht werden (Kessl/Reutlinger 2010: 27). Kritisiert wird an dem konsequent relativistischen Verständnis seine Fokussierung auf den Konstruktionsprozess, wodurch Beziehungsstrukturen als unabhängig verstanden werden und die Berücksichtigung von Ressourcen, Machtverhältnissen und räumlichen Strukturen ausbleibt (Reutlinger et al. 2010: 13). Zwar sind Räume nicht ‚an sich‘ existent, aber sie sind, auch wenn sie sich in einem ständigen Werden befinden, doch Produkt, im Sinne vorläufiger Abschlüsse, sozialer Prozesse und eine gewisse Materialisierung ist demnach anzunehmen (Kessl/Reutlinger 2010: 27; Schroer 2019: 14). Ergo: Der rein relativistische Raumbegriff erscheint unzureichend, da er den Fokus zu stark auf die Prozesshaftigkeit dieser Konstitution legt und damit Gefahr läuft, das strukturierende Moment der Ordnung zu vernachlässigen.

2.3 Der relationale Raumbegriff

Ausgangspunkt dieses Verständnisses ist die Annahme Löws (2001/2017: 158): Raum ist „die relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen“. Dabei wird betont und durch die Klammersetzung verbildlicht, dass, obwohl ein prozessualer Raum angenommen wird, es sich bei dem relationalen Verständnis um eine Abgrenzung zu dem relativistischen Verständnis handelt (ebd.). Konstitution von Raum wird hier in der sozialen Praxis situiert und „zugleich als Mittel und Effekt der Konstruktion sozialer Wirklichkeit“ anerkannt (Dekker 2012: 48). Raumentstehung ist damit abhängig von der aktiven Verknüpfung durch Menschen sowie der Platzierung von Subjekten und Objekten durch Menschen Anhand vorstrukturierter Bedingungen (Löw 2001/2017: 158), womit er als beweglich denkbar ist. Die Konstitution von Raum vollzieht sich, nach Löw, durch die Prozesse „Spacing“ (ebd.: 160) und „Syntheseleistung“ (ebd.), welche es möglich machen „Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element [dem Raum; A. S.] zusammenzufassen“ (ebd.). Das ‚Spacing‘ meint kurz das Platzieren und (Sich)Positionieren von sozialen Gütern und Menschen(-gruppen) und die symbolische Kennzeichnung dieses Vorgangs (ebd.: 158f.). ‚Syntheseleistung‘ meint die Zusammenfassung von Menschen und sozialen Gütern zu Räumen durch Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse (ebd.: 159). Im alltäglichen prozesshaften Handeln sieht Löw eine Gleichzeitigkeit sowie eine gegenseitige Bedingtheit dieser Prozesse. Insbesondere um virtuellen Raum fassen zu können, ist es mit Löw (ebd.: 160) notwendig, die zeitgleiche Konstitution unterschiedlicher Räume denken und Raum als „Vielfalt der miteinander verflochtenen Räume“ (ebd.: 111) verstehen zu können.

Die Vermittlung zwischen der konstruktivistischen und materialistischen Perspektive erscheint als notwendig, weshalb Kessl und Reutlinger (2010: 29) den Raumbegriff zur Verdeutlichung seiner Konstitution durch soziale Praxis mit dem Präfix ‚sozial‘ versehen: „Zum einen wird damit die Abwendung von einem absoluten Raumbegriff markiert und zum anderen der Anschluss an einen umfassenden Begriff des Sozialen Raumes, wie ihn Bourdieu symbolisiert — ohne damit die Relevanz des jeweiligen Ortsbezugs sozialpolitischer, sozialpädagogischer oder planerischer Vorgehensweisen zu ignorieren“ (ebd.). Die relationale Raumvorstellung berücksichtigt also neben dem Handlungsaspekt auch strukturelle Aspekte und deren Einfluss auf das Soziale und zukünftige Raumbildungen (Reutlinger et al. 2010: 14). Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden demnach mitgedacht. Solch ein „relationaler Begriff“ (Kessl/Reutlinger 2010: 28) bzw. die Vorstellung eines „dynamischen Raumbegriffs“ (Deinet 2010: 37) setzt sich als grundlegendes Verständnis von Raum in der Sozialen Arbeit durch und bildet daher auch die Grundlage ihrer aktuell prominenten Theorien und Konzepte. Kessl und Reutlinger (2010: 28) halten auf dieser Grundlage fest: „Räume sind keine absoluten Einheiten, sondern ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ (ebd.: 21). Kessls und Reutlingers Verständnis von relationalem Raum deckt sich mit dem raumsoziologischen und bestätigt somit auch die Annahme eines Nebeneinanders von Räumen bzw. der möglichen Pluralität von Raum (Löw 2001/2017; Schroer 2019). Verstanden „wird Raum selbst als sozial produziert, damit sowohl Gesellschaft strukturierend als auch durch Gesellschaft strukturiert und im gesellschaftlichen Prozess sich verändernd“ (Löw/Sturm 2019: 4). Auch wenn nun schon deutlich wird, warum der relationale immer schon ein sozialer Raum ist, soll im Folgenden noch etwas genauer bestimmt werden, was mit dem Präfix ‚sozial‘ in der Sozialraumdebatte der Sozialen Arbeit Ausdruck finden soll.

2.4 Der Sozialraumbegriff

Das hier im Weiteren vorgestellte Verständnis von Sozialraum stützt sich wesentlich auf Überlegungen von Ulrich Deinet, Fabian Kessl und Christian Reutlinger. Ausgangspunkt ist dabei das bereits erläuterte, von diesen Autoren vertretene, relationale Raumverständnis (Reutlinger et al 2010: 13). Der Sozialraum wird in dem Sozialraum-Diskurs der Sozialen Arbeit als uneinheitlicher, vielfältiger und heterogener Raum gefasst (Reutlinger 2018: 605). Der Sozialraum stellt dabei ein subjektives Konstrukt einer Lebenswelt dar, in Form dessen die Frage nach dem Wie der Gestaltung subjektiver Lebenswelten und ihrer Strukturierung eingebettet ist (Reutlinger 2018: 611; Deinet 2009: 18). Für den sich ständig (re)produzierenden Sozialraum wird von Kessl und Reutlinger (u. a. 2016: vii) die Metapher „Gewebe“ herangezogen, da er an einen „heterogen-zellulären Verbund“ erinnert. In den Sozialraum eingeschrieben und als relativ stabile soziale Handlungsmuster dienen dabei die heterogen historischen Entwicklungen, kulturelle Prägungen und politische Entscheidungen (Reutlinger 2018: 615f.). „Mit Sozialraum werden […] der gesellschaftliche Raum und der menschliche Handlungsraum bezeichnet, das heißt der von den handelnden Akteuren (Subjekten) konstituierte Raum und nicht nur der verdinglichte Ort (Objekte). Ein solches Raumverständnis schließt an jüngere sozialgeografische, soziologische und erziehungswissenschaftliche wie sozialpädagogische Diskussionen an“ (Kessl/Reutlinger 2010: 25). Die „Sozialraumperspektive“ (ebd.) ist immer auf die „von Menschen konstituierten Räume der Beziehungen, der Interaktion und der sozialen Verhältnisse“ (ebd.) gerichtet. Für Reutlinger geht es darum, „den ‚Sozialraum‘ von den Konstruktionsleistungen bzw. Handlungen des dynamischen Subjekts her aufzuschließen“ (Reutlinger 2009: o. A.), womit auch die Herausforderung für die Soziale Arbeit resp. die Sozialpädagogik benannt ist: Es geht um ein (Mit)Weben und ein (Mit)Gestalten der professionellen Praxis unter Beachtung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse an dem Gewebe Sozialraum (Reutlinger 2018: 616). Die zentrale Anforderung an die Sozialpädagogik lautet in Anschluss daran, dass sie eine sozialräumliche Sensibilität für die Praktiken des Alltags entwickeln muss, um diese entschlüsseln zu können (Reutlinger 2018: 616). Nur so kann sie als Profession fachlich handlungsfähig sein und bleiben (Kessl/Reutlinger 2018: 1600). Sozialräumliche Ansätze in der Sozialpädagogik sind, nach Deinet (2009: 18), demnach weniger als ein bestimmtes „inhaltliches Konzept“ zu verstehen, sondern eher als (sozial)pädagogische Haltung (hierzu auch Krisch 2009: 161). Da deutlich geworden ist, dass der Begriff und das Verständnis des Sozialraumes in der Sozialen Arbeit deckend zu denen des relationalen Raumes sind, wird im Folgenden ‚Sozialraum‘ als fachspezifischer Begriff verwendet.

3. Zur Sozialräumlichkeit des virtuellen Raumes

Zur Beschreibung bzw. Kategorisierung virtuellen Raumes soll hier ein konsequent relationales Raumverständnis herangezogen werden, welches erlaubt — und dies wird zu zeigen sein — virtuellen Raum als Produkt sozialer Praxis und damit als Sozialraum zu kategorisieren und so wissenschaftlich beschreib- wie analysierbar zu machen.

Soziolog:innen wie Löw (2001/2017) oder Dekker (2012) haben bereits auf einen Grundwiderspruch in der Raummetaphorik aktueller Diskurse hingewiesen. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass mit neuen Technologien vermeintlich ein Verschwinden von Raum einhergeht, aber dennoch Raummetaphern für deren Beschreibung verwendet werden (Dekker 2012: 45ff.). Diagnosen, die virtuellem Raum seine Raumcharakteristika absprechen, weisen jedoch nicht nur ein euklidisches Raumverständnis auf, sondern helfen auch nicht dabei, virtuellen Raum überhaupt kategorisierbar zu machen. Markus Schroer (2006/2012: 257f.) fasst kritisch zusammen: „Sobald etwas keine konstanten Grenzen hat, keine dauerhafte Einteilung in oben und unten, links und rechts erkennbar ist, kann es schon kein Raum mehr sein“. So lange ein absolutes Raumverständnis zugrunde liegt, wird sich virtueller Raum also nicht auf seine potenziellen Sozialraumcharakteristika untersuchen lassen, da virtueller Raum dann nur dazu in der Lage wäre, globale Kommunikation oder Ökonomie zu beschleunigen, jedoch nicht dazu „an der grundlegenden Reorganisation oder Neuschaffung von Räumen mitzuwirken“ (Dekker 2012: 68). Gleichzeitig wird damit auch den Akteur:innen die Möglichkeiten zur (Re)Konstruktion von Räumen abgesprochen. Solch essentialistische Denkmuster, die Mitgliedern einer pluralen Gesellschaft ihre Handlungsmacht absprechen, scheinen eine schlechte Ausgangslage für die Soziale Arbeit und können zudem nur zu einer Negierung möglicher Raumkonstruktionsphänomene innerhalb virtuellen Raumes führen.

Damit einher geht die Gefahr einer Deklaration virtuellen Raumes als Gegen- oder Parallelwelt, was, wie u. a. Dekker (2012) und Schroer (2003; 2006/2012; 2019) gezeigt haben, durch eine Vermischung von Raum- und Gesellschaftsbegriff dazu führt, virtuellen Raum lediglich in Bezug auf Unterschiede zur Realwelt zu untersuchen. Diese ersten Ausführungen zur Sozialräumlichkeit des virtuellen Raumes lassen vermuten, dass dieser bisher unter anderem deshalb nicht als (Sozial)Raum kategorisiert wird, weil er in erster Linie als nicht-sozialer Raum betrachtet wurde.

3.1 Virtueller Raum als Sozialraum

Wird hingegen nun konsequent, also raumtheoriekonform, das vorab ausgeführte Sozialraumverständnis der Sozialen Arbeit herangezogen, zeigt sich keine Notwendigkeit dafür, virtuellen Raum nicht als Sozialraum anzuerkennen. Dem relationalen Raumverständnis mit samt seiner Annahme der Pluralität und Verflechtung von Raum folgend, ist davon auszugehen, dass Räume in sozialer Praxis kontinuierlich neu hergestellt werden, deshalb auch in jeder anderen und somit auch in virtueller Form denkbar sind (Dekker 2012: 67). Bereits Löw (2001/2017: 103) weist darauf hin, dass der ‚Barlovian Cyberspace‘ einen global organisierten Raum ermöglicht, der nicht örtlich fixiert, sondern grenzenlos und veränderlich ist. So „werden virtuell Räume selbst geschaffen“ (ebd.: 96) wodurch „das Netz selbst“ (ebd.: 95) einen Raum darstellt. Die dem Begriff des Handelns anhaftende Vorstellung, in einem „einheitlichen, homogenen Raum“ (ebd.: 101) zu agieren, gehört vor dem Hintergrund des virtuellen Raumes einmal mehr hinterfragt, denn es zeigt sich, „daß in virtuellen Räumen systematisch wiederholt wird, was bereits in der verinselten Raumaneignung vorgeben wird: die Bezugnahme auf einen nicht einheitlichen Raum“ (ebd.: 100).

Ausgehend von einem konsequenten Sozialraumverständnis scheint virtueller Raum seine Differenzierungskriterien gegenüber realweltlichem Raum in Bezug auf Sozialität zu verlieren, denn vor der Annahme der Konstitution von Sozialraum durch soziale Praxis scheinen weder Lokalität noch Grenzen notwendig charakteristisch (Dekker 2012: 76; Paetau 1999: 271; Schwerthelm 2020: 17). Was es demnach braucht, ist ein Verständnis von Raum als Produkt sozialer Praxis, dass zudem von einer Verflechtung virtueller und realweltlicher Dimensionen von Raum ausgeht, da diese sich aus dem Prozess seiner Konstitution durch soziale Praxis begründen (vgl. Dekker 2012: 77; Schwerthelm 2020: 17). Nach Löw (2001/2017: 198) werden Orte als „Ziel und Resultat der Platzierung“ durch die Konstitution von Raum hervorgebracht und Orte bringen wiederrum die Konstitution von Raum mit sich. Auf den Gegenstand des virtuellen Raumes bezogen gilt dies ebenfalls, insofern er durch soziale Praxis konstituiert ist.

Zudem ist die Organisation des virtuellen Raumes nicht unabhängig von der Organisation realweltlichen Raumes zu verstehen (Dekker 2012: 48). Dies liegt darin begründet, dass virtueller Raum und dessen räumliche Struktur durch soziale Praxis hergestellt wird und somit auch gesellschaftliche Verhältnisse (re)produziert werden. Dekkers (2012:48) Annahme, dass „[r]ealweltliche und virtuelle Raumstrukturen […] in der Praxis der Internetnutzung stets umfassend miteinander verschränkt sind“ lässt sich aus einem konsequent relationalen Raumverständnis nicht falsifizieren und gilt als Grundlage für die weitere Diskussion. Virtueller Raum ist demnach weder eine Fiktion noch eine „Utopie“ (Foucault 1967/2018: 320) im Foucaultschen Sinne, da mit ihm durchaus reale Orte verknüpft sein können.

3.2 Verflechtung und Interdependenz von Sozialraum

Unter Bezugnahme der Möglichkeit eines Nebeneinanders von Räumen wird deutlich, dass die Organisation virtuellen Sozialraumes nicht unabhängig von der Organisation realweltlichen Sozialraumes zu verstehen ist und vice versa (Dekker 2012: 48). „Die virtuellen Räume des Internet sind in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit ohne die Erfahrung realweltlicher Räume in ihrer spezifischen Zeitgestalt nicht zu erklären — und zwar ebenso wenig wie die Erfahrung realweltlicher Räume in der Gegenwart ohne die vielfältigen mit der Entwicklung virtueller Räume verbundenen Erfahrungen zu begreifen sind“ (ebd.: 81). Für die Auseinandersetzung mit virtuellem Sozialraum ist daher ein relationaler Raumbegriff elementar, der die Organisation des Nebeneinanders nicht ausschließt, um auch bei fortschreitenden Globalisierungs- und Digitalisierungsprozessen mit der analytischen Kategorie Sozialraum arbeiten und ihn in seiner Pluralität begreifen zu können.

Gedacht werden kann die Verflechtung realweltlichen und virtuellen Sozialraumes mithilfe von Foucaults (1966/2017) Entwurf der Heterotopien, der anderen Räume, sowie der Foucaultschen Spiegelmetapher (1967/2018: 321): „Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann“. Bezogen auf virtuellen Sozialraum kann hieraus gezogen werden, dass durch die Platzierung im Virtuellen eine Bewusstwerdung der Platzierung im Realweltlichen, also eine Herstellung von Wirklichkeit erfolgt, sowie dass eine Platzierung im virtuellen Sozialraum nicht ohne zeitgleiche Platzierung im realweltlichen Sozialraum zu denken ist: Der Spiegel kann als eine Schnittstelle zweier Dimensionen des Sozialraumes verstanden werden.

Dekker (2012: 84f.) hat auf Grundlage dessen vorgeschlagen, den Computer als „elektronischen Spiegel“ anzusehen. Dieser Vorschlag ist heute insofern anzupassen, als dass alle digitalen Endgeräte, wie Smartphones, Tablets etc., inkludiert werden müssten. So erscheint es sinnvoll nicht länger von einem antiquarisch anmutenden ‚elektronischen Spiegel‘ zu sprechen, der mit dem Zusatz der Elektrizität eher an eine Kaffeemühle erinnert als an hochmoderne akkubetriebene Endgeräte, sondern von einer mobilen digitalen Schnittstelle, als Bindeglied zwischen virtuellem und realweltlichem Sozialraum.

Verschärft durch das heute nahezu unbegrenzte Aufrechterhalten dieser Schnittstelle und das mühelose Betreten des Virtuellen bzw. das andauernde Springen zwischen oder gar das zeitgleiche ‚Sein‘ in virtuellem und realweltlichem Sozialraum, ist davon auszugehen, dass die subjektive Differenzierung nach einem realweltlichen bzw. virtuellen Ursprung der als real empfundenen Vorstellungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen eher abnimmt. Personen bleiben physisch im realweltlichen Sozialraum verortet, jedoch werden durch die Schnittstellen zwischen realweltlichem und virtuellem Sozialraum Heterotopien konstituiert, welche spezifische Erfahrungen ermöglichen (Dekker 2012: 85).

Diese Erfahrungen sind aus einem konsequent relationalen Raumverständnis dann eben nicht als Fiktion zu betrachten, sondern als Wirklichkeit: Virtueller Sozialraum wird durch die Prozesse sozialer Praxis – ‚Syntheseleistung‘ und ‚Spacing‘ – konstituiert und ist insofern als weitere Realitätsdimension anzuerkennen. Unter Betrachtung der Spiegelmetapher (Foucault 1967/2018) und der ‚Syntheseleistung‘ nach Löw (2001/2017) geschieht das paradoxale ‚Spacing‘ von Personen zeitgleich außerhalb und innerhalb virtuellen Sozialraumes: Es ist folglich davon auszugehen, dass virtueller und realweltlicher Sozialraum eine notwendige Interdependenz besitzen (Schwerthelm 2020: 22).

4. Zur Möglichkeit und Notwendigkeit einer Erweiterung des Sozialraumbegriffs

Wenn nun ‚Neue Medien‘ und Digitalisierung einen — so der interdisziplinäre Kanon — großen Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen ausüben und vice versa, muss sich Soziale Arbeit mit diesen Veränderungen auseinandersetzen und Schlussfolgerungen in ihren Theorien und Konzepten berücksichtigen. Denn ihre Adressat:innen sind von eben diesen Veränderungen räumlicher bzw. gesellschaftlicher Struktur betroffen und dies insofern, als dass sie durch soziale Praxis Sozialraum strukturieren, dieser aber auch gleichsam strukturierend auf soziale Praxis wirkt. Da sich virtueller Raum, wie gezeigt, vollumfänglich als Sozialraum kategorisieren lässt, weil er alle Charakteristika des relationalen (Sozial)Raumverständnisses erfüllt, bietet es sich an, dass Soziale Arbeit diese Kategorisierung annimmt, um auch virtuellen Raum adäquater beschreib- und analysierbar zu machen.

Vor diesem Hintergrund scheint es notwendig, das aktuelle Sozialraumverständnis der Sozialen Arbeit kritisch zu prüfen — vor allem dann, wenn die Soziale Arbeit auch vor der zunehmenden Relevanz virtuellen Raumes eine handlungsfähige Profession bleiben und nicht Gefahr laufen möchte, Bereiche der Lebenswelt ihrer Adressat:innen nicht analysieren zu können, bzw. zu diffamieren oder gar auszublenden. Trotz der zunehmenden Relevanz virtuellen Raumes für Adressat:innen der Sozialen Arbeit scheint das aktuelle Verständnis von Sozialraum primär realweltlich, was eine binäre oder hierarchisierende Haltung provoziert (Tillmann 2014: 274). Im Forschungsfokus stehen dann eher Nutzungsarten, -verhalten und -dauer sowie ‚Medienkompetenz‘, nicht aber die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen (Eckhardt 2019: 244f.). Diagnostiziert werden beispielsweise „Verhäuslichung“ (Böhnisch/Schröer 2019: 151) oder ein Verlieren in eine „mentale Parallelwelt“ (kritisch Eckhardt 2019: 244). Es findet sich Sozialraum als guter, echter, bearbeitbarer Raum auf der einen und virtueller Raum als gefahrenvolle Parallelwelt auf der anderen Seite. Eine kritische Anfrage an Theorien, Begriffe und Konzepte der Sozialen Arbeit erscheint zudem notwendig, um die im 16. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2020: 303) formulierten Ziele „Förderung von digitaler Handlungsfähigkeit im Sinne einer Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen“ und „Befähigung zu einer demokratischen Selbstbestimmung in einer digitalisierten Lebenswelt“ zu erreichen.

Vor diesem Hintergrund wird hier vorgeschlagen, diese vermeintliche Dichotomie zu entkräften, indem dem relationalen Raumverständnis konsequent folgend, eine Verflechtung virtuellen und realweltlichen Raumes angenommen wird. Es gilt demnach „diese binäre Trennung reflexiv zu überwinden und die vielfältigen und komplexen Raumbezüge […] zu erkennen und damit das ‚Sowohl-als-Auch‘ zum Ausgangspunkt von Analysen und für Empfehlungen für die soziale Praxis zu machen“ (Tillmann 2010: 150). Mit dem in der Sozialen Arbeit vorherrschenden Begriff von Sozialraum als relationalem Raum erscheint die Unterscheidung zwischen realweltlichem und virtuellem Sozialraum als voneinander unabhängige und klar abgrenzbare Gegenstände auch kaum haltbar. Virtueller Raum als Produkt sozialer Praxis lässt sich als Sozialraum kategorisieren. Soziale Arbeit sollte in diesem Sinne ein konsequentes Verständnis von Sozialraum etablieren, das ermöglicht Potenziale des Handelns im virtuellen Sozialraum zu entdecken. Ausgehend von dem zugrundeliegenden Sozialraumverständnis wird daher befürwortet, von realweltlichen und virtuellen Dimensionen von Sozialraum zu sprechen, um virtuellen Raum benenn-, analysier- und bearbeitbar zu machen und implizite Zuschreibungen wie ‚echt‘ oder ‚unecht‘ nicht weiter zu reproduzieren. Die Anerkennung virtuellen Raumes als dem Sozialraum zugehörig, bietet die Möglichkeit, begründet durch die Annahme der Interdependenz und die der Pluralität von Raum, die hierarchisierend wirkende Dichotomie zwischen realweltlichem und virtuellem Raum idealiter zu überwinden, mindestens jedoch kritisch anzufragen (Tillmann 2014: 274; Schwerthelm 2020).

Zusammenfassend wäre Sozialraum somit erstens eher ein Geflecht aus realweltlichen und virtuellen Dimensionen von Raum zu betrachten. Zweitens wäre virtueller Raum als Sozialraum anzuerkennen, da er durch soziale Praxis konstituiert ist und seine (An)Ordnung die soziale Praxis (vor)strukturiert, diese jedoch veränderlich bleibt. Drittens ist von einer Interdependenz auszugehen, da soziale Praxis und räumliche Strukturen in dem einen ebendiese in dem anderen bedingen. Viertens wäre mit einem konsequenten Sozialraumverständnis die Reduktion von Raum auf einen territorialen Ort aufzuheben, da sich im virtuellen Raum Orte vielmehr durch soziale Praxis konstituieren und der symbolische Ort aus einem Raumgeflecht hervorgeht.

Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, dass sie sich auch in Bezug auf virtuellen Sozialraum von einem absoluten Raumverständnis verabschieden sollte. Bisweilen gibt es jedoch Arbeitsfelder, in deren Konzepten Raum als absolut gelesen werden kann (Richter 2019b: 346f.). Dort wäre es elementar Sozialraum als Analysekategorie einzuordnen, um ihn vor der Gefahr zu schützen, zu einem Behälter degradiert zu werden, „in dem sich Soziales abspielt“ (Schroer 2019: 16). Anders gesagt: Der Abschied vom absoluten Raumverständnis würde Soziale Arbeit und ihre Fachkonzepte nicht verunmöglichen, wenn beachtet wird, dass aus einem relationalen Raumverständnis kurzfristige Verfestigungen von Sozialraumstrukturen — jedoch nicht von Raum an sich — denkbar sind. Wenn „Räume […] ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ (Kessl/Reutlinger 2010: 21) sind, kann auch diese Produktion wie „jede Produktion zu einem — und sei es auch nur vorläufigen — Abschluss kommen“ (Schroer 2019:14). Das kurzfristige „Produkt Raum“ (ebd.) scheint notwendig für Fachkonzepte Sozialer Arbeit resp. Sozialpädagogik, die ihren räumlichen Gegenstand bestimmen und zumindest vorübergehend festschreiben müssen, um handlungsfähig zu sein. Sozialraum muss aber als veränderliches Produkt sozialer Praxis begriffen werden und nicht als absoluter also beständiger Behälter (vgl. ebd.: 16). Relevant ist hier, dass nicht der Sozialraum verfestigt ist, sondern die räumlichen Strukturen, die aus der „(An)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen zu Raum“ (Löw 2001/2017: 226) entstehen. Räume sind als räumliche Struktur zu bezeichnen, „wenn sie in der Regel festgeschrieben oder durch Ressourcen abgesichert und in Institutionen eingelagert sind“ (ebd.). Das Räumliche ist demnach als Aspekt des Gesellschaftlichen zu verstehen, nicht als sein Gegenpol (ebd.).

Die Konsequenz hieraus besteht für die Soziale Arbeit darin, Sozialraum potenziell getrennt vom territorialen Ort denken zu können, um die erneute Implikation eines absoluten Raumverständnisses zu vermeiden (Schroer/Wilde 2010: 185). Hierdurch kann dem, für das Alltagshandeln der Adressat:innen Sozialer Arbeit relevanten, virtuellen Sozialraum mehr Aufmerksamkeit zukommen und die Adressat:innen gleichsam als handelnde Akteur:innen ernstgenommen werden (Schroer 2019: 17). Denn räumliche Strukturen ermöglichen Handeln, können Agency aber auch einschränken (Löw 2001/2017: 226). Anschließend an die These von Löw (ebd.: 264), dass Veränderungen der Raumphänomene nur erfasst werden können, wenn nicht länger zwei Realitäten angenommen werden, muss die Schlussfolgerung für die Soziale Arbeit ähnlich sein — zumal Raummetaphern für virtuellen Sozialraum in dem Diskurs der Sozialen Arbeit bereits Verwendung finden (Schwerthelm 2020).

5. Ein Revisionsvorschlag für den Sozialraumbegriff

Der hier entwickelte konzeptionelle Vorschlag verweist auf ein konsequent relationales Verständnis von Sozialraum in seiner raumtheoretischen Denkart und soll vermeiden, dass Soziale Arbeit virtuellen Sozialraum als ermächtigenden Erfahrungsraum länger ausschließt, obwohl seine Kategorisierung als sozialer Raum theoretisch begründbar ist. Bei einer Betrachtung von Sozialraum als Analysekategorie muss reflexiv mitgedacht werden, dass kurzfristig verfestigter Sozialraum veränderlich ist und dass sozialräumliche Strukturen verfestigt sind, nicht aber der Sozialraum selbst. Es wird daher vorgeschlagen in Anlehnung an die raumtheoretischen Überlegungen von Löw und die disziplinären Vorarbeiten von u. a. Kessl und Reutlinger Sozialraum wie folgt zu definieren:

Sozialraum als Gewebe virtueller und realweltlicher Dimensionen ist zu verstehen als durch die Prozesse des Spacings und der Syntheseleistung sozialer Praxis konstituierte relationale (An)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen an Orten, die sich in räumlichen Strukturen kurzfristig verfestigen kann, jedoch grundsätzlich veränderlich bleibt.

Gewonnen werden kann mit dieser Definition nicht nur eine klare Kategorisierung für den bisher nicht bzw. nicht eindeutig kategorisierten virtuellen (Sozial)Raum, sondern auch eine Grundlage für eine reflexive Überarbeitung des sozialpädagogischen Sozialraumverständnisses. Aufklärung kann insofern geleistet werden, dass durch diesen Definitionsvorschlag Klarheit darüber gewonnen ist, dass nicht der Sozialraum verfestigt ist, sondern lediglich seine sozialräumlichen Strukturen dies sein können. Dies bedeutet, dass Soziale Arbeit mit einem relationalen Raumbegriff arbeiten und in ihren sozialraumorientierten Fachkonzepten die Verfestigung von sozialräumlichen Strukturen benennen kann, ohne dabei in einen Konflikt zu geraten. Für den Diskurs braucht es demnach, so der Vorschlag, den Begriff Sozialraum zur Auseinandersetzung mit Raumkonstitutionen und den der sozialräumlichen Struktur zur Auseinandersetzung mit (kurzfristig verfestigen) gesellschaftlichen Verhältnissen.

Auch wenn hier für ein Zusammendenken virtueller und realweltlicher Dimensionen als Sozialraum argumentiert wird, soll nicht die vollständige Gleichheit von realweltlichem und virtuellem Sozialraum unterstellt werden. Vielmehr soll im Sinne des oben beschriebenen Nebeneinanders von Räumen ihre Gleichzeitigkeit und Interdependenz verdeutlich werden. Ist virtueller wie realweltlicher sozialer Raum als Sozialraum zu kategorisieren, ist zumindest potenziell eine Gleichwertigkeit in Bezug auf die Erfahrungen von Menschen anzuerkennen. Inwiefern sich virtuelle von realweltlichen Erfahrungen unterscheiden, welche Möglichkeiten und Grenzen virtueller Sozialraum in Bezug auf die Identitätsbildung aufweist, gilt es auf dieser Grundlage (empirisch) zu analysieren.

Sozialraum ist — konsequent relational gedacht — plural, interdependent, konstituiert sich durch soziale Praxis, kann zwar temporär verfestigt sein, ist jedoch grundsätzlich veränderlich. Mit dem theoretischen Verständnis von Sozialraum sollte es sich deshalb ebenso verhalten.

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Fußnoten

[1] ‚Neue Medien‘ wird hier als Begrifflichkeit reproduziert. Welche Medien wann als neu bezeichnet werden ist relativ (Unger 2010: 99). Die Argumente für und gegen ‚Neue Medien‘ verändern sich jedoch nur marginal — unabhängig davon ob offline oder online. ‚Neue Medien‘ meint daher „sich auf […] technologischer Grundlage ständig erneuernde Medien“ (Sesink 2008: 407). Es wird hier eine Differenzierung zwischen ‚(Neuen) Medien‘, nach McLuhan verstanden als „Technologie, mittels derer der Mensch mit seiner Umwelt in Beziehung tritt“ (Krotz 2008: 257), und sozialem Raum, verstanden als durch soziale Praxis konstituiert, vollzogen.

[2] Es wird das Begriffspaar virtuell und realweltlich verwendet, um eine technokratische Perspektive, die durch die Verwendung von ‚digital‘ entstehen würde, zu vermeiden.


Zitiervorschlag

Schwerthelm, Annkathrin (2021): Sozialraum ist veränderlich, sein Verständnis sollte es ebenfalls sein. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/sozialraum-ist-veraenderlich-sein-verstaendnis-sollte-es-ebenfalls-sein.php, Datum des Zugriffs: 26.04.2024