Berufsfeld Community – Nachbarschaften als Beruf. Ergebnisse eines partizipativ-explorativen Forschungsprojekts in der Deutschschweiz

Christian Reutlinger, Caroline Haag, Nicola Hilti, Christina Vellacott, Madeleine Vetterli, Jenny Baese

Der hier vorliegende Beitrag beschreibt in kurzer Form die Entstehung, Ausgestaltung und die Hauptergebnisse des Forschungsprojektes „Berufsfeld Community – Nachbarschaften als Beruf“. Im Fokus dieser Studie steht die Identifikation der nötigen inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung von nachbarschaftsorientierten Fachstellen. Ein ausführlicherer Gesamtforschungsbericht zu diesem Projekt kann am Ende dieses Beitrags heruntergeladen werden.

«Fachstelle Gemeinschaftsentwicklung», «Wohn- und Siedlungsassistentin», «Leiterin Partizipation», «Projektleiter Wohn- und Lebensqualität», «Siedlungsbetreuer» oder «Wohn- und Alltagscoach» – diese und viele weitere Stellenbezeichnungen haben eines gemeinsam: Es geht darum, das Zusammenleben im Kontext von Wohnen professionell zu gestalten. Dabei liegt der Fokus auf unterschiedlichen Ebenen wie einer Gemeinde, einem Quartier oder einer Siedlung, sowie auf unterschiedlichen Zielgruppen, wie älteren Menschen oder Migrantinnen und Migranten. Die Zunahme solcher Stellen – insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz – bedeutet erst einmal, dass hier ein neues professionelles Handlungsfeld entsteht.

Welche Herausforderungen stellen sich im Berufsalltag der Stelleninhaberinnen und -inhaber? Was braucht es auf organisatorisch-struktureller Ebene, damit professionell gehandelt werden kann? Wie kommt eine solche Stelle «zum Fliegen»? Antworten hierzu ermittelte das am Institut für Soziale Arbeit und Räume der FHS St.Gallen (FSAR-FHS) angesiedelte Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Berufsfeld Community».

1. Organisation und Methodik des Forschungsprojekts

Ziel des Projekts «Berufsfeld Community» war es, die Arbeitskontexte und insbesondere die möglichen Herausforderungen und Problemlagen nachbarschaftsorientiert arbeitender Fachpersonen zu erfassen und auf dieser Basis Gelingensbedingungen fu?r die erfolgreiche Implementierung und Ausgestaltung entsprechender Stellen(-konzepte) abzuleiten. Dafür war folgende Forschungsfrage leitend: Wo liegen die Herausforderungen nachbarschaftsorientierter Stellen und welche Faktoren tragen zu deren Erfolg bei?

In einem ersten Schritt wurden in der Deutschschweiz Stellen ausgesucht, die folgendem Kriterium gerecht werden: Es handelt sich um eine Stelle mit explizitem Gemeinschaftsbezug, d. h. der Aufgabenbereich liegt nicht im Bereich reiner Serviceleistungen (z. B. Wäscheservice, Paketservice), sondern im Bereich der professionellen Gestaltung des Zusammenlebens in Nachbarschaften. Insgesamt entsprachen über 60 Stellen diesem Kriterium, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht. Da dem Forschungsprojekt eine qualitative Methodik zugrunde lag, wurden 15 Stellen ausgewählt, welche die Bandbreite des Berufsfelds abdecken. Das heisst, dass die ausgewählten Stellen die Heterogenität der Arbeitskontexte in Bezug auf Trägerschaften, Zielgruppen und territoriale Reichweite widerspiegeln. Allerdings zeigte sich bei der Auswahl der Stellen zweierlei: Als Trägerschaften überwiegen Genossenschaften und es besteht eine räumliche Konzentration auf den städtischen Bereich – vor allem auf den Großraum Zürich.

Entsprechend der forscherischen Haltung wurde das Projekt partizipativ, das heisst unter aktiver Beteiligung der betreffenden Fachpersonen aus der Praxis, durchgeführt. Die Fachpersonen beteiligten sich im Rahmen von drei Workshops und differenzierten die gewonnenen Ergebnisse massgeblich. Zusätzlich bildeten vier dieser Fachpersonen eine interne Erkundungsgruppe und besuchten gemeinsam drei Arbeitsorte von teilnehmenden Stelleninhaberinnen und -inhabern. Die Aufgabe dieser Erkundungsgruppe bestand darin, den Arbeitskontext der Fachpersonen vor Ort zu beobachten, zu verstehen, zu hinterfragen und zu reflektieren. Im Rahmen dieser Erkundungsgruppe erforschten die Fachpersonen gemeinsam mit dem Team vom IFSAR-FHS zentrale Herausforderungen und Gelingensbedingungen der Stellen.

2. Forscherische Haltung: Fragen und Verstehen aus verschiedenen Perspektiven

In den Erkundungsbesuchen vor Ort schlüpften die Teilnehmenden in verschiedene Rollen und befragten aus diesen heraus die Arbeitskontexte der Fachpersonen, die sie besuchten. Im Folgenden werden die Perspektiven beschrieben und um exemplarische Fragen ergänzt, welche aus diesen Perspektiven heraus vor Ort gestellt worden sind.

Perspektive Kind: Das Kind ist neugierig; es darf alles, was klar erscheint, hinterfragen – und traut sich auch. Es will und kann Dinge von Grund auf verstehen. Dinge und Zusammenhänge sollen dabei nicht verniedlicht oder trivialisiert werden; zentral ist vielmehr, mit der Kinderperspektive die Chance zu haben, die Dinge grundlegend verstehen zu wollen.

Beispielfragen: Menschen pflegen, wie macht man das? Wo spielen eure Kinder? Wer gibt euch Geld? Dürfen alle zu euch kommen, die wollen? Kontrolliert jemand, was du so machst? Hilft dir jemand? Warum machen es nicht alle so wie ihr?

Perspektive Fremde bzw. Fremder: Die oder der Fremde kann zum Beispiel eine Migrantin, ein Tourist oder ein Besucher sein; es ist jemand, der befremdet ist von Dingen, sozialen Zusammenhängen, Gepflogenheiten – von dem, was er an einem ihm fremden Ort hört und sieht. Das Fremde bzw. Befremdende soll nicht an den eigenen Überzeugungen gemessen werden; vielmehr geht es um das Verstehen und Verstehen-Wollen der bzw. des anderen.

Beispielfragen: Wie möchten alte Menschen in der Schweiz leben? Ist es hier üblich, dass Ältere unter sich bleiben? Wo sind die Kinder? Ist schlicht und sauber für euch gemütlich? Wohin gehen die Leute nach einer Wohnungskündigung?

Perspektive Heiratsvermittlerin bzw. Heiratsvermittler: Die Heiratsvermittlerin bzw. der Heiratsvermittler sucht nach Verbindungen, Passendem und Ergänzendem. Er muss zuerst zuhören und verstehen und gegebenenfalls nachfragen, um mehr über sein Gegenüber zu erfahren. Erst wenn sie bzw. er sein Gegenüber kennt und versteht, kann sie bzw. er den richtigen Partner bzw. die passende Ergänzung suchen und finden. Sie bzw. er geht von seinem Gegenüber aus und denkt nach aussen. Die Heiratsvermittlerin bzw. der Heiratsvermittler soll keine Zwangsehe arrangieren. Wer oder was passend oder ergänzend ist, richtet sich nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Gegenübers.

Beispielfragen: Wie wählt ihr eure Bewohnerinnen und Bewohner aus? Wie seid ihr in Kontakt mit der Ärzteschaft, mit Spitex, Schule etc.? Wer löst euch ab, wenn ihr frei habt? Habt ihr Vorbilder für die Art und Weise, wie euer Haus geführt wird? Wie harmonisch läuft es in der Organisation? Was ist beim externen Netzwerk wichtig? Was gewinnt jemand mit dir als Siedlungsleiterin? Mit wem reflektierst du deine Arbeit?

Perspektive Zweiflerin bzw. Zweifler: Logiken und Zusammenhänge sind nicht immer gradlinig und unmittelbar nachvollziehbar, sondern oftmals auch ungeordnet, unzusammenhängend und widersprüchlich. Die Zweiflerin bzw. der Zweifler achtet besonders auf «Knackpunkte», Ungereimtheiten und Widersprüche, macht mit einer konstruktiv-zweifelnden Haltung auf diese aufmerksam und fragt nach. Die Haltung der zweifelnden Person ist niemals destruktiv, sondern immer kritisch-konstruktiv.

Beispielfragen: Sind eure Angebote nicht zu «alterslastig»? Haben «randständige» Menschen auch Zugang zu eurem Angebot? Macht ihr die Menschen nicht zu «abhängig»? Wie erfahre ich überhaupt, was läuft? Weshalb hast du nur eine 60-Prozent-Stelle?

Sowohl die Entwicklung der Methodik als auch die Erhebung erfolgten gemeinsam mit der Gruppe von teilnehmenden Fachpersonen – ganz im Sinne einer «mitforschenden Praxis». Separate Einzelinterviews mit Fachpersonen und Vertreterinnen und Vertretern von Trägerschaften brachten weitere Themen hervor und differenzierten bereits bekannte Themen. Die insgesamt 24 Einzelinterviews wurden transkribiert und hinsichtlich Herausforderungen und Gelingensbedingungen analysiert.

3. Ergebnisse

Die Befunde zeigen, dass sich Trägerschaften, die solche Stellen schaffen wollen, mit folgenden Themenbereichen und Fragestellungen auseinandersetzen sollten:

Ziele und Aufgaben der Stelle klären

Ziele, Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der Fachpersonen sind unterschiedlich klar in Stellenbeschreibungen formuliert. Gleichzeitig sind diese im Arbeitsalltag durch die Fachpersonen in unterschiedlichem Masse (mit-)gestaltbar.

Mit der Schaffung der Stelle sollte die Trägerschaft die Ziele und Aufgaben im Sinne von Leitplanken (grob) vordefinieren. Dies hilft, sie gegenüber den Stellenbewerberinnen und -bewerbern transparent zu kommunizieren und Orientierung zu verleihen. Zugleich braucht es Offenheit und Gestaltungsspielraum, damit die Ziele und Aufgaben von der eingestellten Fachperson konkretisiert und weiterentwickelt werden können. Wichtig ist, die Stelle nicht mit zu vielen Zielen und Aufgaben zu überladen und die Stellenprozente den Zielen und Aufgaben entsprechend festzulegen.

Die Ausrichtung des Angebots der Stelle gestalten

Die Angebote der Organisationen werden zunächst an einer räumlichen Ebene ausgerichtet (Siedlung, Quartier, Gemeinde). Zusätzlich fokussieren die Trägerschaften auf bestimmte Zielgruppen wie Altersgruppen bzw. durchmischte Gruppen oder mehr auf die Themen der Adressatinnen und Adressaten. Die Ausrichtung des Angebots wird unterschiedlich klar definiert, was sich auch in den offiziellen Dokumenten der Organisationen (z. B. Leitbild, Webseite, Stellenausschreibung) widerspiegelt.

Ausgangspunkt jeglicher Überlegungen zur Ausrichtung des Angebots ist die Frage, wer mit dem durch die Stelle geschaffenen Angebot angesprochen werden soll. Bestimmte vordefinierte Zielgruppen, wie z. B. ältere Menschen, erleichtern die Ausgestaltung der täglichen Arbeit. Gleichzeitig werden dadurch viele andere Gruppen und ihre Anliegen nicht mitberücksichtigt. Soll das Angebot auf ein möglichst breites Interesse stossen, sollten die Anliegen von den Menschen vor Ort, beispielsweise den Bewohnerinnen und Bewohnern einer bestimmten Siedlung, eingebracht werden. Damit wäre eher eine sozialräumliche Ausrichtung des Angebots angebracht.

Die organisatorische Einbettung und die Ressourcen der Stelle definieren

Community-orientierte Stellen sind im jeweiligen Gesamtgefüge und auf den verschiedenen Hierarchieebenen innerhalb ihrer Organisation unterschiedlich eingebettet (Organigramm). Ebenfalls divergieren die jeweiligen strukturellen Rahmenbedingungen der Stellen (personelle, zeitliche, finanzielle Ressourcen, etc.) sowie die Geschäftsmodelle der Organisationen (Gemeinden, Genossenschaften, Privatwirtschaft). Zudem ist auch der Etablierungsgrad der Stellen (Projektstelle, unbefristete Stelle) sowie der Organisationen (Phase der Organisationsentwicklung) heterogen.

Die Stelle sollte zu einer Organisation passend eingebettet sein und auch auf einer den Aufgaben und Zielen adäquaten Ebene angesiedelt sein, wie z. B. der Geschäftsleitung zugeordnet oder als Stabsstelle des Vorstands eingerichtet werden. Zur Stelle gehören auch die entsprechenden Begleitmassnahmen wie das Bereitstellen der nötigen finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen (z. B. Büro, Gemeinschaftsraum) sowie das Einräumen einer gewissen Budgetkompetenz. Die Einführung der Stelle ist kommunikativ gut zu begleiten und zu begründen, denn dadurch wird die Basis für eine möglichst reibungslose interne Zusammenarbeit geschaffen. Unterstützend wirkt eine Organisationskultur, in der soziale Themen einen hohen Stellenwert geniessen.

Legitimation und Anerkennung der Stelle unterstützen

Die Fachpersonen stehen unter unterschiedlich grossem Legitimationsdruck gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Kolleginnen innerhalb ihrer Organisation sowie gegenüber ihren Zielgruppen und der Öffentlichkeit. Die Anerkennung der Arbeit ist wesentlich davon geprägt, wie etabliert die Stelle innerhalb der Organisation ist und wie sicht- und allenfalls messbar die Arbeit gemacht werden kann.

Die Aktivitäten der Stelleninhaberinnen und -inhaber sollten ebenso sichtbar gemacht werden wie die durch die Stelle erzielten Ergebnisse. Denn die frühzeitige und transparente Kommunikation der Ziele, Aufgaben und des Mehrwerts der Stelle trägt zur Legitimation und Anerkennung bei – innerhalb und ausserhalb der Organisation. Hinderlich ist dabei, eindeutig messbare Resultate auf Druck herbeiführen zu wollen. Stattdessen sollte ausreichend Zeit zum Aufbau und zur Entwicklung der Stelle eingeplant werden und dabei der Rückhalt und das Vertrauen der Trägerschaft gegeben sein.

Ausbildung, professionelles Selbstverständnis und Persönlichkeit der Fachperson berücksichtigen

Das Selbstverständnis der Fachpersonen ist vielgestaltig und deckt sich nicht immer mit den Erwartungen, die Vorgesetzte, Mitarbeitende sowie Zielgruppen haben. Das berufliche Selbstverständnis hängt auch mit dem Ausbildungshintergrund der Fachpersonen zusammen. Dieser formalen Ausbildung der Fachpersonen messen die verschiedenen Organisationen einen unterschiedlich hohen Stellenwert bei.

Sich von Beginn weg zu eng auf ein bestimmtes fachliches Profil festzulegen, führt zum Ausschluss von Profilen, die sich ebenfalls als passend herausstellen können. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen, sehr breit gefächerten Ausbildungsprofilen sowie mit den gewünschten persönlichen Eigenschaften der Fachpersonen hingegen führt zum entscheidenden Ergebnis: dem Zusammenpassen von organisatorischen Rahmenbedingungen, den stellenbezogenen Zielen und Aufgaben mit dem fachlichen und persönlichen Hintergrund sowie dem professionellen Selbstverständnis der Fachpersonen – und damit zum Erfolg der Stelle.

4. Fazit

Zusammenfassend hat sich gezeigt: Tatsächlich entsteht ein vielgestaltiges neues Berufsfeld, in welchem es darum geht, Nachbarschaften professionell zu begleiten und zu unterstützen. Und vieles spricht dafür, dass durch diese Art von Arbeit ein «Mehrwert» entstehen kann, nicht nur für die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Trägerschaften, sondern auch gesamtgesellschaftlich. Damit dies gelingt, bedarf es bei der Konzeption, Einführung und Entwicklung nachbarschaftsorientierter Stellen einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit sozialen, räumlichen und berufstheoretischen Dimensionen. Nachbarschaften – dies zeigen die Befunde ebenfalls – werden im Alltag der Menschen nicht nur unterschiedlich gelebt. Sie basieren auch auf den verschiedensten Vorstellungen. Deshalb ist immer auch auszuhandeln, wo und wofür es eine professionelle Unterstützung braucht.

PDF IconDer gesamte Forschungsbericht kann hier heruntergeladen werden:
Forschungsbericht, 2. Auflage Juli 2020 (.pdf-Datei, 132 Seiten, 5,6 MB)

Infobox

Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Berufsfeld Community – Nachbarschaften als Beruf»

Laufzeit: 2017 bis 2019
Projektförderung: Age-Stiftung
Durchführung: Institut für Soziale Arbeit und Räume, FHS St.Gallen Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Projektteam: Christian Reutlinger, Caroline Haag, Nicola Hilti, Christina Vellacott, Madeleine Vetterli, Jenny Baese
Praxispartnerinnen und -partner: Stelleninhaberinnen und -inhaber sowie Trägerschaften (Gemeinden, Gemeinnützige, Private)
Fragestellung: Wo liegen die Herausforderungen Community-orientierter Stellen und welche Faktoren tragen zu deren Erfolg bei?


Zitiervorschlag

Reutlinger, Christian, Caroline Haag, Nicola Hilti, Christina Vellacott, Madeleine Vetterli und Jenny Baese (2020): Berufsfeld Community – Nachbarschaften als Beruf. Ergebnisse eines partizipativ-explorativen Forschungsprojekts in der Deutschschweiz. In: sozialraum.de (12) Ausgabe 1/2020. URL: https://www.sozialraum.de/berufsfeld-community.php, Datum des Zugriffs: 27.04.2024