Zur räumlichen Konstruktion von Gewaltausübung – Eine empirische Spurensuche

Anja Pannewitz

1. Einleitung

Meine Ausführungen möchte ich mit einem Gedankenexperiment beginnen. Ich lade Sie dazu ein, einen Tag Revue passieren zu lassen, an welchen Sie sich gut erinnern können. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist dabei zumeist feststellbar, dass das, wovon Sie während dieses Tages umgeben waren, andere Menschen und/oder gebaute bzw. von Menschen gestaltete Umwelt waren. [1] Beide Bereiche – Gesellschaft und Raum – haben die Eigenart, sich regelhaft zu organisieren und dabei aufeinander zu beziehen, so wie es u. a. in der Stadt- und Raumsoziologie [2] sowie der Architektursoziologie [3] untersucht wird. Meine These wird es im Folgenden sein, dass dies auch während der Ausübung von Gewalt der Fall ist.

Gewalt wird gemeinhin in modernen Gesellschaften als soziales Problem bzw. abweichendes oder auch deviantes Verhalten gerahmt. Die dahinterliegende Utopie ist die einer (zunehmenden) Gewaltlosigkeit moderner Gesellschaften. Mit Jan Philipp Reemtsma muss diese Annahme jedoch bei näherer Betrachtung als Illusion bestimmt werden: „Ich rede jetzt nur von den großen Katastrophen: sie liefern immer wieder Beispiele, wo die unsere Moderne konstituierende – so weit bin ich bereit zu gehen – Gewaltaversion außer Kraft gesetzt zu sein scheint.“ (2008: 46; vgl. auch 59). Das Beunruhigende für das utopische Programm der Moderne ist es, dass Gewalt eine Ressource ist, die jeder*jedem und zwar fast jederzeit zur Verfügung steht (Lamnek et al. 2013: 16). Sie kann deshalb auch zu keiner Zeit vollständig beseitigt, sondern ausschließlich (notfalls wieder mittels Gewalt) kontrolliert werden. Die Reaktion auf diese Tatsache ist „stets die Ausweitung des staatlichen Gewaltmonopols gewesen. Es [die Gesellschaft; Anm. d. A.] soll am Ende nur noch staatlich ausgeübte Gewalt zur Eindämmung nicht-staatlicher Gewalt kennen.“ (Reemtsma 2008: 59; zum Gewaltmonopol vgl. auch Hitzler 1999: 176).

Der Diskurs der Beforschung von Gewalt dreht sich mit wiederkehrendem Bezug auf Norbert Elias (1969) und Hans Peter Duerr (1993) darum, ob sie durch Affektkontrolle zunehmend aus sich modernisierenden, zivilisierenden Gesellschaften ausgegrenzt und ausgeschlossen wurde oder ob das nicht gelungen sei (bspw. Hitzler 1999). Damit folgt sie einem normativen Begriff von Gewalt. Albert Scherr (2010) fordert jedoch eine „reflexive Gewaltforschung“, welche nicht moralisch einseitig untersucht und von Gewalttätigkeit auch nicht als abweichendem Verhalten spricht (a.a.O.: 171). Seine Kritik (und nicht nur sie) richtet sich dagegen, dass Gewalt trotz besserer Kenntnis bisher von der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung selbst als gesellschaftliches Randphänomen behandelt würde, indem sie sich als abweichendes Verhalten und Ursachen untersuchend definiere (Scherr 2010: 171; Reemtsma 2008: 49f.). Mit Scherr (2010: 169) kann der Beobachtung von Reemtsma folgend vielmehr festgehalten werden, „dass Gewalt nicht schlicht problematisch und abzulehnen, sondern zugleich ein konstitutives Element sozialer Ordnungen ist.“ (vgl. dazu auch Meuser: 2003).

Um Gewalt als Element sozialer Ordnung zu beforschen, wurde in den Sozialwissenschaften eine „detailgenaue Phänomenologie“ (Scherr 2010: 171; Reemtsma 2008: 49f.) vorgeschlagen bzw. sei eine „rein handlungstheoretische[n] Präzisierung des Gewaltphänomens“ (Hitzler 1999: 12) notwendig, also „die je konkreten Konstellationen und Situationen in den Blick zu nehmen, in denen diejenigen Ereignisse geschehen, die als gewalttätiges Handeln bezeichnet werden.“ (a.a.O.: 174). Ronald Hitzler präzisierte demgemäß in seinem Aufsatz (1999: 15) seinen Vorschlag, „Gewalt als Tätigkeit“ und später auch als „sinnhaftes Handeln“ aufzufassen: „d.h. Handeln, das dem […] subjektiven Entwurf des Täters nach dazu dient, durch wie auch immer gearteten Einsatz von wie auch immer gearteten Zwangsmitteln ein bestimmtes Verhalten zu begrenzen, zu verändern, zu unterdrücken oder hervorzurufen.“ (H.i.O.; a.a.O.: 15). Nur aus der „Täter-Perspektive“ könne Gewalt dabei angemessen phänomenologisch verstanden und erklärt werden, denn nur die handelnde Person wisse, ob sie handelt bzw. gehandelt habe (a.a.O.: 12f.). Handlungstheoretisch machte Hitzler den Gewaltbegriff damit an der Intention einer Person fest, Gewalt zum Zwecke der Ordnung auszuüben (a.a.O.: 14). Allerdings präzisiert er später: „Gewalt als Tätigkeit hat vielleicht nicht immer eine Bedeutung, stets hat sie jedoch einen für den Täter subjektiven, die Gewalt transzendierenden Sinn“ (a.a.O.: 15, H.i.O.).

Mit dem situationistischen Ansatz von Randall Collins (z. B. 2011) wird in der Gewaltforschung jedoch inzwischen von einem täter*innenorientierten Erkenntnisansatz Abstand genommen. Stattdessen gilt die analytische Aufmerksamkeit der Situation, in welcher Gewalt ihre Dynamik entfaltet und damit allen dort Anwesenden (bspw. Equit et al. 2016). Im Zentrum der Erkenntnis steht zudem die These, dass „[t]rotz ihrer Drohungen und selbst in Situationen scheinbar unkontrollierbarer Wut […] Menschen angespannt und häufig voller Angst vor einer unmittelbaren Gewaltanwendung – auch der eigenen“ sind (Collins 2011: 19). Collins bezeichnet dieses Phänomen als Konfrontationsangst, welche in der Regel vorhanden sei und welche überwunden werden muss, wenn Gewalt ausgeübt werden soll (2011). Den Mechanismen der situativen Überwindung von Konfrontationsangst gilt dabei seine Aufmerksamkeit. Gleichwohl wird Kritik am situationistischen Ansatz laut: „Strukturelle oder kulturelle Präventionsmöglichkeiten bzw. Interventionen, die auf das handelnde Zusammenwirken der bereits gewalttätigen Akteure zielen, um etwa Gewaltspiralen zu unterbinden […]“ würden „dadurch aus dem Blick“ geraten (Kron/Verneuer 2020: 413) und wären gerade für Soziale Arbeit relevant.

In diesem Beitrag soll Gewaltausübung in folgender Weise fokussiert werden: Fußend zum einen auf den Annahmen, „dass die Berücksichtigung des Handlungsablaufs für die Erklärung von Gewalt relevant ist." (H.i.O., Kron/Verneuer 2020: 400 im Anschluss an Collins, bspw. 2011) und „dass räumlichen Anordnungs- und Interventionspraktiken eine besondere Bedeutung bei der Produktion und Stabilisierung von Machtverhältnissen zukommt“ (Marquardt/Schreiber 2013: 44) sowie zum anderen mit Anschluss an Hitzlers These von Gewalt als sinnhaftem Handeln, welche in der Gewaltforschung mittlerweile nicht mehr infrage steht, soll in diesem Beitrag gefragt werden, inwiefern zu „Konstellationen und Situationen“ gewalttätigen Handelns (Hitzler 1999: 12) bzw. zu „Dynamiken der Gewalt“ (Collins 2011) auch deren physisch-räumliche Konstellation sowie mit dem Gewalthandeln verbundene räumliche (An-) Ordnungspraktiken zählen. Damit soll also nicht zu einer Entscheidung beigetragen werden, inwiefern Gewalt eine anthropologische Konstante ist, noch dazu zu bestimmen, welche Gewaltformen und -taten moralisch als mehr oder weniger schlimm einzustufen sind (normativer Duktus). Für die folgende Darstellung reicht es vielmehr aus, dass Gewalt als Handlung in einer Situation ausgemacht wird und sich entwickelt. Es geht mir darum, empirisch zu untersuchen, welche Rolle räumlichen Konstruktionen im Ablauf von Gewaltsituationen zukommt.

2. Forschungsdesign und -verlauf

Um meine Überlegungen zu dieser Frage empirisch zu untersuchen, verwende ich Ausschnitte aus Fallmaterial eines Lehrforschungsprojektes, das ich vor einigen Jahren mit Studierenden der Sozialen Arbeit an einer Fachhochschule durchführte und welches sich qualitativ-empirisch mit Gewalt ausübenden Mädchen* und jungen Frauen* befasste.

Der Grund, weshalb ich gerade dieses Material als für meine Fragestellung geeignet betrachte, liegt in einer weiteren Eigentümlichkeit des gesellschaftlichen Gewalt-Diskurses, die darin besteht, dass Gewalt tendenziell in geschlechtsstereotyper Weise verhandelt wird – „Frauen als Opfer, Männer als Täter“. Nicht nur eine unterkomplexe zweigeschlechtliche Konstruktion von Geschlecht (vgl. bspw. Wetterer 2008), sondern auch eine unzulässige Verallgemeinerung und Homogenisierung von Gewalterfahrungen und Gewalthandlungen werden daran sichtbar [4]. Dieser stereotype Blick kann mit seinem deutlich normativen Realitätsbezug gleichwohl nicht im Sinne einer Differenzierung anstrebenden phänomenologischen Gewaltforschung sein (vgl. Scherr 2010; Hitzler 1999). Denn individuelle Lebensverläufe und Erfahrungen mit Gewalttätigkeit werden dadurch ebenso wenig wahrgenommen wie die in der Alltagskommunikation de facto ständig auftauchende Polymorphie geschlechtlicher Identitäten.

Anhand von Rekonstruktionen von Narrativen von Täterinnen, die damit zweifach zu einer geschlechtsdifferenzierenden Perspektive einladen – zum einen weil sie üblichen, auf Gewalt bezogenen Geschlechterstereotypen entgegen laufen und zum anderen weil sie die heterogenen Erfahrungen von Frauen* und Mädchen* heraus stellen [5] – wird also Situationen und Prozessen von Gewalttätigkeit und räumlichen Konstruktionen nachgegangen. Beziehungen zwischen Gewaltphänomenen und Gendertheorien bzw. geschlechtsbezogenen Problematiken jedoch werden, obwohl für die Begründung des empirischen Materials soeben angeführt, in diesem Beitrag aus Gründen der Fokussierung nicht hergestellt werden, wenngleich diese selbstverständlich nahe liegen (vgl. dazu bspw. Koher/Pühl 2003).

Um nun zu untersuchen, welche Rolle räumlichen Konstruktionen im Ablauf von Gewaltsituationen zukommt, verwende ich also Material aus narrativen Interviews mit einer Frau* bzw. einer Jugendlichen*, die gewalttätig wurden. Nach Collins gibt es drei geeignete Datengewinnungsmethoden, „um an situationsbezogene Einzelheiten gewalttätiger Interaktionen heranzukommen“: „Aufzeichnung, Rekonstruktion und Beobachtung“ (2011: 17). Collins schätzt dabei „Rekonstruktion“ als „wichtig“ ein, „weil Gewaltsituationen relativ selten auftreten und bei vielen Vorfällen, die wir verstehen möchten, kein Aufnahmegerät verfügbar“ sei (2011 18).

Das hier im Folgenden verwendete empirische Material entspringt dem Sample eines Lehrforschungsprojektes, welches ich von Oktober 2014 bis Juli 2015 mit Studierenden der Sozialen Arbeit (Bachelor) an der HTWK Leipzig mit dem Titel „Gewalttätige Mädchen und junge Frauen – ein qualitatives Lehrforschungsprojekt zur Beratung in der Sozialen Arbeit“ durchführte. Das Projekt folgte den Fragestellungen: Welche subjektive Bedeutung hat selbst ausgeübte Gewalt für Mädchen* und Frauen*? Und wie geht Soziale Arbeit in der Beratung mit diesen Adressatinnen um? Vor allem diese nichtstereotype Zielgruppe Sozialer Arbeit in Verbindung mit Gewaltausübung führte, wie bereits weiter oben erläutert, zu deren Auswahl (vgl. Ehlert 2012).

Im Lehrforschungsprojekt wurden insgesamt sechs narrative Interviews (zur verwendeten Methodik narrativer Interviews vgl. Pryzyborski/Wohlrab-Sahr 2013: 79–87) mit dem Fokus auf Gewalt mit 14- bis 30jährigen Proband*innen in einer Justizvollzugsanstalt (n=2), in einer psychiatrischen Klinik (n=1), in einer Inobhutnahme-Wohngemeinschaft (n=2) und in einem Offenen Freizeittreff (n=1) geführt. Außerdem fanden sechs Expert*inneninterviews mit Sozialarbeitenden in einem Übernachtungshaus für wohnungslose Frauen, in einer Inobhutnahme-WG für Mädchen*, in einer Einrichtung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, in einer Forensischen Klinik, in der Opferhilfe sowie im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) statt. In keinem der Interviews wurde explizit nach räumlichen Bezügen von Gewalt gefragt, da dies zu dem Zeitpunkt keinen Forschungsfokus darstellte.

Der Feldzugang und -kontakt erfolgte durch persönliche Ansprache von Institutionen, in deren Kontext Mädchen* bzw. Frauen* vermutet wurden, die Gewalt gegen andere zeigen sowie durch Kontakte aus Praktika der Studierenden in Institutionen Sozialer Arbeit. Für den Kontakt zu Frau S. [6], aus deren Erzählung hier zuerst Material gezeigt werden wird, war ein mehrwöchiges Verwaltungsverfahren über den Kriminologischen Dienst des entsprechenden Justizministeriums notwendig. Verständlicherweise ist der Zugang zu Justizvollzugsanstalten (JVA) aus forschungsethischen Gründen [7] nicht für alle zu jeder Zeit möglich und wird streng reguliert. Nach letztlicher Genehmigung kam über die in der JVA tätige psychologische Fachkraft der Kontakt zu Frau S. zustande. Das Gespräch wurde durch eine Studentin, die sich freiwillig dafür meldete, vor Ort geführt und aufgezeichnet.

Für den Kontakt zur zweiten Probandin* Frau H. gestaltete sich der Feldzugang über die Leiterin eines offenen Freizeittreffs für Kinder und Jugendliche, die eine Studentin des Lehrforschungsprojektes während ihres Praktikums im Träger kennengelernt hatte. Sie erkundigte sich bei ihr nach Mädchen*, die den Treff besuchen, Gewalt ausgeübt haben und sich dazu äußern können und möchten. Kurz darauf wurde durch die Leiterin der Kontakt zu Frau H. hergestellt, welchen die Studentin aufnahm und letztlich das Interview mit ihr führte.

Die Datenaufbereitung der Interviews führten die Studierenden jeweils selbst durch. Sie transkribierten das gesamte Interview nach den Regeln des Transkriptionssystem TiQ – Talk in Qualitative Social Research (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2013: 167–170). Von einer studentischen Hilfskraft wurde die Transkription aller narrativen Interviews nach Projektende nochmals mit dem Audiodokument verglichen und ggf. korrigiert. Außerdem stellte sie jeweils eine Themengliederung der Interviews her.

Im Lehrforschungsprojekt selbst wurde mit der Auswertungsmethodik des offenen, axialen und selektiven Codierens (Glaser/Strauss 2010; Strauss 1998) und mit dem Kodierparadigma der Grounded Theory gearbeitet (Strauss/Corbin 1996).

Ursprünglich nicht intendiert, deuteten sich am Ende des Projektes einige Raumbezüge in den Ergebnissen an, die während der Projektlaufzeit nicht mehr systematisch untersucht werden konnten. In einer daran anschließenden Pilotstudie (2015 bis 2017) analysierte ich deshalb vorhandenes narratives Interviewmaterial mit einem expliziten Fokus auf Raum. Die hier untersuchten Narrationen wählte ich aus dem Materialpool nach folgenden Kriterien so aus, dass sie sich hinsichtlich des Alters der Probandin, der Sozialform der ausgeübten Gewalt und des Tatortes deutlich voneinander unterschieden (maximale Kontrastierung): Frau S. ist eine junge Erwachsene, die im privaten Raum individuell familiäre Gewalt ausübte. Frau H. ist hingegen eine Jugendliche, die 10 Jahre jünger ist und Gewalt sowohl individuell als auch kollektiv und im institutionellen bzw. öffentlichen Raum ausführte.

Mit dem expliziten Fokus auf das Verhältnis zwischen Gewalt und Raum wurde das Fallmaterial von mir in der Pilotstudie mittels Grounded Theory erneut analysiert, diesmal in Verbindung mit der Objektiven Hermeneutik, um die sinnhafte Aufschichtung des Gewalthandelns methodisch angemessener untersuchen zu können. Dabei wurde das offene Kodieren nach der Grounded Theory gemäß des Vorschlages von Bruno Hildenbrand (2004) durch das Instrument der Sequenziellen Analyse nach der Objektiven Hermeneutik ersetzt. [8] In den beiden Interviews untersuchte ich so jeweils sechs Sequenzen (Eingangs- und Schlusssequenz, eine Zufallssequenz, zwei für Gewalt- und Raumbezüge passende Sequenzen und eine einen Zusammenhang zwischen Gewalt und Raum falsifizierende Sequenz) sowie die Themengliederung. In diesem Beitrag werden ausschließlich Sequenzen untersucht, die sich auf Gewalt und Raum beziehen. Deshalb kann hier nicht von Fallanalysen, sondern lediglich von Fallskizzen gesprochen werden.

3. Theoretisches Verständnis von Raum

Als Bedingung und Ergebnis der in Abschnitt 4 dargelegten Untersuchungen des empirischen Materials haben sich raumsoziologische Bezüge entwickelt, die ich im Vorab darstellen möchte, um das Lesen der Fallskizzen in Abschnitt 4 aus Perspektive der Fragestellung von Beginn an zu erleichtern.

Grundlegend wird mit der Analyse der These gefolgt, dass Raum nicht „an sich“ existiert, sondern sozial konstruiert wird (vgl. etwa Löw 2015: 73–93). Diese entspricht zugleich der Annahme, dass Raum – entgegen der Container-Theorie [9] mit einem absolutem Raumbegriff (vgl. dazu Schroer 2019: 13ff.) – keine determinierende Ursache von gesellschaftlichem Zusammenleben und sozialem Handeln sein kann (vgl. etwa Simmel 1908/1999: 687f.). Hier im Material werden empirisch zum einen Spuren einer solchen sozialen Konstruktion von Raum aufgezeigt werden können.

Zum anderen wird mittels der Fallskizzen der Annahme widersprochen, dass die spezifische Formung des Raumes lediglich und ausschließlich die eigensinnige Struktur der sozialen Beziehungen ausdrückt, welche damit in Zusammenhang stehen. Vielmehr wird im Sinne einer konstruktivistischen Raumanalyse wie Markus Schroer (2018) sie vorschlägt beobachtet, dass Raum „durch soziale Prozesse immer wieder hergestellt [wird,] […] strukturierend auf diese zurück“ wirkt und somit „in seinem Doppelcharakter als Resultat und Bedingung sozialer Prozesse begriffen“ (Fritsche et al. 2010: 14, H. i. O.) werden muss.

Das bedeutet, dass im Material letztlich Spuren beider Prozessdimensionen gefunden werden können, zum einen, wie Raum sozial konstruiert wird, aber auch dass und wie bereits sozial konstruierter, inkl. sozial konstruierter und gebauter, Raum auf soziale Situationen und soziales Handeln zurück wirkt: „So richtig die Betonung der aktiven Hervorbringung sozialer Räume ist, so notwendig ist es für eine umfassende Raumanalyse, die bei dieser Einsicht nicht stehen bleiben will, auf die Wirksamkeit räumlicher Arrangements hinzuweisen, wenn sich diese erst einmal geformt haben.“ (Schroer 2018: 175) „Es geht nicht nur darum zu sehen, wie der Raum sozial hergestellt wird, sondern auch darum zu berücksichtigen, was der Raum selbst vorgibt.“ (a.a.O.: 177f.). Dieses Vorgeben bspw. durch gebauten Raum wird jedoch nicht als kausales Verhältnis gedacht, in welchem also Raum ein ganz spezifisches Verhalten erzeugen würde. „sondern es gibt […] die Chance (Herv. i. O.], dass ein spezifisch gebauter Raum der Entfaltung bzw. Behinderung intendierter sozialer Interaktionen – wie Wohnen, Arbeiten, Lernen, Konzert – förderlicher ist als ein anderer.“ (Schäfers 2006: 35). Folglich liegt es nahe, synthetisierend anzunehmen, dass Raum zwar nicht in Form eines objektiven Gefäßes „vorkommt“ aber wirksam als Gefäß konstruiert wird.

In diesem konstruktivistischen Verständnis von Raum kann im empirischen Material in Abschnitt 4 in Anlehnung an Georg Simmel (1908/1999: 690ff.) die Konstruktion von Raum während des erinnerten Ausübens von Gewalt und die Rückwirkung konstruierter räumlicher Arrangements auf Gewalthandeln anhand von vier Qualitäten aufgezeigt werden:

I. Grundlegend wird Raum durch Differenz beobachtet, wahrgenommen [10], physisch erschaffen bzw. symbolisch markiert [11]: Zur sozialen Konstruktion von Raum gehört es deshalb, „daß sich der Raum für unsere praktische Ausnutzung in Stücke zerlegt, die als Einheiten gelten und – als Ursache wie als Wirkung hiervon – von Grenzen eingerahmt sind.“ (Simmel 1908/1999: 694). [12] Durch die Differenz von der und durch die Be- und Abgrenzung zur umgebenden Umwelt wird ein Raum also erst gesellschaftlich als solcher erkennbar und dadurch konstituiert. Der Begriff der Grenze befindet sich somit nah am Differenzbegriff. Die Formen von Begrenzung sind dabei vielfältig:

„Mögen nun die Konfigurationen der Erdoberfläche uns den Rahmen vorzuzeichnen scheinen, den wir in die Grenzenlosigkeit des Raumes einschreiben, oder mögen rein ideelle Linien gleichgeartete Stücke des Bodens trennen wie eine Wasserscheide, diesseits und jenseits deren jedes Teilchen einem andren Zentrum zu gravitiert“ (Simmel 1908/1999: 694). [13]

II. Ist eine Einheit als Raum begrenzt bzw. abgegrenzt, ist zuweilen das Konstruktionsprinzip der Ausschließlichkeit virulent. Damit nimmt Raum die soziale Eigenart an, als Territorium zu funktionieren (vgl. auch Schäfers 2006: 31): „In dem Maß, in dem ein gesellschaftliches Gebilde mit einer bestimmten Bodenausdehnnung verschmolzen oder sozusagen solidarisch ist, hat es einen Charakter von Einzigkeit oder Ausschließlichkeit [sic!], der auf andre Weise nicht ebenso erreichbar ist.“ (Simmel 1908/1999: 690). Simmel führt dafür als Beispiele den Staat und die Kommune an (a.a.O.: 691). Mit Stanford M. Lymans und Marvin B. Scotts Begriff der Territorialität als dem Versuch, Raum zu kontrollieren (1967: 236) wird hingegen die Anspruchshaltung, die i. d. R. mit ausschließlichen Raumkonstruktionen, d. h. mit Territorien, verbunden sind deutlicher.

Territorien sind etwa „Räume, in denen Individuen oder Gruppen […] sich über längere Zeit relativ dauerhaft aufhalten“, „wesentliche existenzerhaltende Tätigkeiten verrichten“, „durch symbolische Akte Besitzansprüche anmelden […,] diese im Falle der Bedrohung durch andere verteidigen“ und „mindestens minimale Spielräume für eigene Gestaltung haben“ (Hamm/Neumann 1996: 235 zitiert nach Schäfers 2006: 32). [14] Demgemäß werden gesellschaftlich nicht nur Wohnungen, Häuser, Zimmer oder Büros als Territorien konstruiert. Auch das „Besitzterritorium“, d. h. „eine Reihe von Gegenständen, die als mit dem Selbst identisch betrachtet werden können und die den Körper umgeben, gleichgültig, wo er sich gerade befindet.“ (Goffman 1974: 67f.), beispielweise die „persönliche Habe“ (ebenda.) wird als Territorium beansprucht. Zudem zählt dazu auch „die Reguliergewalt über technische Einrichtungen zur Steigerung des materiellen Lebensstandards [...]: die Verfügung über Radio- und Fernsehgeräte, über Temperatur, Fenster, Licht usw.“ (ebenda.). [15] Aber auch der physische menschliche Körper selbst ist gesellschaftlich als ausschließlicher Raum (Schroer 2018: 276ff.), als Territorium, als „Körperrevier“ (Lyman/Scott 1967: 241ff.) konstruiert.

Allen Formen von Territorien – sei es der eigene Körper, das Mobiltelefon, das Notebook, die Kleidung, das Zimmer, der PKW, der Garten, die Wohnung, das Haus, die Straße vor dem Haus, der Stadtteil, der Wald, der Acker, die Kommune, der Staat – ist mithin gemein, dass sie in ihrer räumlichen Qualität der Ausschließlichkeit beansprucht, übertreten, missachtet, verteidigt bzw. verloren werden können (vgl. Abschnitt 4). Territorien können also auch angeeignet werden, indem etwa „schon vorhandene[r] und vorstrukturierte[r] Räume […]““ (Deinet 2010: 38) eigensinnig erschlossen werden: Etwa ein Versteck im bereits seit Jahren unbeachtet wachsenden Holunderbusch, welches plötzlich als solches durch ein Kind entdeckt wird oder eine bereits durch Architektur in Grundriss, Sanitär- und Küchenbereich vorgestaltete Wohnung, die durch eine Familie in eigener Art benutzt und aufgeteilt wird (vgl. dazu auch Abschnitt 4.1). Zur Aneignung kann auch die Umdeutung des Raums gehören, etwa wenn aus einer Kirche eine Messehalle, der Spielplatz für Kinder nachts ein Treffpunkt für Drogenverkauf oder durch eine Behörde ein Flurstück von einer Wiesenfläche zum Bauland umgewidmet wird (zur Verdeutlichung vgl. dazu auch Abschnitt 4.2).

Territorien werden jedoch auch gestaltet. Martina Löw beobachtet in diesem Verständnis die Praxis räumlicher Anordnung („Spacing“), das „Platzieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen.“ (2015: 178f.). Diese Anordnung kann bspw. Architektur unternehmen, die die „den Menschen umgebende Raumhülle in eine bestimmte, für ihn nützliche und ästhetische Form bringt“ und „als [a]rchitektonischer Raum […] die Raumfülle der menschlichen Raumwahrnehmung – weit, tief, hoch, nah, fern, unten und oben, rechts und links usw. – in spezifischer Weise“ formt (Schäfers 2006: 28).

Neben Aneignung und Anordnung wird zugleich eine weitere Facette von Territorien in ihrer Eigenheit als Ausschließlichkeit deutlich. Denn das Anordnen und Aneignen von Raum sind gesellschaftlich durch ungleiche Verteilung und Zugänge zu dafür nötigen Ressourcen (z. B. finanzielle Mittel, Zugang zu physischen Materialien, Wissen, körperliche Kraft) bestimmt (vgl. bspw. Bourdieu 1991). Das bedeutet, dass stets Macht- und Herrschaftsverhältnisse und soziale Ungleichheit die Konstruktion von Raum beeinflussen und sich zugleich selbst dadurch erschaffen (vgl. bspw. Dangschat 1997). [16]

III. Eine dritte Qualität von Raum ist dessen Eignung, soziale Vorgänge inkl. soziales Handeln an einem Ort [17] zu lokalisieren und zu fixieren (vgl. Simmel nach Schäfers 2006: 31). Dem Raum kommt durch die durch ihn mögliche Verortbarkeit sozialer Vorgänge Bedeutung als sozialem „Drehpunkt“ zu, als „fixierte Örtlichkeit […], wo die Berührung oder Vereinigung sonst voneinander unabhängiger Elemente nur an einem bestimmten Platze geschehen kann.“ (Simmel 1908/1999: 708). Besonders bei individuellen und gesellschaftlichen (vgl. bspw. Pannewitz 2008) Erinnerungen wird dieses Potenzial deutlich:

„Für die Erinnerung entfaltet der Ort, weil er das sinnlich Anschaulichere ist, gewöhnlich eine stärkere assoziative Kraft als die Zeit; so daß, insbesondere wo es sich um einmalige und gefühlsstarke Wechselbeziehungen handelte, für die Erinnerung gerade er sich mit dieser unlöslich zu verbinden pflegt und so, da dies gegenseitig geschieht, der Ort noch weiterhin der Drehpunkt bleibt, um den herum das Erinnern die Individuen in nun ideell gewordene Korrelation einspinnt.“ (Simmel 1908/1999: 710f.)

Bernhard Schäfers geht so weit zu sagen, dass Gesellschaft ohne räumliche Verortungen bzw. Fixierungen undenkbar sei (vgl. Schäfers 2006: 31).

IV. Viertens bedingt Raum auch Möglichkeiten von sinnlicher Nähe und Distanz zwischen Menschen (vgl. Simmel 1908/1999: 716 ff.), nicht zuletzt durch die vorstrukturierte Raumform, welche auf soziale Vorgänge Einfluss nimmt. [18]

„auch die Form, in die der räumliche Rahmen die Gruppe bringt, seine gleichmäßige oder an verschiedenen Stellen verschieden stark zusammenhaltende Energie, die Frage, ob der Rahmen überall durch dasselbe Gebilde hergestellt wird […] oder aus mehreren Benachbartheiten zusammengesetzt ist – dies alles ist für die innere Struktur der Gruppe von zweifelloser Bedeutung“ (Simmel 1908/1999: 702f.).

Hier ist unter anderem auch Architektur bzw. gebauter Raum gemeint, bspw. der Grundriss einer Wohnung, Form und Höhe eines Zimmers, die gebaute Struktur eines Stadtteils mitsamt der Form der Straßen, welche Bedingungen für die soziale Struktur und das Handeln von Menschen darstellen können. Zugleich lehrt das Alltagsleben in modernen Großstädten Menschen, im Sinne einer „Schutzvorrichtung“ (a.a.O.: 721) von räumlicher Nähe zu abstrahieren. Als ursächlich beobachtet Georg Simmel hierfür, dass Menschen „durch die Komplikation und Wirrnis des äußeren Lebensbildes an fortwährende Abstraktionen, an Gleichgültigkeit gegen das räumlich Nächste und enge Beziehung zu räumlich sehr Entferntem gewöhnt“ werden (1908/1999: 718).

In welcher Weise das empirische Material auf diese vier Qualitäten von Raumkonstruktion – Ausschließlichkeit, Differenz, Verortbarkeit sozialer Vorgänge und Ermöglichung von sinnlicher Nähe und Distanz – während der Ausübung von Gewalt hinweist, werde ich im Folgenden versuchen zu zeigen. Soweit dies im Material vorhanden ist, werde ich einführend den lebensgeschichtlichen Kontext der Proband*innen umreißen, um dann mein Augenmerk vor allem auf die erzählten spezifischen Situationen zu richten, in welchen sie zu Gewalttätigen, zu Handelnden geworden sind und damit auch auf die je spezifische Art und Weise des Raumbezugs bzw. der Raumkonstruktion dabei. Damit sollen nach Maßgabe einer „detailgenaue[n] Phänomenologie“ der Gewalttätigkeit (Scherr 2010: 171; Reemtsma 2008: 49f.) jeweils konkrete Situationen und deren Konstellation in den Blick genommen werden, in welcher „Ereignisse geschehen, die als gewalttätiges Handeln bezeichnet werden.“ (Scherr 2010: 174).

4. Fallskizzen: Raumkonstruktion in Situationen von Gewalthandeln

4.1 Eine Gewaltsituation im privaten Raum (Fall 1)

Die erste Gewaltsituation, die ich zeigen möchte, betrifft B. und ihre Familie. Sie ist eine zum Zeitpunkt des Interviews inhaftierte 24jährige Frau* und hat zwei Töchter. Zum Zeitpunkt ihrer eigenen Gewaltausübung, von der nicht bekannt ist, wieviel Zeit seitdem vergangen ist, ist die jüngste Tochter im Säuglingsalter, die andere etwa dreijährig.

Die Dynamik der Gewalt beginnt für B. bereits als Kind, denn in ihrer Herkunftsfamilie erlebt sie bis in ihre Jugend physische Gewalt als regelhaftes Beziehungsmuster zwischen ihren drei Geschwistern bzw. durch die Eltern, wobei es vorrangig aber nicht ausschließlich um die Regelung von Konflikten geht, die „materielle Dinge“ betreffen. Die Großmutter ist bis zu ihrem Versterben B.s einzige „Bezugsperson“. Sie hat in der Familie die Rolle der gewaltfreien Schlichterin, welche B. von ihr absichtsvoll übernimmt und dafür die Gewalt der anderen erträgt. B. ist, ausgenommen einmal in der Schule („nach dem Tod meiner Oma“), ausschließlich Betroffene bzw. Opfer dieser familialen häuslichen Gewalt. Als B. elf ist, beginnt einer der älteren Brüder ihr gegenüber sexuell übergriffig zu werden. Mit etwa 13 Jahren geht B. wegen der Gewalt Zuhause freiwillig ins Kinderheim. Bei ihren gelegentlichen Besuchen Zuhause erlebt sie, wie die gewaltvollen Übergriffe zwischen den Geschwistern und gegen sie (auch sexuell) als „Schlichterin“ anhalten. Als Jugendliche geht B. ihre erste Paarbeziehung ein. Dort führt sich Gewalt als Beziehungsmuster fort, denn ihr Partner beginnt nach kurzer Zeit körperlich gewalttätig zu werden, auch sexuelle Übergriffe finden statt. Aus einem entsteht die erste Tochter S., die B. mit 16 Jahren zur Welt bringt. Mit Hilfe ihrer Eltern geht sie zuvor schwanger ins Mutter-Kind-Heim und verliebt sich in dieser Zeit in ihren nachfolgenden Partner. Noch im Mutter-Kind-Heim wird sie von ihrem neuen Partner, welcher damals noch ein „offenes Verfahren“ „wegen eines Gewaltdelikts“ hat, erneut schwanger und verlässt das Heim. Der neue Partner wird nach kurzer Zeit ebenfalls gewalttätig, sperrt die schwangere B. mit der älteren Tochter Zuhause ein, während er seine Sozialstunden ableistet, isoliert sie, indem er ihr Mobiltelefon an sich nimmt, schlägt sie, wenn sie schwanger keinen Sex möchte, „missbraucht“ sie im Schlaf. Schließlich zieht das Paar um. Die Paar- und Familienstruktur beschreibt B. mit Bezug zur Struktur der neuen gemeinsamen Wohnung folgendermaßen:

B.: irgendwann; fing. sin=mer umgezogen, (.) durch den Umzug:; (.) war die Wohnung och größer gewesen, (.) nich mehr ne Zweahalbraumwohnung, sondern glei:, (.) ich globe=es warn zwe Dreiraumwohnungen, die mer dann damals hatten, (2) wo:: sozusagen er ene Wohnung hatte, und; (.) ich: ene Wohnung mit Durchbruch; war das aber, (.) ((einatmen)) ja:,=und da hat er dann:; (.) halt; ä:h. die: H., (.) ham bei:; (.) ihm:, (.) sozusagen iner Wohnung im:; (.) Kinderzimmer untergebracht und die S. (.) drüben bei mir, (.) Dadurch fing das an, dass die Kindertrennung da war, weil=er: (.) meine,=er hatte meiner großen Tochter dann och schon verwehrt, an die: (.) H. ranzugehen, (1,5) ((einatmen)) weil::; die; (.) S. halt mal in=der alten Wohnung; (.) an ihren Ärmchen gezogen hat, ne=und sie an:. (.) Bettrand, (.) gezogen=hat, weil se se halt och, mal streicheln wollte; und sich och=en stückweit, zurückgesetzt fühlte, weil sies halt nich gewohnt war, dass=zwe Kinder dann da sind. ((einatmen)) un:d. (1,5) er (hat=war) dann, halt de:r festen Überzeugung gewesen; dass die beden Kinder getrennt wer-, gehalten werden müssen. ne, (.) Da::. (.) des war och schon, so=ne Situation, mit der ich überfordert wurde:; un:d. (.) wo ich och nicht wusste, (.) wie gehst du jetzt damit um? ist S. ihm mal zu nah, oder H. mal zu nah gekommen; dann hat se glei:, en Klaps uf en Po, wie er so schön sa:chte; (.) bekommen, und ich habs einfach nicht geschafft, mich diesbezüglich einfach nur; (.) durchzusetzen, (.) weil ich:; (.) halt Angst hatte, dass ich selber wieder die Dresche kassier.

An diesem Ausschnitt zeigen sich aus der Erzählperspektive von B. mehrere Muster der Verwobenheit des bereits gebauten Wohnraums, der Raumkonstruktion und der häuslichen Gewalt, die in ihrer Familie stattfindet. Zunächst erfährt die gesamte Familie durch die Aktivität des Partners eine spezifische räumliche Ordnung in der neuen Wohnung: Nicht nur werden die beiden Elternteile auf die zwei Dreiraumwohnungen aufgeteilt, sondern auch die Kinder. Dafür sei nun auch genügend Platz. Sein Ziel ist in B.s Deutung das getrennte „Halten“ [19] der beiden Kinder, da er seine leibliche Tochter H. von B.s erster Tochter S. bedroht sieht. Denn „in=der alten Wohnung“ habe sie sie „mal“ an deren „Ärmchen“ an den „Bettrand (.), gezogen“. Die Sorge des Vaters um sein Kind scheint wegen der daraus entstandenen Sturzgefahr zunächst durchaus nachvollziehbar. Die bewusste gewaltvolle Absicht des drei Jahre alten Kindes scheint hingegen einerseits relativierbar, auch wenn möglicherweise Eifersucht im Spiel ist („sich och=en stückweit, zurückgesetzt fühlte“). Mit dem Wissen, dass Gewalt gegen B. in der Paarbeziehung charakteristisch ist, erscheint Gewalt andererseits als etwas was S. möglicherweise also tagtäglich als Normalität kennenlernt und eventuell tatsächlich auf die Beziehung mit der kleinen Schwester überträgt. Ein dritter Verstehensansatz setzt beim Kindsvater an, der aufgrund des Erstgeschehnisses die gesamte Geschwisterbeziehung offenbar fortan schnell für seine leibliche Tochter bedrohlich findet, an S. also eine charakterliche Zuschreibung vornimmt oder zumindest eine Zuschreibung kontinuierlicher Schädigungsabsichten mit der Annahme, dass sie sich nicht bspw. durch Erziehung verändern oder in andere Bahnen lenken lässt. [20]

Die gemeinsame leibliche jüngere Tochter H. wird schließlich mit dem Umzug in seiner Dreiraumwohnung in einem Kinderzimmer „untergebracht“, während S. in der Wohnung ihrer Mutter wohnt. Der Partner ist offenbar der einzige, welcher hier eine aktive Raumaneignung und zwar durch die personelle Zuweisung von Raum vornimmt. Durch seine Machtposition, welche er mittels Gewaltausübung über B. in der Paarbeziehung und in der gesamten Familie gewinnt, wäre dieser Umstand erklärbar.

Die Trennung der Kinder, die Grenzziehung zwischen ihnen, wird jedoch nicht nur räumlich, sondern von ihm zusätzlich physisch und nur gegenüber S. markiert, mit einem „Klaps uf en Po“ wenn sie „zu nah“ an H. heran kommt. Es wird deutlich, dass B. seine Formulierung dafür beschönigend findet („wie er so schön sa:chte;“) – ein Hinweis darauf, dass es aus ihrer Sicht derber, als sprachlich behauptet, zuging oder dramatischere Auswirkungen auf S. hatte. Bereits in dieser Passage wird also deutlich, dass und wie gebaute Umwelt, eine spezifische Praxis räumlicher Aneignung, Anordnung und Grenzmarkierung und Gewalt in der Familie gegen Frau* und Kind miteinander sinnhaft verwoben sind.

Noch deutlicher zeigt sich diese Wechselwirkung in der Kernpassage, in welcher B. die Situation beschreibt, wie sie zwei Jahre nach Beziehungsbeginn schließlich selbst Gewalt ausübt und wo gemäß meiner Forschungsfrage nachvollzogen werden kann, wie Gewalt verwoben mit räumlicher Konstruktion abläuft:

B.: Wir hatten:, das muss=ich glei dazu sagen, wir hatten och Haustiere gehabt, //mhm// zwe Hunde ham außerhalb unserer Wohnung gelebt ghabt, bei nem Bekannten. //mhm// (.) ä::h, (.) und; en Dobermann. der Dobermann °war aber noch da.°=es war seiner. (.) den wollt=er °nich abgeben.° (1,5) ((einatmen)) da hab=ich:, (.) nachts bei ihm geschlafen, also. wir ham: (.) gemeinsam, (.) sozusagen bei ihm, (.) auf der Couch übernachtet, (2) die Nacht um vier; also ich bin:; (.) ich globe um e:ns=oder um zwe:, nachdem=ich mitm; (.) Bekannten telefoniert hab. (.) ((einatmen)) bin=ich rüber; zu ihm, ins Bett, (.) er hat ja immer drauf bestanden, dass=der Durchbruch zugestellt wird, //mhm,// mit ner Spanplatte, (2) ((einatmen)) un::d. (.) ich würd sogar sagen, das hat ich die Nacht noch °nich=amal gemacht gehabt.° (.) ((einatmen)) bin=dann halt rüber, hab mich hingelegt, (2) er war noch:; (.) wach, (2) ich hab dann geschlafen, und die Nacht um vier bin ich halt wach gewo:rn; (.) hab, (.) ihn weggetreten, sag ich °ma,° weil=er; (.) schon wieder übergriffig geworden is. //okay:,// (3,5) u::nd; (.) daraufhin, kam=es och zum Strei:t, (.) weil. (.) er halt der Meinung war, das=is sein Recht, sich:; (.) an mir vergehen zu dürfen, //mhm// ich=aber nich der Meinung war, (.) un:d; (.) ich daraufhin gesagt hab; hier, (.) du kannst mich ma, des=war der erste Tag, wo ich:, (.) wo ich das einfach mal nicht zulassen wollte, ((einatmen)) //mhm// un:d. (.) darauf (.) hin, gabs halt Strei:t, (.) der hat seine Hand gehoben gehabt, (3) ((schniefen)) daraufhin bin ich rausgegang, (.) was er dann gemacht hat, weß ich nich. //hm// ich weß, dass=er sich noch ne Zigarette gemacht hat, °und dann; bin ich,° (.) raus, rüber zu mir, ((einatmen)) (2) bin: durch das Zimmer, wo: die:; S. geschlafen hat, //mhm// (3) hab dann=en Fernseher eingeschalten; hab mit dem Kumpel, mit dem=ich ja sowieso bis abends, (.) um e:ns telefoniert hab,=hab mit dem, (.) telefonier:t, hab nebenbei noch fernsehn geguckt gehabt, (.) hatte Unterleibsschmerzen, //mhm// ((schniefen)) ((schmatzen)) (2) hatte dann:. (.) nach der S. halt °(ge-)° (.) schauen wollen, (1,5) un:d; (.) da hats dann, (1,5) mein Hebel:; (.) umgehauen °gehabt.° ((einatmen)) (1,5) so: dass=ich, (.) of die S. losgegangen bin.

Interviewerin: Hat die geschlafen zu dem Zeitpunkt?

B.: Nee; sie °war wach.°

Interviewerin: Sie war wach.

(5)

Interviewerin: Mhm:.

(3)

B.: Ich: hab halt, (.) ich hab in ihr, nich::; (.) S. ((weinend)), sondern, (.) ihrn Vater, einfach diesen Menschen gesehen, den=ich gehasst hab, un:d; (.) ((einatmen)) die Situation davor, das; (.) //mhm// (2) ich konnt nicht mehr, ((weinend))

In dieser Passage, in welcher B. den Prozess ihres eigenen Gewalthandelns erzählt, wird wiederum die Verwobenheit von Raum und Gewalt deutlich. Transitionen über die konstruierten räumlichen Grenzen hinweg, d. h. die Bewegungen, von der eigenen Wohnung B.s zur Wohnung des Partners und zurück und die dabei stattfindende Platzierung von Gewalt bzw. die Bereiche ihrer Abwesenheit, fallen als erstes auf. In ihrem Wohnbereich telefoniert B. zuerst, schaut später auch fern und ihre Tochter S. schläft und wacht hier in ihrem Zimmer. Es scheint hier zunächst Sicherheit vor Gewalt zu geben, denn der Partner folgt ihr nach dem Streit nicht etwa durch den „Durchbruch“, sondern verbleibt in seiner Dreiraumwohnung und ist mit einer Zigarette beschäftigt. Der Bereich des Partners erscheint hingegen vor allem im Lichte von Gewalt. Dort schläft auch B. bzw. das Paar, es erfolgt der begonnene sexuelle Missbrauchsversuch, dessen Abwehr, der Streit und die durch den Partner angedrohte Gewalt („der hat seine Hand gehoben gehabt,“). Von dort geht B. schließlich „raus“ und in ihren Wohnbereich hinüber.

Der „Durchbruch“ ist während des Familienalltags ein spezifisches Verräumlichungselement, welches dafür verwendet wird, die beiden Dreiraumwohnungen mittels einer „Spanplatte“ je nach Tageszeit zusammenzuführen oder zu trennen [21]: Tagsüber besteht eine Verbindung zwischen den beiden Wohnungen, die dann ein Territorium für die gesamte Familie sind, nachts wird er mit der „Spanplatte“ zugestellt. Die Frage nach dem Zweck drängt sich auf. Da es B. vorher wichtig ist, die Existenz des Dobermanns zu erwähnen, welcher mit in der Wohnung lebt, scheint der Verschluss des „Durchbruchs“ auf den ersten Blick mit ihm zusammenzuhängen. Hier sind verschiedene Szenarien denkbar: Zum einen jenes, bei dem nach Maßgabe des Partners die gesamte Familie nachts vom Hund getrennt schlafen soll – eine Abgrenzung zwischen Mensch und Tier und ggf. ein Schutz, nicht im Schlaf vom Hund überwältigt zu werden. Dazu passt allerdings nicht das oben beschriebene Verräumlichungsmuster des Partners, welches vielmehr nahelegen würde, dass der Partner, seine Tochter H. und der Dobermann auf der einen, B. und S. auf der anderen Seite der „Spanplatte“ schlafen. Jedoch passt dazu wiederum nicht das stets eingeforderte „Recht“ des Partners auf nächtliche Sexualität mit B. und zudem B.s Beschreibung, dass beide nachts auf seiner Wohnungsseite auf der „Couch“ schlafen. B., ihr Partner, H. und der Hund wären also nachts plausiblerweise auf der einen Seite und allein S. auf der anderen Seite der „Spanplatte“ – so als bedürfen alle anderen (inkl. der Hund) Schutz vor der dreijährigen Tochter. Oder aber S. und der Dobermann schlafen nachts abgetrennt in einer Wohnung, die übrigen in der anderen, so als wären älteste Tochter und Hund eine Gefahr für die drei übrigen, nicht aber der Hund für S. Letztlich ist nicht materialbasiert zu klären, weshalb die „Spanplatte“ nachts den Durchbruch verstellen soll. Es scheint auch nicht folgenschwer, wenn dies, wie in der beschriebenen Nacht, nicht geschieht. Deshalb ist eher von einer symbolischen Grenzziehung auszugehen, die möglicherweise der bereits erörterten Familien- und Raumstruktur folgt, d. h. verräumlichter Ausdruck der Macht des Partners ist. Demgemäß wird später zumindest für die Tatnacht deutlich, dass S. auf der einen Seite des Durchbruchs und der „Spanplatte“ schläft, die restliche Familie auf der anderen.

S.s Zimmer ist schließlich der Ort der „situativen Überwindung der Konfrontationsangst“ (Collins 2011), an dem B. selbst zur Angreiferin wird – ein Kinderzimmer, in welchem in B.s Dreiraumwohnung das Bett o. ä. steht, in welchem das Kind um vier Uhr morgens wach liegt. Dort wird B., verursacht durch den kurz vorher verbal abgewehrten sexuellen Gewaltversuch, von ihren vergangenen Erfahrungen, den verhassten Kindsvater S. vor Augen, metaphorisch ferngesteuert („da hats dann, (1,5) mein Hebel:; (.) umgehauen °gehabt.°“), so dass sie „of die S. losgegangen“ ist. Das Gesicht des dreijährigen Kindes ist danach „blutüberströmt“. [22] Im Krankenhaus wird das Mädchen operiert und die Kriminalpolizei verständigt, welche das Paar befragt. B. wird später „wegen Misshandlung Schutzbefohlener mit Tateinheit schwerer Körperverletzung“ inhaftiert. Laut § 225 StGB Abs. 1 ist dafür eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren zu veranschlagen.

Dieser Prozess der Gewaltausübung läuft in einer spezifischen Konstellation gebauter Umgebung (Architektur) bzw. der Konstruktion von Raum ab. Die gebaute Umwelt, durch B. als Ort des Geschehens (vgl. Verortung sozialer Vorgänge in Abschnitt 3) erinnerbar, ist eine private Wohnung. Diese weist bereits vor B.s Gewaltausübung eine spezifische physische Form auf, nämlich zwei miteinander verbundene Dreiraumwohnungen, die als einzelne noch erkennbar sind und durch einen „Durchbruch“ temporär mit Hilfe einer „Spanplatte“ verbunden oder voneinander getrennt werden können. Beide Wohnungen sind m. E. in etwa gleich groß und geschnitten. Diese vorgegebene Form der Wohnung bietet dem Paar und der Familie physisch-räumlich eine Zwei-in-Einem-Logik an bzw. wird in dieser Weise von B.s Partner sinnhaft angeeignet, indem er – seine Definitionsmachtstellung resultiert m. E. aus dem häuslichen Gewalt- und damit dem asymmetrischen Machtverhältnis zu B. – die beiden noch zu erkennenden Wohnungen sich bzw. seiner Partnerin zuteilt. Mit Martina Löw kann hier eine spezifische Praxis räumlicher Anordnung und Platzierung (2015: 178f.) beobachtet werden (vgl. auch Abschnitt 2 zur Ausschließlichkeit), bei der B. offenbar ausschließlich passiv und heteronom bleibt und ihr Partner allein aktive und erfolgreiche Versuche von Territorialität unternimmt. Sie bekommt durch ihren Partner ein in etwa gleichgroßes Territorium zugewiesen. Diese besondere Art des Territoriums können wir mit Erving Goffman raumtheoretisch präziser als „Box“ ansprechen (1974: 59f.). Eine „Box“ ist ein „deutlich begrenzte[r] Raum, auf den Individuen temporären Anspruch erheben können, ein Besitz auf der Grundlage des Alles oder Nichts.“ (a.a.O.: 59). Sie kann „zeitweilig verlassen und gleichwohl der Anspruch darauf von dem Weggehenden aufrechterhalten werden“ (a.a.O.: 60). „Das Charakteristische an Boxen ist, […] daß sie die externe, deutlich sichtbare, verteidigungsfähige Begrenzung eines räumlichen Anspruchs beinhalten (a.a.O.: 61).

Der „Durchbruch“ und die „Spannplatte“ werden symbolisch und temporär für die Zusammenführung der beiden „Boxen“ zu einem gemeinsamen Familienterritorium oder aber zur Abgrenzung und Individualisierung verwendet (vgl. Differenz und Ausschließlichkeit in Abschnitt 3): Tagsüber sind die dort wohnenden Erwachsenen räumlich ein Paar (bzw. eine Familie), nachts aber – und potenziell immer dann, wenn es notwendig ist – geschieht etwas anderes.

Denn vor diesem Hintergrund müssen wir die Beziehung des Partners zu den beiden Kindern betrachten. Auch in Bezug auf sie wird der zur Verfügung stehende Wohnraum in einem zweiten Schritt auf spezifische Weise durch ihn angeordnet – durch B. erduldet: B.s Tochter S. soll in der Wohnung ihrer Mutter, die gemeinsame Tochter H. bei ihm wohnen. Diese „Kindertrennung“ liegt für den Partner (oder zumindest so wie es B. ihm zuschreibt) sinnhaft in der beobachteten Gewaltfähigkeit der dreijährigen S. gegenüber ihrer jüngeren Schwester im Säuglingsalter begründet. Das nachts eine „Spanplatte“ vor dem „Durchbruch“ anordnende Verhalten des Partners könnte so gedeutet werden, dass es sich um seine präventive räumliche Reaktion auf einen antizipierten territorialen Übergriff S.s handelt. Verschiedene Varianten der Relevanz der „Spanplatte“ in der Sinnstruktur wurden bereits diskutiert. Mittels Lyman/Scott wird klarer, dass B.s Partner S.s Verhalten als das „Körperrevier“ (1967: 241ff.) H.s gefährdenden Übergriff deutet und deshalb nachts, wenn er schläft und Grenzüberschreitungen nicht physisch unterbinden kann, stattdessen diese Begrenzungsfunktion von der „Spanplatte“ übernommen werden kann. Die ältere Tochter soll nachts vom unbemerkten Eindringen in das Körperrevier der jüngeren Schwester durch eine physische Grenze (Differenz), die sie nicht übertreten könnte, abgehalten werden. Durch das Mittel ihrer nächtlichen räumlichen Distanzierung (vgl. Abschnitt 3) und „Isolierung“ (a.a.O.: 246) reagiert er auf den von ihm beobachteten körperlichen Übergriff. Die „Spanplatte“ nimmt dabei also die Funktion einer Distanzmaßnahme und „Territoriumsmarkierung“ ein. Unter letzterer versteht Goffman „Objekte, die die Grenzen zwischen zwei sich berührenden Territorien kennzeichnen“ (1974: 71). Nachts verschiebt sich damit auch die räumliche und soziale Sinnstruktur der Wohnung, denn nachts braucht die Tochter H. physischen Schutz in seiner Wohnungund nachts schläft B. beim ihm auf der Couch (Nähe). Drei von vier Familienmitgliedern befinden sich nachts regulär in der Wohnung des Partners, die als „Box“ (a.a.O.: 59f.) räumlich abgegrenzt (Differenz) und verschlossen (Ausschließlichkeit) wird. In der anderen „Box“ befindet sich nur die als gewaltbereit attribuierte dreijährige Tochter S. (Differenz, Ausschließlichkeit, Distanz). Dies ist hypothetisch die soziale und damit verbundene räumlich konstruierte Situation der Familie vor B.s Gewalttat.

Auch während der Gewaltsituation und ihrer Anbahnung wird die gebaute Umwelt auf spezifische Weise in die soziale Dynamik verwickelt. Grob sind Transitionen über die konstruierten räumlichen Grenzen der beiden Dreiraumwohnungen hinweg auffallend, d. h. B.s Bewegungen von der eigenen Wohnung zur Wohnung des Partners und zurück und die dabei stattfindende Verortung von Gewalt bzw. die territorialen Bereiche ihrer Abwesenheit. So erscheint die Wohnung des Partners vor allem als Raum mit Gewaltpotenzial. Dort schläft B. bzw. das Paar, es erfolgt der begonnene sexuelle Missbrauchsversuch, dessen Abwehr, der Streit und die durch den Partner angedrohte Gewalt. In ihrer eigenen Wohnung telefoniert B. zuerst, schaut später auch fern und ihre Tochter S. schläft bzw. wacht hier in ihrem Zimmer. Hier scheint es in dieser Nacht zunächst Sicherheit vor Gewalt zu geben.

Um den subjektiven Sinn von B.s Gewaltausübung zu verstehen, müssen wir jedoch zunächst noch einen Schritt zurücktreten und bemerken, dass es bei B. lebensgeschichtlich um das ohnmächtige Erleben der Herstellung von physischer Nähe durch andere geht, um die regelhafte Verletzung der Ausschließlichkeit ihres „Körperreviers“ (Lyman/Scott 1967: 241ff.) als soziale und zugleich territoriale Machtpraxis. Dies geschieht durch Geschwister, Eltern und/oder Partner regelhaft in ihrem familiären Zuhause, d. h. an dem Ort, welches in modernen Gesellschaften Schutz, Vertrauen und Intimität sicherstellen soll. Körperreviere sind – wie hier im Fall – „auch überführbar in Heimatterritorien“ (a.a.O.: 241), wie es B.s Partner also offensichtlich für den Körper B.s beanspruchte. Folglich können seine regelmäßigen „Übergriffe“, wie B. sie selbst bezeichnet, auch als räumliche Übergriffemittels „Missachtung“ und „Invasion“ beschrieben werden (vgl. dazu a.a.O.: 243ff.). Fokussieren wir vor diesem Hintergrund die Schlüsselszene, die B. schildert, in der sie sich erstmals gegen die sexuelle Gewalt zur Wehr setzt und ihr Körperterritorium körperlich und verbal gewaltvoll verteidigt. Was hier räumlich gleichsam als erste Phase ihrer eigenen Gewalttätigkeit geschieht, kann als „Gebietsverteidigung“ (vgl. a.a.O.: 245) und damit im sozialen Modus Herstellung von Distanz gegenüber einer heteronomen Nähe verstanden werden. Bemerkenswert ist, dass der Partner ihr nach dem Streit nicht etwa „rüber“ in ihr Territorium folgt. Dass der Anspruch auf festgelegte Wohnungsbereiche also selbst nach der erstmaligen territorialen „Gebietsverteidigung“ B.s funktioniert, bekräftigt die räumlich-symbolische Wirksamkeit der Grenzen der konstruierten Raum-„Boxen“ (vgl. Goffman 1974: 61). Anders formuliert, untermauert die spezifische Raum- und Wohnstruktur sowie deren Aneignung die neuartige „Gebietsverteidigung“ B.s (Ausschließlichkeit), denn es gibt mit ihrer Dreiraumwohnung ein (temporäres) „Außen“ zur „Box“ des Partners, nämlich die „andere Box“, in welche sich B. nun zurück ziehen kann und welche sich zugleich immer noch im „Innen“ der Partnerschaft befindet (nach der Zwei-in-Einem-Logik: zwei Wohnungen in einer, zwei Menschen in einer Partnerschaft). Wir sehen zugleich, wie in dieser Konfliktsituation die vorgegebene Wohnungsform im Zusammenspiel mit der spezifischen heteronomen räumlichen Aneignungspraxis B. sinnliche Distanz zum Partner ermöglicht (vgl. Abschnitt 3).

Allerdings – und nun geht die Gewaltdynamik in die zweite Phase – muss B. dazu „durch das Zimmer, wo: die:; S. geschlafen hat“. Aus dem Erzählzusammenhang wird deutlich, dass es sich um ein Durchgangszimmer handelt, welches zwischen der Wohnung des Partners und dem Durchbruch einerseits und einem Zimmer B.s liegt, in welchem der Fernseher steht und sie telefoniert. Die beiden Wohnungen sind also nicht über den Flur miteinander verbunden, sondern haben zwei Durchgangszimmer, über die dies geschieht. Im Zustand emotionaler Erregung der „Gebietsverteidigung“ geht B. also zwangsläufig durch das Zimmer ihrer Tochter und schließlich „rüber“ zu sich. Sie ist also im Zustand emotionaler Erregung und körperlicher Spannung durch die vorgegebene physische Wohnungsform und die soziale Raumkonstruktion temporär zu einer physischen Nähe zu ihrer Tochter gezwungen. Dort „drüben“, in ihrem „home territory“ (Lyman/Scott 1967: 238) hat sie „eine relative Freiheit im Verhalten […] und eine Wahrnehmung von Intimität und Kontrolle über das Gebiet“ (ebenda). Das schließt Kontrolle über Fernseher und Mobiltelefon als Elemente ihres „Besitzterritoriums“ (Goffman 1974: 67f.) ein, welche sie in dieser Situation auch dazu verwendet, um die lebensgeschichtliche Ausnahme und Behauptung ihrer Grenze durch Aktivität zu bewältigen. Der räumliche Nähe-Impuls aus dem Durchlaufen des Zimmers ihrer Tochter wirkt offenbar sozial nach, so dass B. deren Zimmer schließlich aus fürsorglichem Motiv und im Zuge ihrer körperlichen Schmerzen erneut betritt – und dann die Kontrolle über sich verliert, indem sie auf ihre Tochter „losgeht“. S. wird in diesem Modus durch B. als Eindringling in ihrem Territorium konstruiert und behandelt, welches B. mit offenbar großem Körpereinsatz verteidigt. Sie nimmt in ihrer retrospektiven Deutung nicht mehr wahr, dass es sich um ihre dreijährige Tochter handelt, die sie misshandelt und nicht um den damaligen gewalttätigen Kindsvater. Etwas Unerklärliches, quasi eine höhere Macht hat sie mechanisch und zwingend dabei in der Hand („da hats dann, (1,5) mein Hebel:; (.) umgehauen °gehabt°“).

Schließlich kommt noch eine andere soziale und räumliche Rahmenbedingung in dieser Situation zum Tragen, welche möglicherweise mit der Gewaltdynamik in der Familie in Beziehung steht: B.s Gewalthandeln spielt sich höchstwahrscheinlich in einer (urbanen) Mietwohnung ab. Als Hinweise darauf könnten der offenbar zeitnahe und unkomplizierte Umzug und das Aufrechterhalten des „Spanplatten“-Provisoriums statt der Installation einer Schiebetür angeführt werden – beides ist bei einer Eigentumswohnung auf lange Sicht unwahrscheinlicher. Für ein urbanes Umfeld spricht zudem dessen offenbare Toleranz gegenüber der individualistischen, eigenwilligen Raumaneignung durch den Partner (vgl. Hannemann 2014: 42). Zu dieser Annahme eines modernen urbanen Wohnens der Familie würde demzufolge auch passen, dass in Städten häusliche Gewalt durch die „extreme Privatheit“ und „soziale Isolierung“ weniger sichtbar und von außen kontrollierbar ist und es so leichter zu einer Senkung der familialen Gewaltschwelle kommen kann (vgl. Nave-Herz/Onnen-Isemann 2001: 305). Das Gewaltgeschehen in B.s Familienwohnung erscheint insgesamt als sozial und räumlich von der sie umgebenden Umwelt abgeschirmt: Denn niemand in der Nachbarschaft scheint sich etwa über die regelmäßig stattfindende (evtl. auch akustisch wahrnehmbare) „Dresche“ zu wundern, niemand greift offenbar ein, verständigt die Polizei, stellt den Partner zur Rede oder ähnliches. [23] Diese soziale Distanz zum räumlich Nahen ist etwas, was als charakteristisch für Großstädte ausgemacht werden muss: „in der modernen Großstadt kann bei nächster Flurnachbarschaft vollkommene Indifferenz und Ausschluß jeder gegenseitigen Gefühlsreaktion stattfinden.“ (Simmel 1908/1999: 721).

4.2 Gewaltsituationen im institutionellen und öffentlichen Raum (Fall 2 und 3)

In die nächsten beiden Gewaltsituationen, die betrachtet werden sollen, ist F. verstrickt, die zum Zeitpunkt des Interviews 14 Jahre alt ist. Zu ihrer familialen Situation und bisherigen Lebensgeschichte ist aus dem Interview nichts außer den beiden Gewaltsituationen bekannt, die sie erzählt. Primärsozialisation, Familienkonstellation und Wohnsituation o. ä. sind also als strukturelle Einflüsse unbekannt oder aber für die Erzählerin nicht Teil ihres Relevanzsystems, welches sie zur Erklärung ihre Gewaltausübung heranzieht. [24] Mit Kron/Verneuer (2020: 414) ist der zeitliche und damit auch soziale Ausschnitt hier fallspezifisch enger gefasst. F. erzählt zum einen in dieser Passage von einer ersten Situationsdynamik, in welcher sie u. a. selbst Gewalt ausübte:

Interviewerin: Un:;=Mobbing? hast=du:; (.) bei dir in=der Schule auch=nich; (.) (°ode:r;°)

F.: Achso; (.) ich wurd mal gemobbt in=der Grundschule, (.) se:hr; (.) oft; (.) un:d; (.) dann:; achso; da gabs halt so=ne Gruppe in der Grundschule un:d; da war halt die die immer hier sagt; ich=mach das mach das, und das ham=die alle gemacht, (.) ((einatmen)) di:e hat=mich dann halt; wo=ich nach Hause bin:; mit den Andren in=der Ecke; also; (.) in=ner Ecke zusammgeschlagen; (.) und den nächsten Tag bin=ich dann halt hin:; und hab mich; sag=ich=jetz mal so an ihr gerächt; und hab=das Gleiche bei ihr gemacht; aber alleine halt; (.) so:;=und dann:=ja, aber=ich mach das jetz halt och nich mehr wei:l; (.) ich; °hab° das ja selber abbekr- abbekomm; (.) an dem Tag; und; (.) da wees=ich ja wie=sie=sich das anfühlt @(.)@ (.) ja:;

(5,5)

Interviewerin: Ja,

F.: @(1)@

Für den Fokus auf räumliche Bezüge in Gewaltnarrationen ist hier zuvorderst die „Ecke“ bemerkenswert, in welcher zuerst F. von der Gruppe und am Tag darauf die Gruppenanführerin durch F. physische Gewalt erfährt. Wir dürfen annehmen, dass F. sich den Anweisungen des Mädchens („ich=mach das mach das“,) regelmäßig widersetzt hat und „in der Grundschule“ Konsequenzen zu spüren bekam, weshalb sie auch auf den Begriff „Mobbing“ reagiert, eine Form der Schikanierung, die u. a. regelmäßig über einen längeren Zeitraum geschieht (vgl. Wachs et al. 2016: 18f.). Das erzählte Ereignis sticht für sie dennoch hervor, wahrscheinlich weil es singulär vorkam: Die körperliche Gruppensanktionierung F.s („zusammgeschlagen“) erfolgte auf dem Weg von der Schule nach Hause („wo=ich nach Hause bin“,) „in=ner Ecke“. Den gleichen Ort wählt sie am folgenden Tag aus, um sich zu revanchieren, indem sie der Gruppenanführerin dort „das Gleiche“ antut, „aber alleine halt“ – „das Gleiche“ verstanden als der gleiche Umfang bzw. die gleiche Art der zuvor als Opfer erlebten Gewalt, „aber“ dennoch gleichzeitig „alleine halt“, also nicht in der gleichen Sozialform. F., bis dahin offenbar ausschließlich das Opfer des Mobbings, gelingt es körperlich dem Mädchen „das Gleiche“ anzutun, was ihr einen Tag davor die Gruppe zufügte. Die Verwandlung vom Opfer zur Täterin ist beachtlich, denn als Einzelperson sind hierfür die gleiche Anzahl an Einzelhandlungen (an Schlägen), mit der gleichen Intensität an Gewalt nötig. Es nimmt nicht Wunder, dass dieses Verhalten zum Abschluss der Angelegenheit führte („so“), F. also danach von dem Mädchen und der Gruppe nicht mehr angegriffen wird, denn sie ist offenbar körperlich stärker als das Mädchen und kann sie jederzeit allein übertreffen. Das von F. für ihre Rache gewählte Setting klingt außerdem fairer, da hier eine gegen eine „in der Ecke“ steht, statt eine Gruppe gegen eine Einzelne. Dennoch ist F. die Rahmung ihres Handelns als Vergeltung offenbar etwas unangenehm („und hab mich; sag=ich=jetz mal so an ihr gerächt“). Räumlich wird durch diese erlebte und ausgeübte Gewalttat „eine“ Ecke auf dem Schulweg in der Erinnerung F.s zu einer bestimmten, zu „der“ Ecke. Wir sehen noch, wie sich F. zunächst korrigiert „in=der Ecke; also; (.) in=ner Ecke“. Eine „Ecke“ – d. h. eine Hausecke, eine Straßenecke, eine Ecke zwischen zwei Zäunen o. ä. – auf dem Weg nach Hause wird durch den Angriff und dessen Racheintention mit Sinn aufgeladen und damit zu einem bedeutsamen Ort in der erzählten Erinnerung eigener Gewalttätigkeit. Auch dieses Gewaltgeschehen wird von F. als „in der Grundschule“ gerahmt und damit wiederum deutlich, dass auch der Weg aus der Schule räumlich zu diesem Kontext, diesem Rahmen aus ihrer Perspektive dazu gehört.

Diese erste Situation ihres Gewalthandelns kann sinnlogisch zugleich als „Territorialität“, d. h. als Versuch, Raum zu kontrollieren (Lyman/Scott 1967: 236) gedeutet werden. Als Basis dafür wird eine „Ecke“ durch F. durch Differenz (Simmel 1908/1999: 694) als Einheit von anderen potenziellen Raumelementen abgegrenzt, wahrgenommen, abgehoben und in ihrer Ausschließlichkeit konstruiert (Simmel 1908/1999: 690ff.). Die verübte Gewalt tritt damit gleichzeitig in individuellem Format und in der Logik einer räumlichen und sozialen territorialen Rück-Aneignung in Erscheinung. Die „Ecke“ dient dabei als von F. erinnerter Ort. Wie durch B. wird Raum hier demnach ebenfalls in seiner Möglichkeit der Verortbarkeit sozialer Vorgänge genutzt und damit als lokalisierter „Drehpunkt“ des fremden und eigenen Gewalthandelns (vgl. a.a.O.: 708). Auf diese Weise wirkt die besagte „Ecke“ gleichsam als soziales Symbol für den gesamten Schulweg, den Verlust der territorialen Autonomie darüber und deren Rückgewinnung. F.s Gewalthandeln (und auch das der Gruppenanführerin) kann damit als territoriales – und damit machtvolles (vgl. Abschnitt 3) – Instrument der Verhandlung und Kontrolle von sozialer Ordnung gedeutet werden, als Versuch der Beeinflussung des Verhaltens anderer durch physischen Zwang (vgl. Meuser 2003). F. unternimmt den erfolgreichen Versuch der Kontrolle eines für sie friedlichen Schulweges, ja eines friedlichen Grundschulkontextes, durch individuelle physische Revanche an dem zuvor in einer Gruppe agierenden und es anführenden Mädchens* und entzieht sich damit auch dessen Machtansprüchen. [25]

Eine zweite Situation, die durch F. erzählt wird, eröffnet andere Aspekte der Verschränkung von Gewalt und Raum in Form von gebauter Umwelt:

F.: Also; (.) ((Geschrei im Hintergrund)) äh:m; ich=hab=f-; (.) ähm:; in der Schule, (.) hatten wi:r; (.) eine Streitigkeit, (.) also wir warn zu viert, (.) mit=ne:r; (.) mit einem Mädchen, (.) und das ham wir dann ha:lt; (.) sehr; (.) z- (.) sag=ich jetzt ma; zusammengeschlagen; (.) da:=halts; (.) es:; (.) ein Konflikt zwischen=ner Freundin von mir, (.) und ihr war ((einatmen)) und sie dann halt dran Schuld hatte, und da warn wir halt alle sauer=of die, und da is=sie dann halt in ein=n U-Bahn-, (.) Schacht runter, (.) weil wir da langlaufen mussten; weil=wir auf=m Weg zu:r; (.) zum Berufsbildungsträger A warn, in B-Ort, (.) und; da hatten:=wi:r halt; sie rumgeschubs:; sie geschla:gen halt; (.) und; (.) auf sie eingetreten; (.) °ja°; ((schnaufen))

Hier ist zunächst die Rahmung des Gewaltgeschehnisses als „in der Schule“ interessant. Denn wir erfahren wiederholt, dass für F. räumlich offensichtlich nicht nur ein als Schule ausgewiesenes Schulgebäude zur „Schule“ gehört, sondern auch der Weg, der von der Schule zu einem Berufsbildungsträger gelaufen wird. Auf diesem Weg liegt regulär ein „U-Bahn-Schacht“, welcher zum Tatort wird. Ursache für die von der Mädchengruppe, der F. angehört, kollektiv ausgeübten Gewalt ist ein Konflikt mit einer spezifischen Logik: Eine etwa gleichaltrige Außenstehende hat einen Konflikt mit einem Gruppenmitglied, also haben alle Gruppenmitglieder einen Konflikt mit ihr. Und nicht nur das: F. und die Gruppe haben auch die Definitionsmacht darüber, dass das Mädchen „Schuld“ an dem Zweierkonflikt mit der „Freundin“ hatte – und zwar, so verstehe ich die Situation, durch ihre gedeutete Homogenität, ihren Konsens und ihre Überzahl. F. erzählt zumindest die Sachlage des Konfliktes nicht, sondern spart sie im gesamten Gespräch aus. Vielmehr geht es also offensichtlich um die soziale Konfliktkonstellation und damit verbundene kollektiv zugeschriebene Gefühle der „Schuld“ des Mädchens und das kollektive und homogene „sauer“-sein der Vierergruppe darüber. Es steht also schon jetzt 4:1. Doch diese kollektive moralische Überlegenheit scheint für eine „situative Überwindung der Konfrontationsangst“ Collins 2011) nicht auszureichen, denn auf einem regulären, wahrscheinlich wöchentlichen Schulweg zum Berufsbildungsträger kommt die räumliche Umgebung als Struktur intervenierend hinzu. Sie bietet scheinbar eine gute Gelegenheit des relativ unbeobachteten gewaltvollen physischen Zugriffs auf das Mädchen und damit für eine auch physische Inszenierung des Rechthabens oder aber des Nachdrucks, mit welchem die soziale Ordnung (wieder)hergestellt wird. Ein U-Bahn-Schacht zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass Raum unterirdisch verläuft und zu einem Hohlraum verengt wird. Ein U-Bahn-Schacht ist ein Tunnel. Der Begriff Schacht stammt aus dem Bergbau und meint einen meist senkrechten Hohlraum, um Personen oder Güter zu transportieren (vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache). In einem U-Bahn-Schacht geschieht dies horizontal ebenfalls. Irritierend ist der Begriff in diesem Kontext jedoch aus zwei Gründen: Zum einen wird von F. nicht „U-Bahnhof“ oder „U-Bahn-Station“ verwendet – reguläre Begriffe, wenn es um die befestigten und ausgeleuchteten (z. T. mit Kameras versehenen) Haltepunkte im Schienennetz einer U-Bahn geht, an denen Passagier*innen von oben durch Treppen zugeleitet zusteigen können. Da das Mädchen „runter“ geht, scheint dieses Merkmal hier auch räumlich der Fall zu sein. Andererseits legt der Begriff „U-Bahn-Schacht“ eher nahe, dass es sich um den Zugang und den zumeist dunklen, da für zivile Fußgänger*innen nicht baulich gestalteten Verkehrsweg handelt, durch den die U-Bahn selbst auch fährt, d. h. den gesamten Schienenverlauf und den Tunnel darum herum. Es ist kaum vorstellbar, dass ein regulärer Schulweg auf den Schienen in einem „Schacht“ verläuft, in welchem gleichzeitig eine U-Bahn fährt. Aus einer dritten Perspektive gehört zum U-Bahn-Schacht natürlich dann und wann auch eine Station oder ein Bahnhof.

Generell kommt hier die Frage auf, unter welchen Bedingungen der Weg zwischen zwei Gebäuden im Kontext von Schule überhaupt durch einen solchen U-Bahn-Schacht verlaufen sollte und zwar regulär. Eine Möglichkeit ist, dass die Schülerinnen die U-Bahn benutzen müssen, um zum Berufsschulträger zu kommen, er sich also nicht in fußläufiger Umgebung befindet. Dafür spricht die explizite Erwähnung von „B-Ort“. Eine zweite Möglichkeit ist es, dass der reguläre oberirdische Fußweg oder sogar die gesamte Straße temporär nicht passierbar ist, bspw. durch Bauarbeiten, und deshalb der Weg über den „Schacht“ benutzt werden muss. Da der Charakter der guten Gelegenheit für die kollektive Gewalt räumlich gegeben sein muss, kommt die Möglichkeit hinzu, dass es sich mglw. um einen U-Bahnhof handelt, der zwar gut zugänglich, derzeit aber (noch) nicht offiziell in Betrieb ist, etwa weil noch letzte Bauarbeiten stattfinden. Deshalb wäre erstens kein Eintreffen eines Zuges und von Passagier*innen zu erwarten und zweitens wäre auch die Funktion als „U-Bahnhof“ noch nicht zu erkennen, sondern der Ort könnte eher als (mglw. dunkler und abgeschiedener) „Schacht“ gedeutet werden. Solch ein Ort wäre gut geeignet für unbeobachtete Gewalttätigkeit, welche durch die Mädchen* selbst damit räumlich als deviantes Verhalten gerahmt wird und für welches man keine Beobachter*innen brauchen kann. Sicher lässt sich dies materialbasiert nicht abschließend klären. Fest steht, dass dieser Ort optimal so in den Kontext Schule eingebettet ist, dass die vier Mädchen* das andere Mädchen* zunächst ohne Belange oder intervenierende Zeug*innen herumstoßen, schlagen und auf sie eintreten können, weil sie „Schuld“ am Konflikt mit der „Freundin“ hat. F. geht in dieser Gewaltnarration fast vollständig im „wir“ auf, ausgenommen die Bezeichnung der Freundin als „Freundin von mir“, was eine besitzartige Zuweisung der Freundin darstellt. Ein erlebtes Auflösen in der Gruppe wird während der gesamten Geschichte deutlich. F. ist nicht als Individuum erkennbar. Rechtlich werden jedoch die Täterinnen anschließend individueller behandelt: F. bekommt in der „Gerichtsverhandlung“ aufgrund ihres damaligen Alters (13) „keine Strafe“ sondern „bloß=ne Vorladung,“ und entschuldigt sich bei dem Mädchen, welches dies akzeptiert.

In dieser Erzählung von F.s späterer kollektiver Gewaltausübung in einer Mädchen*gruppe zeigt sich, wie sie anlässlich eines Konfliktes mit der Gruppe „verschmilzt“ und weder F. noch eine andere im Gewalthandeln noch als Individuum erkennbar ist. Gleichwohl begeht F. als Teil der Gruppe Gewalt gegen ein außenstehendes Mädchen* als machtvolle Inszenierung seiner „Schuld“ und auch seiner Nichtzugehörigkeit. Raum in Form von gebauter (wahrscheinlich großstädtischer) Umwelt kommt hier in Form eines „U-Bahn-Schachtes“ ins Spiel, welcher räumlich zwischen zwei separaten Orten der Schule gelegen das Fehlen (erwachsener) sozialer Kontrolle für die kollektive Gewalt der Mädchen* ermöglicht (Ausschließlichkeit). Spezifisch beiden Gewaltsituationen ist es, dass beide in einer „Ecke“ und in einem „U-Bahn-Schacht“ prozessual jeweils in Schulwege als raum-zeitlichen Übergängen zwischen den Orten Schule und Zuhause bzw. zwischen zwei Schulorten eingebettet sind, sich territorial also in Übergangsgebieten abspielen. Mit Annegret Wigger liegt es hier nahe, den Begriff der Grenze (Differenz) raumwissenschaftlich als Fläche statt als Linie zu begreifen:

„Das Wort Mark macht noch sichtbar, dass eine territoriale Grenze sich real nicht einfach auf eine Linie reduzieren lässt, sondern sich in der Regel über eine Fläche ausdehnt, die auch heute noch als Niemandsland – z. B. das Territorium zwischen zwei Grenzposten – bezeichnet wird. Um eine Grenze zu überschreiten, sei das eine territoriale oder eine nationalstaatliche Grenze, muss man also in der Regel eine Fläche über- und durchqueren, um auf die andere Seite oder in ein anderes Land zu kommen.“ (Wigger 2010: 84)

In beiden hier erörterten Situationen ist das Durchschreiten eines „Niemandslandes“ sinnlogisch eng mit der Gewaltdynamik verbunden, in die F. involviert ist. Die Schule und ihre zentralen Gebäude und Flächen aber auch das Zuhause selbst scheinen für die beiden beschriebenen Gewalthandlungen kein möglicher Ort zu sein (mglw. weil sie dort nicht als legitim gelten). Stattdessen wird dafür auf ein unbeobachtetes Grenzgebiet ausgewichen, welches offensichtlich nicht von Eltern oder Lehrkräften kontrolliert wird. Mit F.s Gewalthandeln ist damit Raum in seiner Qualität der Differenz verwoben, beobachtbar an der Wahrnehmung und unintendierten Bestimmung von dafür konstruierten Raumeinheiten des eigenen Gewalthandelns. Mit der Abgrenzung von Raum verbunden, ist seine individuelle und kollektive Aneignung (vgl. Deinet 2010 35–43) zum Vollzug der Gewalt. Denn wir sehen mikrostrukturell, wie F. bzw. zwei verschiedene Gruppen räumliche Bezugspunkte verwenden, um machtvoll soziale Ordnung zu verhandeln, territorial und sozial zu inszenieren und sich ortsbezogen daran zu erinnern (Verortbarkeit sozialer Vorgänge). Der reguläre Kontext „in der Schule“ und auch im Zuhause lässt offenbar nur ein (durch Erwachsene) begrenztes Handlungsspektrum zu und so kann des Weiteren beobachtet werden, wie in altersexklusiven Grenzterritorien des Schulkontextes eine physische „Erweiterung des Handlungsraumes“ bzw. gar Gewalt als Ressource erprobt wird (Ausschließlichkeit), um Konflikte zu regeln: „neue Möglichkeiten in neuen Räumen“ (Deinet 2010: 38). [268] Gleichwohl werden diese physischen Orte der Gewalt durch F.s Wahrnehmung und Zuschreibung konstruiert, d. h. im erinnernden Erleben ausgewählt, benannt und sinnlogisch ins Handeln eingebettet. Es wird also – wie auch in der ersten Gewaltsituation von B. – deutlich, wie Gewalt als situativer prozesshafter Handlungsablauf und Raum sich wechselseitig hervorbringen, bedingen und regelhaft (an)ordnen.

5. Fazit: Gewalt als Raumkonstruktion

Im Folgenden fasse ich die wesentlichsten Ergebnisse im Hinblick auf meine Frage zusammen, welche Rolle räumlichen Konstruktionen im Ablauf von Gewaltsituationen zukommt. Trotz der Spezifik der dargestellten Gewaltsituationen können folgende übergreifende Ergebnisse festgehalten werden.

Während der Dynamik von Gewaltsituationen geschieht zugleich die soziale Konstruktion von Raum ebenso wie bereits konstruierte räumliche Arrangements sich in Beziehung zur Gewaltdynamik befinden – beide Prozesse lassen sich an theoretische Begrifflichkeiten aus der Raumsoziologie anschließen. Wenn Raum zum einen während des Gewaltgeschehens sozial konstruiert wird, geschieht dies u. a. in seiner Ausschließlichkeit. Er wirdals Territorium begrenzt und damit erst erschaffen. Im Fall 1 sind das die Wohnung und die Wohnbereiche, bei den Fällen 2 und 3 der Raum der „Schule“, eine „Ecke“ und ein „U-Bahnschacht“. Die Grenzen und Einheiten des Raumes (Differenz) werden jedoch auch zeitgebunden flexibel verändert, wie der Gebrauch der „Spanplatte“ im Fall 1 und die Konstruktion des Raumes Schule auch als Weg zur Schule oder zwischen zwei Schulgebäuden im Fall 2 und 3 zeigen. Gewalt als situativer sozialer Vorgang kann sich zudem nachweislich über die Konstruktion von Raum an einem Ort lokalisieren und fixieren. In den Fallskizzen werden dafür eine Wohnung, eine „Ecke“ und ein „U-Bahnschacht“ verwendet bzw. konstruiert. Schließlich kann auch gezeigt werden, wie sowohl soziale Nähe als auch Distanz über Raum sinnlich ausdrückbar sind (Fall 1).

In allen Gewaltnarrationen wird außerdem bereits sozial konstruierter und durch Architektur gebauter Raum vorgefunden: im Fall 1 sind es zwei baulich miteinander verbundene Dreiraumwohnungen und bei Fall 2 und 3 sind es eine „Ecke“ und ein „U-Bahnschacht“ als städtebauliche Elemente im öffentlichen Raum. Entgegen einer kausalen Relation vom Raum als Ursache für Gewalthandeln kann nachvollzogen werden, wie in spezifischer Weise mit diesem materiellen, vorgefundenen, konstruierten Raum umgegangen wird bzw. in Relation dazu Gewalt geschieht. Und zwar gerade nicht in der Manier des Befüllens eines Raum-Gefäßes mit Gewalt oder der Provokation von Gewalt durch eine bestimmte Raumgestalt, sondern im Modus eines (Weiter-)Konstruierens von Realität „auf der Basis von“. Im Fall 1 findet das Paar mit den beiden Kindern die Wohnung in ihrer spezifischen baulichen Struktur vor (und wählt sie evtl. genau deswegen auch aus), aber ausschließlich B.s Partner schreibt verzahnt mit dem bereits vorhandenen häuslichen Gewaltverhältnis Wohnbereiche zu Familienmitgliedern zu und verordnet raum-zeitliche Regeln der inneren Abgrenzung und Öffnung. In einer spezifischen Verwobenheit konstruierter sozialer und räumlicher Struktur findet B.s Gewalthandeln gegen ihn und ihre Tochter statt. Im zweiten und dritten Fall finden drei unterschiedliche Gruppierungen, in denen F. mal machtlos allein gegen eine andere Gruppe, mal in einer Zweierkonstellation und mal auf der Seite einer Gruppenübermacht steht, in Situationen der Aushandlung von Machtkonstellationen vorgestalteten öffentlichen Raum in den Grenzgebieten der Schule vor. F., eine Gruppenanführerin oder die Gruppe als kollektive Akteurin bestimmen dabei sinnhaft in diesem Grenzraum wahrnehmbare Orte für ihr Gewalthandeln. Dies sind Orte, die das Ausüben von Gewalt sozial und räumlich ermöglichen, nicht delegitimieren und/oder die bereits durch andere als sinnhaft für gewaltvolle Verhandlungen sozialer Ordnung erfahren wurden („Ecke“).

In keiner der gezeigten Gewaltsituationen ist Raum hingegen als deren Auslöser oder Ursache erkennbar. Die Spuren räumlicher Konstruktionen, welche in den narrativen Ausschnitten aufgezeigt wurden, lassen jedoch eine Einordnung von Gewaltphänomenen in die Perspektive des spatial turn (vgl. bspw. Baberowski 2016; Koloma Beck 2016; Nassauer 2021; Schönemann/Pannewitz 2020) und des new materialism (vgl. bspw. Marquardt/Schreiber 2013) zu. Sie zeigen, dass und auch wie Gewaltdynamiken verräumlicht bzw. mit bereits gebauter Umwelt in Beziehung gesetzt werden. Die aufgezeigten Spuren folgen damit letztlich empirisch der Beobachtung, dass „territoriumsähnlichen Reservaten“ bei allen „Übertretungen“ – wie es Gewalt in jedem Fall ist – „eine zentrale Rolle zugeschrieben werden“ müsse (Goffman 1974: 74). Detailgenaue Rekonstruktionen von Gewaltsituationen durch eine raumsensible Wissenschaft Sozialer Arbeit, hier exemplarisch an Narrationen von zwei Täterinnen gezeigt, können dafür ein vertieftes phänomenologisches Verständnis von Gewalt als sinnhaftem und konstitutivem Element sozialer Ordnung ermöglichen.

Danksagung

Ich möchte mich allen voran bei den Menschen bedanken, die mit uns damals im Projekt gesprochen und uns ihre Geschichte erzählt haben: Ohne Sie, Ihren Mut und Ihr Vertrauen in Wissenschaft wäre diese empirische Beforschung von Gewalt nicht möglich gewesen. Obwohl bereits einige Jahre seit dem Lehrforschungsprojekt vergangen sind, möchte ich mich außerdem bei den Studierenden bedanken, die zwei Semester lang das Projekt mit ihren Fragen, ihren Perspektiven und ihrer Tatkraft gefüllt haben und mich zur Vertiefung der hier dargelegten Fragestellung anregten. Nach dem Ende des Lehrforschungsprojektes war Magdalena Engel meine studentische Hilfskraft und unterstützte mich mit großem Engagement v. a. durch die sorgfältige Überprüfung des gesamten narrativen Transkriptionsmaterials und das Erstellen von Themengliederungen. Auch ihr gilt mein aufrichtiger Dank, ebenso wie Sebastian Schönemann und Heike Förster für ihre hilfreichen inhaltlichen Rückmeldungen und Hinweise während der Manuskripterstellung und Friedemann Affolderbach für die Perspektiven erweiternden Gespräche im engeren und weiteren Themenfeld.

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Fußnoten

[1] Auch Landschaften inkl. Wälder sind, entgegen verbreiteter Vorstellungen, von Menschen gestaltete Kulturlandschaften und keine Natur im Sinne von Wildnis. Vgl. dazu etwa Kaufmann (2005).

[2] Vgl. bspw. Löw (2015); Häußermann/Siebel (1996) oder Dangschat (1997).

[3] „Architektursoziologie untersucht Zusammenhänge von gebauter Umwelt und sozialem Handeln, unter Berücksichtigung der technischen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen. Hierbei kommt den klassen- und kulturspezifischen Raumnutzungsmustern und den architektonischen Symbolsystemen besondere Bedeutung zu. Untersuchungsfelder sind weiterhin die Strukturen des Bauprozesses und der Partizipation, die jeweiligen Eigentumsverhältnisse und der Wandel von Architektur als Beruf.“ (Schäfers 2010: 38)

[4] Da antifeministische, antidemokratische und antiaufklärerische politische Diskurse, Organisationen und Parteien das Thema „Männer als Opfer häuslicher Gewalt durch Frauen“ z. T. in aggressiver und perfider Weise für sich vereinnahmen, vereinseitigen und sich damit in menschenfeindlicher Manier in den jahrhundertealten Chor der Misogynie einreihen, möchte ich mich hiermit deutlich von solch einer Perspektive distanzieren. Mein Beitrag ist allein der Wissenschaft und Forschung und damit dem Wohle aller Menschen verpflichtet.

[5] Dies entspricht zugleich dem Ansatz intrakategorialer Intersektionalität der Gender und Queer Studies, d. h. entgegen dem unreflektierten und homogenisierenden Gebrauch, Differenzen innerhalb einer kollektivierenden Kategorie – hier „Frauen“ – zu untersuchen und damit deren vereinfachende Konstruktion im gesellschaftlichen Alltag aufzuzeigen (vgl. z. B. McCall 2005).

[6] Alle fallbezogenen Namen sind selbstverständlich maskiert.

[7] Zur Forschungsethik vgl. äquivalent zur Ethik bei der Beforschung von Adressat*innen Sozialer Arbeit bspw. Miethe/Schneider (2011: 61–74), Schneider (2015: 47), Mühlum/Buttner (2007: 155–170), Sektion Forschung der DGSA (2015). Besondere forschungsethische Grenzen sind bei der Beforschung von Adressat*innen in Bezug auf Forschungsgegenstand und -design (Miethe/Riemann: 2008), auf Forschungsinteraktion bei narrativen Interviews (Miethe/Riemann: 2008) und auf Rückmeldungen von Ergebnissen (Miethe/Riemann 2008; Hildenbrand 1999; D´Cruz/Jones 2014: 38–40) zu ermessen.

[8] Ausführlicher dazu vgl. Hildenbrand 2004.

[9] „Dabei steht das Container-Modell für die seit der Antike bekannte Vorstellung vom Raum als Behälter, in dem Dinge und Menschen aufgenommen werden können und ihren festen Platz haben.“ (Schroer 2019: 13).

[10] Martina Löw stellt fest, „dass die Wahrnehmung von Räumen auch von symbolischen Zuweisungs- und Wiedererkennungsprozessen geleitet ist" (Löw 2005: 79).

[11] Zu Differenz als erkenntnistheoretischem Grundbegriff für die Soziologie vgl. etwa Niklas Luhmann (1984). Nur durch Differenz können wir etwas wahrnehmen und erkennen: unsere Wohnung (nicht die Nachbarwohnung), mein Garten (und nicht der der Nachbarin), das Kaufhaus (und nicht die Straße davor), das Kinderzimmer (und nicht das Bad daneben), das Schulgebäude (und nicht der Parkplatz davor), der Wald (und nicht der See davor).

[12] Mit Henri Lefebvre gesprochen: „Die räumliche Praxis einer Gesellschaft sondert ihren Raum ab; in einer dialektischen Interaktion setzt sie ihn und setzt ihn gleichzeitig voraus: Sie produziert ihn langsam, aber sicher, indem sie ihn beherrscht und ihn sich aneignet.“ (2015: 335)

[13] Im Zusammenhang mit Differenz erwähnt Georg Simmel zudem die Prinzipien der Enge und Weite, die ich hier nicht aufnehmen werde. Da während des Covid-19-Lockdowns 2020 vor allem die Enge des Wohnraums, v. a. in Auswirkung auf Kinder und Betroffene häuslicher Gewalt, problematisiert wurde, kann mit Georg Simmel (1908/1999: 703ff.) darauf hingewiesen werden, dass räumliche Enge und Weite nicht zwingend mit einer sozial erlebten Enge oder Weite, etwa durch die höhere oder niedrigere Anzahl der Menschen in einem begrenzten Raum, zusammenfällt. Vielmehr ist die erlebte Enge oder Weite eines Raumes abhängig von den „Spannkräfte[n]“ (a.a.O.: 703) innerhalb einer anwesenden Gruppe: „wenn diese einen hinreichenden Spielraum finden, ohne bei ihrer Expansion an die Grenzen anzuprallen, so ist der Rahmen eben weit, auch wenn sich innerhalb seiner relativ viele Menschen zusammenfinden […] Andrerseits ist der Rahmen eng, wenn er selbst bei geringer Menschenzahl als eine Einschnürung wirkt, über die gewisse Energien, nach innen nicht entfaltbar, fortwährend hinauszugreifen suchen.“ (Ebenda.)

[14] Als besondere Form des Territoriums führt Erving Goffman etwa den Begriff der „Box“ ein (1974: 59f.), welche in Abschnitt 4.1 näher bestimmt und im empirischen Material gezeigt wird.

[15] Gleichwohl ist beobachtbar, dass Territorialität und damit Ausschließlichkeit von Raumkonstruktionen graduelle Abstufungen aufweisen, „auf der Skala“[…] „von der völligen territorialen Festgelegtheit und daraus folgenden Ausschließlichkeit zu der völligen Überräumlichkeit und der daraus folgenden Möglichkeit eines Kondominiums vieler gleichartiger über denselben Raumabschnitt“ (Simmel 1908/1999: 693).

[16] In diesem Zusammenhang zwischen den Raumqualitäten Differenz, Ausschließlichkeit und Macht bezieht sich gesellschaftliche Kritik an Raumkonstruktion oft auf Stadt- und Wohnungspolitik (Gentrifizierung). Diesem brisanten und auch global wichtigen Thema werde ich mich in diesem Beitrag jedoch aus Gründen der absichtlichen Beschränkung nicht widmen können.

[17] Johannes Becker belegt einen prozessorientierten Ortsbegriff: „der beinhaltet, dass Orte durch die sie (mit-) konstituierenden Individuen definiert werden können.“ (2019, Abs. 2). Zur kritischen Diskussion des Begriffes des Ortes vgl. bspw. Schroer/Wilde (2010).

[18] Wie ich in Abschnitt 4.1 am Beispiel zeigen möchte.

[19] Die Metapher aus der Tierzucht/-haltung ist auffällig und lässt zugleich Schlüsse auf die Vorstellung von Erziehung zu, denen an dieser Stelle nicht nachgegangen werden kann und soll.

[20] Mit Christina Thürmer-Rohr könnte hier jedoch auch kritisch beobachtet werden, dass B.s Partner gegenüber S., als ihm „fremdem Kind“ seinen „natürlichen“ Neigungen folgt: „Die >>natürlichen<< Neigungen sind ausschließend, sie reservieren die Sorge für die Nahestehenden, ein kleines Wir, die sogenannten Anderen bleiben gleichgültig, oft verdächtig, verkannt oder bedrohlich." (2002: 773)

[21] Die Kulturpraxis des durch Schiebetüren bzw. -wände flexibilisierten Raumes legt dabei übrigens eine alternative und nicht zwingend defizitäre und schicht-/klassenspezifische Deutung nahe: „Selbst die Zuweisung von spezifischen Funktionen zu Räumen muss auf kulturspezifischer Basis differenziert werden. Auch hier wird als Beispiel Japan zitiert, wo Zimmer durch Schiebewände und Veränderung der Einrichtung kurzfristig wechselnden Bedürfnissen angepasst werden können.“ (Schäfers 2006: 36)

[22] Obgleich auf diese Thematik an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden kann, ist zu unterstreichen, „dass Frauen, die durch eine Vergewaltigung schwanger werden, in der Regel unter einem durch die Gewalttat ausgelösten psychischen Trauma leiden." (Heynen 2006: 67). „Besondere Gefährdungen ergeben sich, wenn die Beziehung zu dem Gewalttäter weiter bestehen bleibt und immer wieder Gewalthandlungen verübt werden." (a.a.O.: 68). Aus Interviews mit durch eine Vergewaltigung schwanger gewordenen Frauen gewonnen, kristallisiert Susanne Heynen (2006: 68f.) vier Bewältigungsmuster heraus: 1. „Identifikation des Kindes als Kind des Vergewaltigers: Reinszenierung des traumatischen Konfliktes und Ablehnung", 2. „Identifikation des Kindes als Kind des Vergewaltigers: Solidarisierung", 3. „Identifikation des Kindes als eigenständige Persönlichkeit: Annahme der Mutterrolle und der Verantwortung für eine biographische Wende" und 4. „Findet weder eine Identifikation mit dem Ungeborenen oder mit der zukünftigen Mutterrolle, noch eine Entscheidung für ein Leben ohne Kind statt, kann gegebenenfalls das moralische Dilemma nur indirekt gelöst werden", z. B. durch starke körperliche Belastungen, um nicht zu „töten", Nicht-Wahrnehmung der Schwangerschaft in den Folgemonaten, keine Vorbereitung auf Geburt und Mutterschaft u. ä. Welche/s Muster für B. zutreffend ist bzw. sind und sich ggf. ins Verhältnis zur Gewalttat setzen lässt, lässt sich an dieser Stelle empirisch nicht fundiert entscheiden.

[23] Das bundesweite Gemeinwesenarbeitsprojekt STOP – Stadtteile ohne Partnergewalt setzt eben an diesem Punkt sozialer Kontrolle an: https://stop-partnergewalt.org/wordpress/.

[24] Hier gibt es de facto weitere forschungsmethodologische Überlegungen anzustellen, begonnen mit der Frage, ab wann Menschen in der Lage sind, Erzählungen über sich selbst anzufertigen (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2013: 9) bis zur Frage, ab wann in der Rekonstruktion von Gewalthandeln von Situationsbedingungen gesprochen werden und ab wann von Struktur die Rede sein müsste (vgl. bspw. Kron/Verneuer 2020).

[25] An dieser Situation kann auch deutlich werden, wie Gewalt wertneutraler und nicht ausschließlich defizitär „als konstitutives Element sozialer Ordnung“ (Scherr 2010: 169) beobachtet werden kann (vgl. Abschnitt 1/Einleitung).

[26] Ich insinuiere hier als Konsequenz für Soziale Arbeit und Pädagogik keineswegs eine stärkere Kontrolle bzw. heteronome Reglementierung von Kindern und Jugendlichen, sondern halte den Vorschlag von Wigger (2010) für bedenkenswert, dass bedeutsame Andere gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen im „Niemandsland“ Grenzerfahrungen – auch mit physischer Gewalt – ermöglichen.


Zitiervorschlag

Pannewitz, Anja (2021): Zur räumlichen Konstruktion von Gewaltausübung – Eine empirische Spurensuche. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/zur-raeumlichen-konstruktion-von-gewaltausuebung.php, Datum des Zugriffs: 25.04.2024