Sozialraum und Inklusion – Ethnographische Sozialraumbegehungen zur raumbezogenen Rekonstruktion von Teilhabe und Ausschluss

Hendrik Trescher, Teresa Hauck

1. Hinführung

Ethnographie – ein „Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung“ (Lüders 2010: 390), das darauf ausgerichtet ist, „‚die Fremde‘ aufzusuchen“ (Honer 2010: 197) und diese zu verstehen. Ethnographische Verfahren sind somit überaus geeignet, sich dem Gegenstand Sozialraum und Inklusion aus sozialwissenschaftlicher Sicht anzunähern. ‚Sozialraum‘ wird dabei als relationale Praxis verstanden, die sich an Orten vollzieht – und diese dadurch als Sozialraum hervorbringt. Sozialraum ist somit nicht (immer) gleichbedeutend mit territorialen Grenzen von Orten (Trescher/Hauck 2020: 27f.; Löw 2001: 198ff.; siehe auch Schroer 2006). Das bedeutet, dass es zu einer „Überlagerung unterschiedlicher Räume an einem Ort“ (Stoetzer 2014: 16) kommen kann (z. B. Freizeiträume, Arbeitsräume, Räume, an denen Ausschluss erlebt wird).

Inklusion wiederum ist die Praxis der Kritik, die Teilhabebarrieren offenlegt und im Modus des Infragestellens diese dekonstruiert (Trescher 2018a: 41f.). Im Rahmen der Begleitforschung zum Projekt „Kommune Inklusiv“ wurde das Verfahren ethnographischer Sozialraumbegehungen entwickelt (u. a. Trescher/Hauck 2017). In diesem Projekt fördert Aktion Mensch fünf Sozialräume in Deutschland (Erlangen, Rostock, Schneverdingen, Schwäbisch Gmünd, Verbandsgemeinde Nieder-Olm), die daran arbeiten, Teilhabemöglichkeiten für Menschen zu eröffnen, die von Ausschluss bedroht oder betroffen sind. Dazu werden Maßnahmen geplant, durchgeführt und koordiniert, die bestimmte Zielgruppen ansprechen, bspw. Menschen mit ‚geistiger Behinderung‘ oder Menschen mit Fluchtmigrationshintergrund, teils wird allerdings auch die Stadtgemeinschaft als gesamte adressiert. In der Begleitforschung dieses Projekts, die an der Philipps-Universität Marburg (Prof. Dr. Trescher) und der Goethe-Universität Frankfurt (Prof. Dr. Katzenbach) angesiedelt ist, wird untersucht, ob und inwiefern sich die fünf Sozialräume über den Projektzeitraum (2017-2022) verändern.

Teil dieser Untersuchung – und Gegenstand des hiesigen Beitrags – sind jene ethnographischen Sozialraumbegehungen, anhand derer die fünf Sozialräume hinsichtlich etwaiger Teilhabebarrieren im Miteinander und dem je individuellen Umgang damit erfahren werden. Forschungsleitend ist demnach die Frage, die außerdem diesen Beitrag strukturiert: Wie vollzieht sich Teilhabe? Dazu werden einleitend die Verfahren der ethnographischen Sozialraumbegehungen in methodischer Hinsicht skizziert, woraufhin exemplarisch Einblick in Alltagsgeschichten und Facetten der Teilhabe gegeben wird, die im Rahmen der Untersuchungen vor Ort gesammelt wurden. Dabei wird jeweils diskutiert, inwiefern Sozialraum relational konstituiert wird und welche Rolle die Aneignung von Raum in Bezug auf Teilhabemöglichkeiten spielt. Abschließend werden, theoretische ebenso wie handlungspraktische, Perspektiven von Sozialraum und Inklusion reflektiert.

2. Ethnographische Sozialraumbegehungen als Forschungsmethode

Die Verfahren der ethnographischen Sozialraumbegehungen wurden als Begehungen vor Ort für die Studie zum Projekt „Kommune Inklusiv“ entwickelt und leiten sich vom Forschungsinteresse ab, Sozialraum und die ihm eigenen Strukturen, Praxen, Interaktionen etc. zu erfahren und somit den Blick auf Erfahrungen zu richten, die die Menschen in den untersuchten Orten machen. Der ethnographische Ansatz ermöglicht, sich Lebenspraxis anzunähern und sozusagen Welt mit den Augen der darin lebenden Menschen zu sehen (Honer 2010: 195). Voraussetzung dafür ist „eine sozialwissenschaftliche Haltung der Neugier, die davon ausgeht, dass soziale Wirklichkeiten Überraschendes und Verwunderliches bereithalten, sowie die Bereitschaft, sich der Dynamik und Logik eines Feldes auszusetzen“ (Breidenstein et al. 2013: 7). Das konkrete methodische Vorgehen, das nachstehend nur kurz skizziert werden kann, ist an Seifert (2010: 301f.) und Honer (2010: 197) angelehnt.

Bei den Begehungen vor Ort waren die Fragen leitend: Wie vollzieht sich Teilhabe? Worin liegen Barrieren, die Teilhabemöglichkeiten behindern? Forschungspraktisch wurden zahlreiche Beobachtungsprotokolle angefertigt und immer wieder kurze gesprächsförmige Interviews mit den Menschen vor Ort geführt. Außerdem wurden Artefakte gesammelt, wie bspw. Busfahrpläne, Flyer mit Veranstaltungshinweisen, Fotografien von Hinweis- und Verkehrsschildern, Rampen und anderen Leitlinien. Die Begehungen führten die Forschenden sowohl in belebte Innenstadträume als auch an Freizeit- und Kulturorte, in Wohnviertel, Orte des sozialen Wohnungsbaus und viele mehr. Dabei wurde außerdem immer der öffentliche Personennahverkehr untersucht. So wird „[i]n zahlreichen und kleinteiligen Beobachtungsprotokollen […] der Sozialraum beschrieben und es werden konkrete Interaktionen dokumentiert, an denen teilgenommen wurde oder die eher ‚aus der Ferne‘ wahrgenommen wurden“ (Trescher/Hauck 2020: 50). Diese verschiedenen Zugänge eröffnen Sozialraum als relationale Praxis und resultieren in einem großen und vielgestaltigen Materialkorpus, dessen Analyse in ethnographischen Berichten resultiert (Lüders 2010: 396f.).

3. Alltagsgeschichten und Facetten der Teilhabe

Die Alltagsgeschichten und Facetten der Teilhabe, die als Ergebnis der ethnographischen Sozialraumbegehungen exemplarisch dargelegt werden, sind unter Themen zusammengefasst, die diese rahmen. Dabei werden die Sozialräume, in denen die zur Illustration herangezogenen Geschichten gesammelt wurden, nicht ausdrücklich benannt, denn es wird davon ausgegangen, dass ähnliche Erfahrungen, wie die hier geschilderten, auch in anderen Sozialräumen gemacht werden können.

3.1 Einsamkeit – „Man unterhält sich auch schon mal, aber wirklich kennen tut sich hier niemand.“

Ein wichtiges Ergebnis der ethnographischen Sozialraumbegehungen ist, dass Menschen in den untersuchten Sozialräumen teils Einsamkeit erleben. Diese Empfindungen und Erfahrungen sind mit dafür verantwortlich, dass bestimmte Personen nur eingeschränkt am Leben in ihrem Sozialraum, also dem Ort, dem sie sich – mehr oder weniger – zugehörig fühlen, teilhaben können. Einsamkeit wird insofern als Teilhabebarriere wirksam. Das folgende Fallbeispiel verdeutlicht dies.

In einem Einkaufszentrum begegnen die Forschenden einem Herrn (ca. 75 Jahre alt). Sie kommen mit ihm ins Gespräch und er berichtet unter anderem das Folgende. „Ich wohne schon sehr lange hier im Stadtteil, bestimmt fünfundzwanzig Jahre. Alle zwei Tage komme ich hier ins Einkaufszentrum zum Mittagessen. Als meine Frau noch lebte, sind wir nur zum Einkaufen hergekommen, aber jetzt esse ich häufig hier. Auch wenn ich sagen muss, dass es mir gar nicht so gut schmeckt. Sonst unternehme ich nicht so viel, es gibt hier aber auch nicht so viel – zumindest nichts, was mich interessiert oder was ich mir leisten könnte. Seit mein Sohn weggezogen ist, kann ich leider auch nicht mehr mit meinem Enkel auf den Spielplatz gehen. Die Leute hier im Einkaufszentrum sehe ich zwar regelmäßig und man unterhält sich auch schon mal, aber wirklich kennen tut sich hier niemand.“

Unter Einsamkeit wird das Gefühl verstanden, ausgeschlossen oder isoliert zu sein, da „die Menge oder Qualität […] [der] persönlichen Beziehungen die eigenen Beziehungsbedürfnisse nicht erfüllt“ (Böger et al. 2017: 274). Neben Ausschluss im persönlichen Bereich kann empfundener gesellschaftlicher Ausschluss dazu beitragen, dass sich Menschen einsam fühlen (Böger et al. 2017: 274). Gesellschaftlicher Ausschluss wird dabei oftmals als gleichbedeutend verstanden mit eingeschränkter Teilhabe an Kultur oder geringerem politischen Einfluss (Böger et al. 2017: 275). Beeinflusst werden Ausschluss- und Einsamkeitserfahrungen außerdem von Armut, geringerer Bildung, beeinträchtigter Gesundheit sowie durch „[k]ritische Lebensereignisse, wie bspw. der Verlust des Arbeitsplatzes oder der Tod des Ehepartners“ (Böger et al. 2017: 275; siehe auch Becker 2020: 11; Eyerund/Orth 2019: 2). Als weiterer verstärkender Faktor für das Erleben von Einsamkeit zeichnet sich außerdem Migrationserfahrung ab (Eyerund/Orth 2019: 2). In Deutschland ist es, laut aktuellen Studien, so, dass „sich etwa jede zehnte Person oft oder sehr oft einsam [fühlt]“ (Eyerund/Orth 2019: 2). Dabei sind Gefühle von Einsamkeit insgesamt eher rückläufig, wenngleich in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals von einer gegenteiligen Entwicklung ausgegangen wird (Eyerund/Orth 2019: 2). Gleichzeitig sei angemerkt, dass Einsamkeit viele Facetten haben kann.

In Anbetracht dessen deuten die Ergebnisse der ethnographischen Sozialraumbegehungen auf ein übergeordnetes sozialpolitisches Problem hin, denn Einsamkeit ist eine Erfahrung, die grundsätzlich alle Menschen betreffen kann und insofern gerade im Kontext Inklusion bedeutsam ist. Die oben geschilderte Begegnung zeigt, inwiefern es gerade für SeniorInnen, aber auch alle anderen Menschen, die (zeitweise) einsam sind, wichtig wäre, Gelegenheiten zu schaffen, am Leben im Sozialraum teilzuhaben. Zentral ist dabei die Möglichkeit, sich den Stadtteil als Raum aneignen zu können, in dem sich die Einwohnenden zuhause fühlen, sich gerne aufhalten und die sie dadurch als Handlungsraum hervorbringen.

3.2 Freundschaft – „Ja, welchen Arm willst du denn? Rechts oder links?“

Es wurde festgestellt, dass Freundschaften teils dazu beitragen können, Teilhabebarrieren zu überwinden. Die folgende Begegnung illustriert dies.

Im Außenbereich einer Gaststätte sitzen am Nebentisch zwei Herren (beide ca. 60 Jahre alt). Sie unterhalten sich und trinken Bier. Als einer der Herren sagt, er müsse zur Toilette, steht der andere wie selbstverständlich auf und fragt ihn: „Ja, welchen Arm willst du denn? Rechts oder links?“ Er gibt ihm einen Gehstock in die Hand, greift ihn unter seinem Arm und führt ihn zwei Stufen hinauf in die Gaststätte und dort weiter bis zur Toilette. Am Ärmel des geführten Herrn ist ein Symbol zu erkennen, das ihn als sehbeeinträchtigt kennzeichnet.

Freundschaftsbeziehungen sind frei gewählt und haben das Potenzial, sich zu den wichtigsten sozialen Beziehungen vieler Menschen zu entwickeln, da Verwandtschaftsbeziehungen aufgrund des demographischen Wandels längerfristig weniger werden (Schobin et al. 2016: 12; siehe auch Fritzsche 2009: 185). Freundschaften sind davon gekennzeichnet, dass sie „auf Augenhöhe statt[finden]“ (Fritzsche 2009: 186) und insofern auf die Gleichheit der FreundInnen ausgerichtet sind. Sie entstehen aus vertrautem „Umgang miteinander, aus einem gemeinsamen Projekt oder Interesse“ (Fritzsche 2009: 185). Gleichzeitig sind Freundschaftsbeziehungen „extrem vielfältig und fluide“ (Schobin et al. 2016: 14), wodurch sie teils nur unscharf zu Ausprägungen anderer sozialer Beziehungen abzugrenzen sind. Das Merkmal von Freundschaft als Beziehung unter Gleichen, die nicht auf einen (wechselseitigen) Nutzen ausgerichtet ist, gibt Hinweise für den Zusammenhang von Freundschaft und Inklusion. Freundschaften als gleichberechtigte Beziehungen vollziehen sich insofern gewissermaßen inklusiv und können in dieser Hinsicht als eine gelingende Sozialform im Kontext Inklusion verstanden werden (hierbei wird ausdrücklich nicht gesagt, dass Inklusion sich einzig in Freundschaftsbeziehungen vollziehen kann).

In Bezug auf die geschilderte Begegnung steht diesbezüglich vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Freundschaft und Abhängigkeit im Vordergrund sowie die nach dem Austarieren einer etwaigen Grenze zwischen Hilfe und Assistenz. Einzelne an der Sozialbeziehung Beteiligte sind abhängig von ihren FreundInnen, was potenziell zu einer gewissen Schieflage der Freundschaft führen kann. Im Beispiel des oben geschilderten Herrentreffs in der Gaststätte wäre es also denkbar, dass entsprechende Leit- und Stützsysteme den beschriebenen geh- und sehbeeinträchtigten Herrn dabei unterstützen könnten, selbstständig die Toilette aufzusuchen, wodurch die Abhängigkeit von Unterstützung durch FreundInnen gemindert würde. Außerdem könnte er sich dadurch Sozialraum in anderer, selbstständigerer Weise aneignen als in der Begleitung durch seinen Freund. Andererseits ist völlig klar, dass es so etwas wie ‚totale Barrierefreiheit‘ gar nicht geben kann und dass die selbstverständliche Begleitung und Hilfeleistung ihrerseits Ausdruck inklusiver Teilhabe ist. Außerdem gibt es keine gemeingültigen Regeln für die Ausgestaltung von Freundschaftsbeziehungen und einseitige Abhängigkeitsverhältnisse müssen deshalb nicht unbedingt belastend sein. Auch wenn Freundschaften ein inspirierender Ausdruck dafür sind, wie Teilhabebarrieren überwunden werden können, wäre es zu eindimensional, die Verantwortung für inklusive Teilhabe in den privaten Rahmen zu verlagern.

3.3 Starkes Sozialgefüge für Einheimische, Teilhabebarrieren für Hinzugezogene – „Wer nicht von hier ist, hat’s schwer.“

Sozialräume sind oftmals davon gekennzeichnet, nach innen offen und nach außen eher geschlossen zu sein. Das bedeutet, dass der Zugang zu sozialem Leben an einem bestimmten Ort erschwert sein kann, sobald diese Hürde jedoch überwunden wurde, eine Teilhabe am Sozialraum (im Sinne von Aneignung und Hervorbringung) möglich ist. Im Folgenden wird eine Begegnung beispielhaft wiedergegeben, die ein gutes Beispiel dafür ist, inwiefern ein starkes Sozialgefüge die Teilhabemöglichkeiten von Menschen erweitert, die im Ort verwurzelt sind, und inwiefern demgegenüber Menschen, die zugezogen sind, oftmals eher an Teilhabebarrieren stoßen.

Bei einer Veranstaltung kommen die Forschenden mit einer Dame (ca. 55 Jahre alt) ins Gespräch, mit der sie an einem Tisch sitzen. Im Verlauf des Gesprächs sagt sie, dass sie „ja eine Zugezogene“ sei – „Eine Ausländerin sozusagen“ ergänzt sie, denn vor einigen Jahren sei sie aus einem anderen Bundesland zugezogen. Sie berichtet uns, dass die Menschen hier sehr verschlossen seien und es fast nicht möglich sei, in den inneren Kreis vorzudringen. „Das ist fast schon Inzest“, sagt sie. Ihre Bekannten seien ebenfalls ausschließlich Zugezogene, mit den Einheimischen komme kein Kontakt zustande, denn: „Wer nicht von hier ist, hat’s schwer“.

Herausfordernd im Kontext Teilhabe sind insbesondere die (potenziellen) Ungleichheiten zwischen „‚Alteingesessene[n]‘ und ‚Zugezogene[n]‘“ (Bender et al. 2019: 74). Diese werden primär im Kontext (Flucht-)Migration behandelt (u. a. Gruber 2014), stellen sich jedoch auch unabhängig davon, wie die Ergebnisse der ethnographischen Sozialraumbegehungen zeigen. Denn: Ausschluss vollzieht sich (in den kleinstädtischen Sozialräumen) auch dadurch, dass ein Zugang zum ‚inneren Kern‘, also den Menschen, die schon sehr lange (teils seit Generationen) vor Ort leben, nur schwer gefunden werden kann. In der Folge erleben Hinzugezogene Ausschluss und verringerte Möglichkeiten zu Sozialkontakten. Die Menschen dagegen, die schon lange im jeweiligen Sozialraum leben und diesen mitgestalten, erleben sich oftmals als eingebunden in ein starkes und verlässliches soziales Netz. Diese Praxis ist ambivalent, denn während diejenigen, die gewissermaßen zum inneren Kreis gehören, engen Zusammenhalt erleben, wird dies für Außenstehende eher als abgeschlossen und ausschließend wirksam. In größeren Städten ist es dagegen häufig einfacher, neue Sozialkontakte zu knüpfen, allerdings sind diese womöglich teils unverbindlicher und es kann auch dort länger dauern, enge Sozialbeziehungen zu entwickeln (Spellerberg 2014: 202).

Am Beispiel der oben zitierten Dame kann diskutiert werden, inwiefern Außenstehende bzw. Zugezogene zu einer Solidargemeinschaft werden, in der es leichter ist, Kontakte zu knüpfen. Im Kleinen vollzieht sich hierbei etwas, das die Soziologie bspw. unter den Begriffen ‚Enklavenbildung‘ oder ‚Ghettoisierung‘ kennt (siehe u. a. Frank 2014: 160), die sich durch gleichzeitige „Selbsteinschließung und Abgrenzung“ (Frank 2014: 160) auszeichnen. Es kommt zu einer „Verfestigung eines Nebeneinanders verschiedener Bevölkerungsgruppen/‚Communities‘“ (Franke et al. 2020: 45), die „unzureichend […] Kontakt untereinander“ (Franke et al. 2020: 45) haben. Es handelt sich hierbei um eine Praxis, die dem menschlichen Bedürfnis entspringt, Sozialkontakte einzugehen und sich zugehörig zu fühlen. Anknüpfend daran stellt sich die Frage, wie die positive Ausgangssituation, dass im Ort ein enges Sozialgefüge vorhanden ist, fruchtbar gemacht werden kann, sodass auch Zugezogene Teilhabemöglichkeiten haben und ergreifen können.

3.4 Aufwachsen und Jugend – „Sobald Donnerstagabend ist, wollen wir nichts wie raus und feiern gehen!“

Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ist ein wichtiger Faktor dafür, wie diese in ihrem späteren Leben in die Gesamtgesellschaft eingebunden sind (Bühler-Niederberger 2018: 331). „Kindheiten können mehr oder weniger privilegiert sein, und in der Folge eröffnen sie ungleiche Chancen für den weiteren Lebenslauf“ (Bühler-Niederberger 2018: 331). Dabei spielen Wohnort, Haushaltseinkommen, Bildungshintergrund, Behinderungs- oder Migrationserfahrung oftmals eine bedeutsame Rolle. Welche Aneignungspraxen von Sozialraum Jugendliche haben können, wird im Folgenden an einem Beispiel dargelegt.

Am Bahnhof warten am Gleis einige Jugendliche (ca. 15-18 Jahre alt). Sie berichten, dass sie auf den Zug nach [nächstgelegene Großstadt] warten. „Sobald Donnerstagabend ist, wollen wir nichts wie raus und feiern gehen!“ Das sei in der nahe gelegenen Großstadt viel besser möglich, als hier.

Kinder und Jugendliche eignen sich die Stadt, in der sie leben, als je unterschiedlichen Sozialraum an. Ein Aspekt, der sich dabei auswirken kann, ist, ob Kinder und Jugendliche eher in Großstädten, Kleinstädten oder im ländlichen Raum aufwachsen (Wenk 2005: 98). Herausforderungen des Aufwachsens in der Kleinstadt und insbesondere in eher ländlich geprägten Regionen sind unter anderem die Abhängigkeit von oftmals ungenügend ausgebautem öffentlichem Personennahverkehr, damit verbundene geringere Mobilität, die die Erfahrungsmöglichkeiten einschränkt, engere traditionelle Bindungen, Wohnen im Einfamilienhaus, naturnahe Tätigkeiten (z. B. Gartenarbeit) und weitere (Spellerberg 2014: 205 und 208; siehe auch Eisenbürger/Vogelgesang 2002: 30ff.). Sind die Möglichkeiten eingeschränkt, die Orte aufzusuchen, an denen sich kulturelle, freizeitliche und soziale Aktivitäten abspielen, so wird gleichermaßen der Erfahrungshorizont der Heranwachsenden eingeschränkt. Diesen breit zu gestalten ist allerdings immens wichtig dafür, sich selbst als Person zu entwickeln. Spontaneität kann dabei zur Teilhabebarriere werden, die sich insbesondere im Kontext ‚Behinderung‘ auswirkt, weil vieles vorgeplant werden muss (bspw. ein gemeinsamer Abend in der nahe gelegenen Großstadt, wie im obigen Beispiel geschildert). Dies hat Auswirkungen auf die Biographie Heranwachsender, die dadurch keinen oder lediglich einen stark eingeschränkten Einblick in bestimmte Bereiche nehmen können, die die Lebensphase der Jugend in vielerlei Hinsicht ausmachen.

Inklusion im Kontext Jugend und Aufwachsen bedeutet demnach, gleiche Möglichkeiten zu bieten, erwachsen zu werden. Lage und Größe des Sozialraums, selbstständige und flexible Mobilität, Spontaneität und breite Kultur- und Freizeitangebote spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dies ist auch vor dem Hintergrund bedeutsam, dass sich Jugendliche, die in eher ländlichen Regionen aufwachsen, teils benachteiligt fühlen „hinsichtlich ihrer Bildungs- und Berufsperspektiven“ (Beierle et al. 2016: 38) und davon ausgehen, dass Jugendliche in städtischeren Gegenden diesbezüglich breitere Möglichkeiten haben (Beierle et al. 2016: 38). Gleichzeitig gilt es unbedingt hervorzuheben, dass die Grenze zwischen ‚Stadt‘ und ‚Land‘ keinesfalls so absolut gezogen werden kann, wie es diese Darstellung ggf. impliziert, denn „Suburbanisierung, der Einfluss von Massenmedien und die Automobilisierung haben […] zu unklaren Grenzziehungen zwischen städtischem und ländlichem Leben geführt“ (Spellerberg 2014: 228). Dennoch sind Faktoren auszumachen, wie Lage, Größe und Struktur des jeweiligen Wohnortes, die das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und somit ihre Möglichkeiten, sich Sozialraum als Handlungsraum anzueignen, mitbeeinflussen.

3.5 Nach Hilfe fragen und hilfsbereit sein – „Junger Mann, wären Sie so nett, mir die Nüsschen runterzuholen?“

Im Kontext von Inklusion und Sozialraum(-Aneignung) spielen Hilfebeziehungen eine Rolle, denn sie beeinflussen, inwiefern bzw. in welcher Weise sich Personen Sozialraum aneignen können. HilfeempfängerIn zu sein ist dabei oftmals verknüpft mit Teilhabeeinschränkungen, insbesondere dann, wenn dieser Status verfestigt und die Person darauf reduziert zu werden droht. Das Gefälle, das Hilfeleistungen inhärent ist, wird dann zum Problem, wenn die damit verbundenen Rollenzuschreibungen nicht mehr aufgelöst werden können. Es stellt sich also die Frage, wie jene Zuschreibungen von Hilfe geben und Hilfe empfangen infrage gestellt und fluide gestaltet werden können – wer wird wem wann in welcher Weise zur Hilfe? Das nachfolgende Beispiel illustriert dies.

Eine Dame (ca. 80 Jahre alt), die tief gebeugt an ihrem Rollator läuft, bittet die Forschenden in einem Einkaufsmarkt um Hilfe, sie sagt: „Junger Mann, wären Sie so nett, mir die Nüsschen runterzuholen?“ Die Forschenden helfen ihr von da an ein wenig beim Einkaufen: Holen Waren aus den Regalen und legen sie in die Tasche an ihrem Rollator und Ähnliches. Ein Mitarbeiter des Einkaufsmarktes, erkennbar an seiner Uniform, sieht das, schaut einen kurzen Moment zu und entfernt sich dann wieder. Zum Abschied sagt die Dame: „Das ist ja schön, dass Sie hier gerade auch einkaufen. Wann sind Sie denn das nächste Mal da? Dann komme ich nämlich auch einfach wieder, dann machen wir das zusammen!“

Hilfe ist im Kontext Inklusion – und im Feld der Inklusions- und Sonderpädagogik insgesamt – ein Begriff, der gerne vermieden wird, weshalb er „nach wie vor ein empirisch nur zaghaft aufgeklärter und theoretisch weiterhin unzulänglich bestimmter Begriff“ (Bock/Thole 2011: 5) ist. Teils werden außerdem Versuche verzeichnet, den Hilfebegriff durch (vermeintliche) Synonyme zu ersetzen, wie bspw. Assistenz, Dienstleistung oder Unterstützung. Dahinter liegt oftmals das Bestreben, die Asymmetrie zu umgehen oder zumindest aufzuweichen, die dem Hilfebegriff inhärent ist und teils als negativ bewertet wird. Dabei handelt es sich jedoch um ein Unterfangen, das hinterfragt werden muss, denn auch die Begriffe, die den der Hilfe ersetzen sollen, sind durch ein Gefälle geprägt. Dieses zeigt sich darin, dass Hilfe sich „als Interaktion zwischen zwei Personen [vollzieht], von denen die eine hilfsbedürftig ist“ (Gängler 2002: 132) bzw. im Prozess der Hilfeleistung als hilfebedürftig hervorgebracht wird.

Ein weiteres Strukturproblem von Hilfebeziehungen liegt in der „Paradoxie zwischen ‚Hilfe und Kontrolle‘“ (Bock/Thole 2011: 8), die unter anderem dahingehend ausgeprägt ist, dass (insbesondere sozialarbeiterische, sozialpädagogische) Hilfe zwar von der Person, der geholfen wird, und ihren Interessen ausgeht, gleichzeitig jedoch oftmals gesellschaftlich eingebunden ist und insofern die Funktion „soziale[r] Kontrolle im Auftrag des Staates“ (Bock/Thole 2011: 8) erfüllt. Hilfe erbringen, der Hilfe bedürfen und Praxen der Hilfeleistung koordinieren, sind also durchaus ambivalente Vorgänge. Gerade im Kontext Inklusion gilt es dabei zu bedenken, dass Teilhabe auch heißt, Zuschreibungspraxen und damit oftmals verbundene Verteilungen von Handlungsmacht aufzulösen.

Die oben geschilderte Begegnung zeigt, inwiefern Hilferollen beansprucht, vergeben, aber darüber hinaus ggf. auch umgekehrt werden können. Eine solche Umkehrung kann als Ausdruck von Ermächtigung und Dekonstruktion von Behinderung als subjektiver Identitätszuschreibung gelesen werden. [1] Inklusion heißt insofern, Zuschreibungen zu dekonstruieren, die im Kontext ‚Hilfe‘ oftmals vorgängig und kaum verrückbar vorgenommen werden (das betrifft auch die engen – und in vielerlei Hinsicht behindernden – Strukturen des sogenannten Hilfesystems; Trescher 2017; 2018a). In Bezug auf Sozialraum(?Aneignung) bedeutet das außerdem, allen Menschen zu ermöglichen, Rollen einzunehmen, die ihnen je situativ passen, und sich somit Sozialraum als Ort anzueignen, an dem sie, bspw., sowohl Hilfe geben als auch Hilfe empfangen können – je situativ und flexibel. Strukturell betrachtet kann außerdem diskutiert werden, ob Hilfe- bzw. Unterstützungsleistungen (nicht) institutionalisiert werden sollten, bspw. anhand flächendeckend verfügbarer Einkaufshilfen, oder ob demgegenüber eine Förderung von Bewusstsein in den Vordergrund gestellt werden sollte, die die EinwohnerInnen ermächtigt, nach Hilfe zu fragen und/oder Hilfe zu erbringen (immer in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation).

Dabei muss außerdem die Frage diskutiert werden: Geht es darum, das (zumeist durchaus positive) Miteinander geschehen zu lassen oder geht es darum, Assistenzsysteme zu schaffen und zu etablieren? Am obigen Beispiel kann diesbezüglich diskutiert werden, ob es ggf. ein externes Assistenzsystem geben muss, auf das sich der Einkaufsmarkt und insbesondere alle Einkaufenden verlassen können, bspw. eine Einkaufshilfe, die von der Stadt gestellt wird, oder ob dies eine Aufgabe ist, die der Einkaufsmarkt selbst übernehmen und seinen KundInnen anbieten muss. Unabhängig davon, welcher Fokus gewählt wird, muss bedacht werden, dass die jeweils anderen von ihrer Zuständigkeit entschuldigt sind und sich somit möglicherweise ein Stück weit aus der Verantwortung ziehen. Es wird klar: Die Frage nach Hilfe ist ambivalent und bedarf der sensiblen Auseinandersetzung.

3.6 Ausgrenzen und Ausgrenzung erleben – „Denen sind wir Alten aus dem Süden anscheinend egal, die tun nur noch was für die Reichen und die Touristen.“

Ausgrenzung vollzieht sich auf vielfältige Art und Weise als Teilhabebarriere, bspw. dadurch, sich als BürgerIn eines bestimmten Stadtteils gegenüber anderen benachteiligt zu fühlen, wie im Folgenden geschildert wird.

Die Forschenden sind in einem Park im Süden der Stadt. Im Park fällt ein sumpfiger Teich auf, der einen unangenehmen Geruch verströmt. Obwohl es Nachmittag an einem Wochentag ist und dazu sehr gutes Wetter, ist der Park so gut wie leer. Eine Dame (ca. 75 Jahre alt) spricht die Forschenden an und sagt, dass es unmöglich sei, wie sehr die Stadt den Park hier verkommen lässt. „Denen sind wir Alten aus dem Süden anscheinend egal, die tun nur noch was für die Reichen und die Touristen“, fügt sie ärgerlich hinzu.

Wird sich mit Ausgrenzung beschäftigt, so ist ein Blick auf den Begriff und die sozialwissenschaftliche Einordnung von ‚Grenze‘ hilfreich. Neben einem Verständnis von Grenze als „territoriale Differenzierungen“ (Eigmüller/Vobruba 2006: 9) bezeichnet der Begriff die Konstruktion und Konstitution von „Differenzen im Raum“ (Eigmüller/Vobruba 2006: 9), womit ausdrücklich ebenfalls Differenzen in der Aneignung von Raum als subjektiv bedeutsamen Handlungsraum umfasst werden sollen. In der Betrachtung von Grenze als soziale Praxis interessieren sowohl ihre „Konstitutionszusammenhänge“ (Eigmüller/Vobruba 2006: 8), also, wie Grenzen errichtet werden, als auch „die Konsequenzen von Grenzen“ (Eigmüller/Vobruba 2006: 8), das heißt, auf welche Weise sie sich auf Menschen, Räume und Miteinander auswirken. Im Vordergrund steht dabei vor allem „die Frage nach den Handlungsoptionen von Menschen auf der Grundlage bestehender Exklusions- bzw. Inklusionsmacht von Grenzen“ (Eigmüller/Vobruba 2006: 8). Die Aushandlung von Grenzen resultiert somit in einer je bestimmten „sozialen Ordnung“ (Eigmüller 2006: 55). Grenzen werden im sozialen Miteinander sehr vielgestaltig gezogen und erlebt. Dabei nehmen Personen je situativ unterschiedliche Rollen ein: als Personen, die ausgrenzen, und als Personen, die ausgegrenzt werden oder sich ausgegrenzt fühlen. Ausgrenzung vollzieht sich dabei auf viele Weise, bspw. als Ausschluss, Diskriminierung, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit oder auch als strukturelle Ausgrenzung, wie sie sich bspw. durch mangelnde Barrierefreiheit vollziehen kann.

Bedeutsam ist außerdem, dass Ausgrenzungserfahrungen ein Resultat von Abgrenzung sind bzw. sein können. Indem Grenzen gezogen werden, wird potenziell die Teilhabe bestimmter Personen eingeschränkt oder sogar ausgeschlossen. Dies mag für bestimmte Diskurse sinnvoll sein (bspw. solche, zu denen der Zugang durch eine bestimmte Qualifikation geregelt ist), vollzieht sich jedoch auch in Diskursen, die allen Personen einschränkungslos offenstehen sollten. „Eine Frage, die sich hierbei ganz grundsätzlich stellt, ist, inwiefern und durch welche Instanzen der Zugang zu Diskursen respektive Diskursteilhabe durch innere Mechanismen von Diskursen reguliert werden kann, darf, soll und oder muss“ (Trescher 2018a: 41). Das bedeutet, dass die Frage nach Zugängen, Grenzen und Ausgrenzungserfahrungen immer auch politisch bedacht und entschieden werden muss (Trescher 2018a: 41).

Im Kontext Inklusion und Sozialraum bedeutet das, dass es ganz konkret darum geht, Menschen dafür zu sensibilisieren, dass sich Ausgrenzung vielfältig vollzieht – bspw. dadurch, sich von Sozialpolitik und/oder Raumplanung vernachlässigt zu fühlen, wie im obigen Beispiel beschrieben – und dass das eigene Handeln teils zu Ausschluss beiträgt. Es braucht folglich ein Bewusstsein dafür, inwiefern Barrieren (nicht nur) im Miteinander entstehen, sodass empathisch und sensibel agiert werden kann. Ein weiterer Aspekt von Ausgrenzung, den es zu berücksichtigen gilt, ist, dass diese teils wichtig sein kann, um inneren Zusammenhalt und Gruppenzugehörigkeit zu stärken. Inwiefern das ggf. mit Ausgrenzungserfahrungen kollidiert bzw. diese erst hervorruft, ist eine zentrale Frage, die oben in Bezug auf den Umzug in einen Sozialraum, der durch ein enges Sozialgefüge geprägt ist, bereits diskutiert wurde.

3.7 Barrieren und Barrierefreiheit – „Also, wer das entworfen hat, hat echt keine Ahnung.“

Stellvertretend für viele Begegnungen und Beobachtungen wird im Folgenden eine Geschichte geschildert, in der die Aushandlung von Barriere(-Freiheit) deutlich wird. Dabei liegt ein besonderer Fokus darauf, Barrieren und die ihnen inhärenten Herausforderungen, die oftmals in Ausschlusserfahrungen resultieren, zu diskutieren, die sich jenseits von ‚Behinderung‘ und den damit verknüpften Zuschreibungspraxen vollziehen.

An einem Parkplatz befindet sich eine öffentliche Toilette mit einzelnen Zugängen, die mit ‚Herren‘, ‚Damen‘ und einem Rollstuhlpiktogramm gekennzeichnet sind. Das Herren- und Damen-WC ist mit einem Drehkreuz verschlossen, das nach Zahlung von 50 Cent gedreht werden kann und so den Eintritt ermöglicht. Eine Dame (ca. 35 Jahre alt) versucht, mit ihrem Baby und dem Kinderwagen in die Damentoilette zu gelangen. Sie schafft es gerade so, ihr Baby und die Schale des Kinderwagens, in der es liegt, über das Drehkreuz zu heben. Um auch noch die Windeltasche in die Toilette zu holen, muss sie durch das Drehkreuz klettern und wieder zurück. Sie wirkt angestrengt und flucht verhalten: „Also, wer das entworfen hat, hat echt keine Ahnung“.

Neben solchen Barrieren, die als bauliche Hindernisse wirksam werden, gibt es zahlreiche weitere, die zu Ausschluss an Praxen der Mehrheitsgesellschaft führen. Barrieren entstehen je situativ und sind sozial, emotional, physisch etc. erlebbar (Trescher 2021). Infolgedessen stoßen nicht nur Personen an Barrieren, die bislang als ‚behindert‘ bezeichnet werden, sondern alle Personen, deren Teilhabe je situativ eingeschränkt wird – wie im obigen Beispiel deutlich wird. Durch sogenannte Barrierefreiheit, kann bestimmten Personen Zugang ermöglicht werden, wo er ihnen zuvor ggf. verschlossen war.

Allerdings kann beobachtet werden, dass Barrierefreiheit, respektive der Umgang mit ihr, „häufig moralisch aufgeladen[…]“ (Trescher/Hauck 2020: 29) ist. Eine Folge davon ist, dass Barrierefreiheit unbedingt mehrdimensional und abwägend betrachtet werden muss. Dies zeigt sich außerdem auf begrifflicher Ebene, ist der Begriff ‚Barrierefreiheit‘ doch untrennbar mit Barrieren verbunden und ohne das Vorhandensein dieser nicht denk- und handelbar. Barrierefreiheit bezeichnet in diesem Sinne weniger die Abwesenheit von Barrieren als den Willen, Barrieren abzubauen – „[d]ie Freiheit von Barrieren setzt also ihre Existenz voraus“ (Trescher 2018b: 16). Um Barrieren abzubauen, ist es notwendig, dass sie „wahrgenommen und verstanden werden“ (Tervooren/Weber 2012: 11), was zeigt, wie wichtig eine empirische Untersuchung von Sozialräumen respektive den sich darin vollziehenden (Aneignungs-)Praxen ist. Indem bestimmten Personen der Zugang zu Orten im Sozialraum erschwert wird, können sie sich diese primär als „Territorium der Anderen“ (Trescher/Hauck 2017) aneignen. Jene Personen werden dadurch behindert und in ihrer Teilhabe an Praxen der Mehrheitsgesellschaft eingeschränkt.

In Bezug auf die oben geschilderte Dame bedeutet das, dass sie als ‚behindert‘ hervorgebracht wird und zwar behindert in ihren Möglichkeiten, die beschriebene Toilettenanlage einschränkungsfrei zu nutzen – was einmal mehr verdeutlicht, inwiefern es zu kurz greift, ‚Behinderung‘ als Merkmal einer Person zu verstehen. Behinderung entsteht und vollzieht sich je situativ in der Auseinandersetzung. Für das Verständnis von Barrierefreiheit bedeutet dies, dass diese weit gedacht werden muss und zwar bspw. als Gestaltung in einer Weise, die eine uneingeschränkte Nutzung ohne größere Hürden ermöglicht – und zwar unabhängig vorgängiger Kategorisierungen als ‚behindert‘.

Folglich kann sich Barrierefreiheit kaum (ausschließlich) als planerisches Projekt vollziehen, das vorgängigen Kategorisierungen folgt, die möglicherweise sogar in DIN-Normen zusammengefasst und beschrieben werden. Barrierefreiheit bzw. der je situative Abbau von Barrieren, die Teilhabe behindern, brauchen die intersubjektive Aushandlung (Trescher 2018b: 16ff.). Auch wenn es sicherlich Situationen gibt, in denen bauliche Hilfen Zugang ermöglichen können, so ist dennoch darüber nachzudenken, dass Zugang nicht immer gleichbedeutend mit Teilhabe ist. Eine Rampe ermöglicht nicht zwingend, dass eine Person uneingeschränkt teilhat. Gleichzeitig verhindert eine Treppe nicht zwingend, dass Personen teilhaben können – auch wenn sie nicht ‚barrierefrei‘ genannt werden darf.

4. Perspektiven von Sozialraum und Inklusion

Die vielfältigen Ergebnisse der ethnographischen Sozialraumbegehungen zeigen Perspektiven von Sozialraum und Inklusion auf, die sowohl in theoretischer als auch handlungspraktischer Hinsicht fruchtbar gemacht werden können. Die Ergebnisse verdeutlichen, inwiefern Sozialraum als relational konstituiert und somit je situativ in Praxen der Aneignung in unterschiedlicher Weise hervorgebracht wird. Sozialraum ist demnach nicht (nur) definiert über geographische Grenzen, sondern vielmehr darüber, inwiefern sich Menschen bestimmte Orte als Handlungsräume aneignen (können). Sozialraum ist somit kein ‚Behälter‘, in dem etwas geschieht (z. B. ‚Inklusion‘), sondern wird immer wieder neu als relationale Praxis (Löw 2001; Trescher/Hauck 2017; siehe auch Schroer 2006) hervorgebracht.

Diese relationale Betrachtung von Sozialraum korrespondiert mit einem Verständnis von Inklusion als Praxis, die Teilhabebarrieren offenlegt und (dadurch) zu ihrer Dekonstruktion beiträgt. Inklusion vollzieht sich dabei als Kritik, „da sie nicht nur die Handlungspraxis, sondern auch (Herrschafts?)Systeme sowie deren Funktionen in Frage stellt“ (Trescher 2017: 51). Inklusion kann demnach nicht darauf enggeführt werden, sich am selben Ort aufzuhalten. Sie ist vielmehr eine Praxis, die sich im sozialen Miteinander und in der Aushandlung vollzieht. Sozialraum und Inklusion in ihrer relationalen Bezogenheit haben somit das Potenzial zu Gesellschaftskritik und letztlich -veränderung. In handlungspraktischer Hinsicht hat dies vor allem die Einsicht zur Folge, dass Inklusion keine Methode ist, die sich umsetzen lässt, sondern vielmehr etwas, das im Miteinander entsteht und das sich vor allem darin vollzieht, Fragen zu stellen und Hergebrachtes in Frage zu stellen. Für Menschen, die am Vorhaben arbeiten, Teilhabebarrieren abzubauen, sind deshalb vor allem die folgenden Fragen von Bedeutung: Wie werden Personen erreicht, die sich ausgeschlossen fühlen? Wie können Teilhabebarrieren abgebaut werden? Wie kann aus positiven Erfahrungen und Erlebnissen gelernt werden?

Verfahren wie die hier dargelegten ethnographischen Sozialraumbegehungen können von wissenschaftlicher Seite zu diesem Prozess beitragen, indem Barrieren offengelegt und Möglichkeiten ihrer Dekonstruktion gedacht werden. Teil dessen ist außerdem eine latente Übertragbarkeit der Ergebnisse, denn es ist anzunehmen, dass erlebte Teilhabebarrieren ebenso an anderen Orten wiedergefunden und darüber hinaus auf andere Lebensbereiche übertragen werden können. So kann durch ethnographische Sozialraumbegehungen Reflexion und Mehrperspektivität angestoßen werden, was ermöglicht, sich von eindimensionalem Denken in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu entfernen und vielmehr die wechselseitige Bezogenheit und den Vollzug von Sozialraum und Inklusion zu fokussieren – in theoretischer ebenso wie in handlungspraktischer Perspektive.

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Fußnoten

[1] Dass das Schreiben und Sprechen über ‚Behinderung‘ immer mit einer Konstruktion und (mehr oder minder manifesten) Zuschreibung von ‚Behinderung‘ einhergeht, ist klar, soll an dieser Stelle aber unbedingt problematisierend hervorgehoben werden.


Zitiervorschlag

Trescher, Hendrik und Teresa Hauck (2021): Sozialraum und Inklusion – Ethnographische Sozialraumbegehungen zur raumbezogenen Rekonstruktion von Teilhabe und Ausschluss. In: sozialraum.de (13) Ausgabe 2/2021. URL: https://www.sozialraum.de/sozialraum-und-inklusion.php, Datum des Zugriffs: 26.04.2024