Die Offene Ganztagsschule aus Sicht der Kinder – Eine Untersuchung an sechs Standorten in Düsseldorf

Ulrich Deinet, Heike Gumz, Christina Muscutt

[1]

1. Ausgangssituation und Anlage der Studie

Im Schuljahr 2003/2004 wurde in den Schulen der Primarstufe in Nordrhein-Westfalen (NRW) die Offene Ganztagschule eingeführt. Diese erweitert den Schulalltag und den Unterricht um außerunterrichtliche Angebote und trägt damit der Idee Rechnung, die Schule hin zu einem ganztägigen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsort auszurichten. Die Offene Ganztagsschule ist in NRW im Primarbereich in einer Kooperation von Schule und Trägern (meist aus der Jugendhilfe) organisiert. In Düsseldorf besuchten im Schuljahr 2014/2015 rund 63 % der Grundschul- und Förderschulkinder im Primarbereich eine Ganztagsschule. Dabei ist die Offene Ganztagsschule in Form eines Drei-Säulen-Modells konzipiert, d. h, dass drei zentrale Professionen (Lehrer/-innen, Betreuer/-innen bzw. Erzieher/-innen sowie externe Bildungsanbieter) an der Gestaltung des Ganztags beteiligt sind.

Von 8.00 Uhr bis ca. 16.00 Uhr ist die Schule heute der Ort, an dem sich viele Kinder außerhalb der Familie tagsüber aufhalten. Allein schon deshalb ist die Frage von großer Bedeutung, wie Kinder diesen Ort wahrnehmen, welche Bedeutungen sie den architektonischen und gestalterischen Aspekten der Schule, dem Schulgelände, insbesondere dem Schulhof zuweisen und welche (Um-)Nutzungen sie entwickeln.

Im Sinne einer ganzheitlichen Bildung ist es darüber hinaus gerade für die Schule wichtig, eine Umgebung zu schaffen, die angstfreies Lernen ermöglicht und die Bedürfnisse der Kinder mit einbezieht. Für die Entwicklung der OGS ist daher die Perspektive der Kinder äußerst bedeutend, da sich nur so feststellen lässt, wie die Atmosphäre, die räumliche Gestaltung oder die Angebotsstruktur in der OGS von den Nutzer/-innen selbst erlebt werden.

1.1 Hypothesen und Forschungsfragen

Beschäftigt man sich mit dem Handlungsfeld der Offenen Ganztagschule, lassen sich diverse Studien und Untersuchungen finden, die sich mit den Sichtweisen und den Einschätzungen von Fachkräften und/oder Eltern zur Offenen Ganztagschule auseinandersetzen. Es fällt auf, dass die Sichtweise und der „Blick“ der Kinder vergleichsweise selten im Fokus des Forschungsinteresses stehen. Dabei stellen die Kinder die zentralen Akteur/-innen des Ganztagbetriebes dar, partizipieren im Gegensatz zu den verschiedenen Professionen kontinuierlich in der OGS und sind durchaus in der Lage, Einschätzungen zu ihrem Erleben und ihren Wünschen in Bezug auf die Offene Ganztagschule abzugeben. Der vorliegenden Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass Kinder einen „eigenen“ Blick auf ihre Lebenswelt haben und diesen auch kommunizieren können. Kinder in der mittleren Kindheit schaffen sich besonders durch ihre Kommunikation mit Gleichaltrigen (Peers) eine eigene Lebenswelt, welche natürlich noch stark von Erwachsenen, insbesondere ihren natürlichen Bezugspersonen, d. h. ihren Eltern beeinflusst wird.

Sie sind dabei, sich ihre Welt anzueignen, erweitern ihren Handlungsraum über die elterliche Wohnung und den Nahraum hinaus, wobei zunächst Kindertageseinrichtungen und danach Schule die wichtigsten Institutionen sind. In diesen übernehmen sie auch Rollen (Schüler/-innen) und eignen sich die Werkzeuge unserer Kultur (Sprache, Rechnen, ästhetische Ausdrucksweisen etc.) in unterschiedlicher Weise an (vgl. Deinet 2014), d. h. die Aneignungsmöglichkeiten werden auch durch die Potenziale und Ressourcen der Eltern mitbestimmt, ihre ökonomische Lage, ihr kulturelles Kapital etc. Auch sozialräumliche Bedingungen, wie die eines Stadtteils mit seiner Infrastruktur etc., stellen wesentliche Rahmenbedingungen für das Aufwachsen und die Entwicklung der Persönlichkeit dar.

Eine der Erhebung zugrunde liegende Annahme war, dass es vermutlich unterschiedliche Stressoren im Schulalltag gibt, die eine angstfreie Umgebung stören könnten. Diese wirken sich auf das Lernen und das Erleben des Lebensortes Schule aus. Bei der Untersuchung wurden diesbezüglich die verschiedenen Handlungsfelder der Offenen Ganztagschule in den Blick genommen: der Unterricht, die Pausen, das Mittagessen, die Lernzeiten und die Bildungsangebote. Darüber hinaus wurden auch die Nutzung der Schulumgebung und die Einbindung der Kinder in den jeweiligen Stadtteil untersucht. Die zugrundeliegenden Forschungsfragen bezogen sich auf das Erleben der Kinder, die Nutzung der Räumlichkeiten und ihren subjektiv wahrgenommenen Grad an Partizipation bei der Gestaltung der OGS.

Folgende Forschungsfragen lagen der Untersuchung zugrunde:

1.2 Erhebungsmethoden

Ziel des Projektes war es, diesen „eigenen Blick“ der Kinder auf den Lebensort Schule zu eruieren. Die Kinder wurden dabei als die Expert/-innen ihrer Lebenswelt betrachtet und mit einem Mix aus qualitativen und quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung befragt. Neben einem Kinderfragebogen wurden für die Erhebung ausschließlich Methoden ausgewählt, die partizipativ ausgerichtet sind und Kinder im Rahmen der Aktions- und Feldforschung aktiv am Forschungsprozess beteiligen. Die Methoden waren gleichzeitig analytisch (um die Sicht der Kinder zu erheben), animierend (aktivieren die Kinder, machen Spaß) und in hohem Maße partizipativ (die Kinder sind die Expert/-innen und werden entsprechend ernst genommen).

Insgesamt wurden Kinder der dritten und vierten Klassen an sechs Düsseldorfer Schulstandorten (Fünf Grundschulen und eine Förderschule) befragt. Die Erhebung erfolgte in zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Erhebungsphasen.

Der Kinderfragebogen wurde eigens für die Untersuchung konzipiert und in teilstandardisierter Form vorgelegt. Das heißt, dass alle Kinder den gleichen sechs-seitigen Fragenkatalog mit den gleichen Fragen erhielten. Dabei konnten sie auf einen Teil der Fragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten antworten und diese auswählen, einige Fragen wurden als offene Fragen gestellt, d. h., die jeweiligen Antworten konnten frei formuliert werden. Die Auswertung erfolgte mit dem Statistiksystem SPSS.

Bei der Nadelmethode handelt es sich um eine partizipative Methode, bei der die Kinder aufgefordert werden, verschiedenfarbige Nadeln auf Stadtkarten zu stecken, um bestimmte Orte in ihrem Sozialraum zu markieren, die für sie eine Bedeutung haben (vgl. Deinet 2009, 72-75). Bei der Untersuchung lautete die Aufforderung, sowohl beliebte und unbeliebte Orte in der Freizeit als auch beliebte und unbeliebte Orte auf dem Schulweg zu markieren. Ergänzend erhielten die Befragten die Aufforderung, ihre markierten Orte mit Kommentaren zu versehen, die Aufschluss darüber geben, warum sie bestimmte Orte gerne aufsuchen oder meiden. Als Grundlage wurde der jeweilige Kinderstadtplan des Sozialraums verwendet, der durch das Amt für Verkehrsmanagement zur Verfügung gestellt wurde. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Karten jeweils nur den Einzugsbereich der Schule, also die nahe Umgebung der Schule, abbilden.

Bei der Subjektiven Schulkarte handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Subjektiven Landkarte, die eigens für diese Untersuchung vorgenommen wurde (vgl. Fritsche/Rahn/Reutlinger 2011, 62f.). Hierzu wurde an allen sechs Schulstandorten eine detailgetreue Skizze vom Schul- und Pausengelände erstellt. Diese wurde den Kindern mit der Aufforderung vorgelegt, die Skizze mit drei unterschiedlichen Farben auszumalen. Die drei Farben standen jeweils für einen beliebten oder unbeliebten Ort oder für einen Ort, der den Kindern noch weitestgehend unbekannt ist. Über ergänzende Kommentare der Kinder zu ihren Markierungen erlaubt es diese Methode, vertiefte Einblicke dazu zu bekommen, welche Orte warum von den Kindern genutzt oder auch gemieden werden.

Die Methode der Subjektiven Landkarte dient dazu, die räumliche Dimension des Alltags der Kinder sichtbar zu machen. Die Methode gibt über die Aufenthaltsorte der Kinder Aufschluss, die Bedeutung ihres Stadtteils und das subjektive Erleben ihres Lebensraumes (vgl. ebd.). Die Kinder wurden dazu angehalten, eine Karte zu malen bzw. zu zeichnen. Als Fixpunkt diente ihnen dabei ihr Zuhause. Von ihrem Zuhause ausgehend sollten sie bedeutsame Orte ihrer Lebenswelt einzeichnen. Die Bilder wurden im Anschluss daran auf gemeinsame Inhalte/Themenbereiche und Bedeutungsmuster hin inventarisiert und interpretiert.

In der zweiten Erhebungsphase wurden als Methoden die Gruppeninterviews und die Autofotographie eingesetzt. Es wurden jeweils zwei Gruppeninterviews pro Schule in zwei Kleingruppen von ca. sechs Kindern geführt. Hierbei fand bewusst eine geschlechtsspezifische Trennung der Kinder statt, sodass eine Mädchengruppe und eine Jungengruppe gebildet wurden. Die Gruppeninterviews wurden anhand eines vorab erstellten offenen Leitfadenkatalogs geführt. Hierbei wurden systematisch verschiedene Themenbereiche behandelt. In der Kleingruppe erhielt jedes Kind die Möglichkeit, sich zu den jeweiligen Fragen zu äußern. Die Gruppeninterviews wurden aufgezeichnet und im Anschluss an die Gespräche transkribiert. Die Auswertung erfolgte mit der qualitativen Inhaltsanalyse unter Zuhilfenahme des Auswertungsprogramms MAXQUDA.

Des Weiteren kam die Methode der Autofotographie zum Einsatz, an der ebenfalls im Durchschnitt sechs Kinder partizipierten. Auch hier wurden die Gruppen geschlechtsspezifisch getrennt. Bei der Autofotographiehandelt es sich um eine sehr partizipativ ausgerichtete Methode, bei der die Kinder dazu angehalten werden, Fotos von für sie bedeutsamen Orten und Gegebenheiten zu machen (vgl. Deinet 2009, 78f.). Dazu wurden die Kleingruppen mit Digitalkameras ausgestattet und erhielten den Auftrag, mehrere Fotos von Orten auf dem Schulweg, Aktivitäten in der Schule/OGS und beliebten und unbeliebten Orten in der Schule/OGS zu machen. Die Fotos wurden im Anschluss daran besprochen und analysiert.

An der zweiten Erhebungsphase nahmen ausschließlich Kinder teil, die in der OGS angemeldet waren.

2. Zentrale Ergebnisse der Studie

2.1 Soziodemographische Angaben

Insgesamt wurden 362 Schüler/-innen mit dem Kinderfragebogen befragt. Es zeigt sich, dass die Geschlechterverteilung nahezu ausgeglichen ist (49,2 % Mädchen, 50,8 % Jungen). 63,8 % der befragten Kinder sind zwischen acht und neun Jahren alt und machen somit den größeren Teil der Befragungsgruppe aus. 36,2 % der Befragten sind zwischen zehn und elf Jahren alt. 91,7% geben an, in Deutschland geboren zu sein, jedoch weisen 61% einen Migrationshintergrund vor.

2.2 Schule als sozialer Lebensort

Abbildung 1

Abb. 1: „Stell Dir vor, Du bist vier Wochen nicht in der Schule“ Gibt es etwas, was Dir fehlen würde?“
Bild anklicken zum vergrößern

Ein zentrales Ergebnis der Studie wird schon in der ersten Grafik ersichtlich: Schule ist für die Kinder vor allen Dingen ein sozialer Ort, ein Lebensort, der im Wesentlichen durch ihre Mitschülerinnen und -schüler geprägt wird. Auf die Frage: „Stell dir vor, Du bist vier Wochen nicht in der Schule. Gibt es etwas, was Dir fehlen würde?“ werden zwar auch Lehrer/-innen mit 46-48 %, die AGs mit 48,5 % (Angaben der OGS Besucher/-innen) und der Unterricht (OGS Kinder 33,5 %, Nicht-OGS Kinder 40 %) genannt, aber davor liegen das Spielen mit Freunden (88,7 % / 89,1 %), die Ausflüge mit den anderen Kindern (59,3 % / 57,3 %) sowie die anderen Kinder (52 % / 62,7 %). In vielen Bereichen der Studie zeigen sich ambivalente Ergebnisse: zum einen eine hohe Akzeptanz und positive Einschätzung der Bedeutung der Ganztagsschule aus Sicht der Kinder – sie ist ein Ort der Gleichaltrigenkultur, des Spielens im Freundeskreis. Als wesentliche Ressource kann benannt werden, dass die Ganztagsschule für viele Kinder ein Ort ist, in dem sie wichtige Beziehungen zu Peers, aber auch zu erwachsenen Lehr- und Betreuungspersonen erleben.

Zum anderen zeigen zahlreiche Ergebnisse unserer Studie aber auch, dass die OGS den Kindern noch nicht den Raum (im erweiterten Sinn) bietet, den sie eigentlich für ihre Entwicklung benötigen und dass die sich bietenden Potentiale aktuell noch nicht im vollen Umfang genutzt werden. So wird die in dieser Altersstufe notwendige (und entwicklungspsychologisch immer wieder betonte) Erweiterung ihres Handlungsraums (in konkret räumlicher aber auch personaler, sozialer Weise) durch die ganztätige Institutionalisierung erst einmal nicht gefördert, sondern eher eingeschränkt.

Die Ursachen hierfür liegen zunächst nicht in der Verantwortung der handelnden Akteur/-innen, es handelt sich vielmehr um die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen: Insbesondere um die „Verhäuslichung“ von Kindheit, die den ökonomischen und sozialen Erfordernissen unserer modernen Gesellschaft geschuldet zu sein scheint. Kinder „verschwinden“ – im Vergleich zu früheren Generationen –zunehmend aus der Öffentlichkeit unserer Städte und halten sich häufig in institutionalisierten Angeboten oder Zuhause auf.

Gestützt wird diese zentrale Erkenntnis auch durch andere Fragen aus dem Kinderfragebogen bzw. aus anderen Methoden. Auf die Frage: „Was magst Du an Deiner Schule am liebsten“, steht an dritter Stelle „Spielen, Freizeit, Freunde“ mit 97 Nennungen und verstärkt noch einmal den Hinweis auf unsere zentrale Aussage, dass Schule ganz wesentlich als ein sozialer Ort wahrgenommen wird.

 Abbildung 2

Abb. 2: „Was macht Dir an Deiner Schule manchmal Angst?“ (Offene Nennungen, kategorisiert)
Bild anklicken zum vergrößern

Fragt man, welche Faktoren im Schulalltag Ängste auslösen, stehen hierbei mit 53 Nennungen schulische Themen im Vordergrund, wie z. B. „Klassenarbeiten schreiben/zurück erhalten/Benotung und Unterricht“. 50 Nennungen fallen auf Konflikte mit anderen Kindern als „Streit/Prügeleien/Ärger“.

2.3 Räume und Räumlichkeiten

Abbildung 3

Abb. 3: Bewertung der Räumlichkeiten
Bild anklicken zum vergrößern

Auf die Frage: „Wenn Du an Deine Schule und Deine OGS denkst, stimmen die Sätze die unten stehen?“ antwortet eine große Mehrheit: Wir haben draußen genügend Platz zum Spielen (73,2 %). Gefragt nach dem Platz, den es im Gebäude zum Spielen gibt, sehen die Antworten allerdings anders aus: Hier beantworten immerhin 17,1% die Frage mit „nein“ und 46,4 % sagen „geht so“. Mehr als die Hälfte der befragten Kinder geben an, sie hätten „drinnen“ nicht genügend Platz, nur 34 % stimmen hier zu. Bei der Beurteilung der Plätze zum Ausruhen zeigt sich ein ähnliches Bild: Hier sagt zwar die Hälfte der befragten Kinder, 51,1 %, dass sie Plätze zum Ausruhen haben, aber 26,2 % antworten mit „geht so“ und 20,2 % stimmen dem nicht zu.

Hier beschreiben die Kinder aus ihrer Sicht eine Situation, der wir in Düsseldorf oft begegnet sind: Die OGS platzt aus allen Nähten und der Zugewinn der Räume in den letzten Jahren wurde durch die steigende Anmeldezahl quasi aufgewogen. Innen- und Rückzugsräume sind nach wie vor ein Problem, zeigen aber auch über die räumliche Frage hinaus ein Bedürfnis der Kinder nach solchen Räumen auf, womit sich die Frage stellt, ob im Konzept der Ganztagsschule genügend Räume (auch im übertragenen Sinne) zum Ausruhen vorgesehen sind. Wenn man die weiter unten beschriebenen Aspekte der Lautstärke und des dadurch verursachten Stresses mit einbezieht, ergibt sich insgesamt eine wichtige Frage nach Rückzugsräumen, nach Rückzugsmöglichkeiten in der Ganztagsschule insgesamt.

2.4 Soziales Klima

Abbildung 4

Abb. 4: Ansprechpartner/-innen bei Problemen in der Schule
Bild anklicken zum vergrößern

Die Frage des sozialen Klimas zwischen Kindern, Betreuer/-innen und Lehrer/-innen wird in dem Fragebogen an verschiedenen Stellen erfragt. Zentral war die Frage: „Wenn Du Ärger hast oder traurig bist, zu wem gehst Du dann als erstes um darüber zu reden?“ Hier geben aus beiden Befragungsgruppen über 60 % an, sich bei Problemen zuerst an ihre Freunde zu wenden. 53,7 % der Kinder, die die OGS besuchen, nennen Lehrer/-innen als ersten Ansprechpartner. Bei den Kindern, die die OGS nicht besuchen, wählen sogar 65,1 % die Lehrer als Vertrauensperson. Damit werden die Lehrer/-innen sogar als Ansprechpartner vor den Eltern genannt. Schüler/-innen, die keine OGS besuchen, wählen deutlich häufiger (59,4 % der Nennungen) ihre Eltern, um über ein Problem zu sprechen. Bei den Besucher/-innen der OGS geben 42,6 % an, dies zu tun. 37,6 % der Kinder in der OGS geben ihre Betreuer/-innen als wichtige Ansprechpartner/-innen an. Dies zeigt noch einmal deutlich, wie sehr sich in der Entwicklungsphase der mittleren Kindheit die Orientierungen verändern. Lehrkräfte und Eltern spielen eine zentrale Rolle, aber davor stehen tatsächlich schon die Freundinnen und Freunde, die Peers als zentrale Ansprechpartner/-innen. Deshalb ist die Frage, ob es Kindern gelingt, eine gute Beziehung zu den Peers aufzubauen, in einer Gleichaltrigengruppe zu bestehen, Freund/-innen zu haben, mit denen man solche Dinge besprechen kann, von zentraler Bedeutung für die Kinder und damit auch für die Offene Ganztagsschule.

Des Weiteren stellen nicht nur die sozialen Beziehungen und das Verhältnis der Kinder untereinander eine wesentliche Determinante für das schulische Wohlbefinden und letztlich auch die schulischen Leistungen dar, sondern auch der Kontakt und die Beziehung zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen. So verweist Bohnsack darauf, „dass die Beziehung zum Lehrer für das Befinden der Schüler von zentraler Bedeutung ist“ (Bohnsack 2013, 117). Die persönliche Beziehung zwischen Lehrer/-in und Schüler/-in, eine wertschätzende Haltung und vor allem auch der Aspekt der Anerkennung und Akzeptanz schwächerer Schüler/-innen von Seiten des/der Lehrer/-in tragen ganz wesentlich zum schulischen Wohlgefühl des Einzelnen bei, denn „ohne (…) Anerkennung und Bestätigung ist eine stabile Identitätsentwicklung nicht möglich“ (a.a.O., 137). Letztlich wirken sich ein gutes Verhältnis zwischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen wiederrum förderlich auf das soziale Klima in der Klasse im Gesamten aus (a.a.O., 117ff.).

2.5. Partizipation und Beteiligung

Auf die Frage: „Ich kann in der Schule/OGS bei folgenden Dingen mitbestimmen.“ sagen 63,7 % der insgesamt befragten Kinder „ja, bei der Sitzordnung in der Klasse“, 43,8 % „bei der Gestaltung des Klassenraumes“. Die Kinder, die die OGS besuchen, geben mit 39,3 % an, das Angebot beim Mittagessen mitbestimmen zu dürfen, 45,3 % der OGS-Kinder dürfen ihr AG-Angebot mitbestimmen, hierbei handelt es sich jedoch häufig um Wahlpflichtangebote.

Abbildung 5

Abb. 5: Wunsch nach Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule
Bild anklicken zum vergrößern

Interessant ist hier der Vergleich zu der Frage „Bei welchen Dingen würdest Du gerne mehr mitbestimmen können“, bei der „die Sitzordnung in der Klasse“ mit 63,1 % ebenfalls den ersten Rang einnimmt. Die Kinder, die die OGS besuchen, äußern mit 65,7 % der Nennungen deutlicher den Wunsch, bei Ausflügen mitbestimmen zu dürfen. Mitspracherecht bei den Pausenzeiten im Unterricht wünschen sich insgesamt ähnlich viele Kinder der beiden Befragungsgruppen (60,7 / 59,8 %). Insgesamt geben über die Hälfte der Schüler/-innen an, gerne bei der Gestaltung des Schulhofes mitbestimmen zu wollen, ebenso wie bei der Gestaltung des Klassenraumes. 61,2 % der OGS-Kinder wünschen sich mehr Mitspracherecht beim Mittagessen sowie 39,3 % bei den AGs. Immerhin 34,1 % der insgesamt befragten Kinder würden auch gerne beim Unterricht mitbestimmen.

Die Angaben der Kinder weisen darauf hin, dass sich sowohl in der Frage nach den erlebten Mitbestimmungsbereichen als auch bei der Frage nach den Bereichen, bei denen die Schüler/-innen gerne mehr mitbestimmen würden, die von den Erwachsenen gegebenen „Mitbestimmungsräume“ widerspiegeln. Dies entspricht durchaus auch den Erkenntnissen zu Forschungen im Bereich von Partizipation und Beteiligung, dass Kinder und Jugendliche im Wesentlichen die Dinge reproduzieren, die ihnen auch als Beteiligungsräume und Möglichkeiten geboten werden.

Auch Bohnsack sieht den hohen Stellenwert von Partizipation für das Wohlfühlen von Schüler/innen. Schule sollte sich hin zu mehr Selbstbestimmung der Lernenden ausrichten (Bohnsack 2007, 87). Das zentrale Thema von Partizipation und Beteiligung ist leider im Bereich der Schule bisher nicht sehr weit entwickelt – obwohl es auch Beispiele von Kinderparlamenten oder andere Beteiligungsformen im Bereich der OGS gibt (vgl. Becker 2014, 36ff.) Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Partizipationsmöglichkeiten eher gering sind, die Spielräume klein und dass es in Bezug auf die erweiterten Möglichkeiten der Partizipation noch zu wenig Umsetzung gibt. Warum können Kinder nicht mitbestimmen bei der so wichtigen Frage der Anschaffung neuer Spielgeräte und ein größeres Mitbestimmungsrecht und Möglichkeiten haben, bei der Gestaltung des Schulhofes, der für sie doch so eine herausragende Bedeutung hat?

2.6 Beliebte und unbeliebte Orte im Sozialraum

Die Nutzung des Sozialraums durch die Kinder in ihrer Freizeit bzw. auf dem Schulweg wurde insbesondere mit der Nadelmethode erhoben. Betrachtet man die Orte, an denen sich die befragten Kinder in ihrer Freizeit am liebsten aufhalten, so lässt sich als ein zentrales Ergebnis der Untersuchung feststellen, dass das „Zuhause“ bzw. „Bei der Familie“ bei den meisten Kindern als Aufenthaltsort auf den ersten Beliebtheitsrängen rangiert. Häufig wird Zuhause gespielt, es werden Freunde eingeladen und verschiedenste Aktivitäten ausgeführt.

Abbildung 6

Abb. 6: Beliebte/unbeliebte Orte in der Freizeit (Nadelmethode)
Bild anklicken zum vergrößern

Auch beliebt ist der Aufenthalt bei Freunden, der häufig zum Treffen und gemeinsamen Spielen genutzt wird. Auch andere Studien geben an, dass das Zuhause den beliebtesten Ort für Kinder und Jugendliche darstellt. Der Studie „Appsolutely Smart“ zufolge ist vor allem das eigene Zimmer der Lieblingsort von Kindern, da man sich hier zurückziehen kann und entscheiden, was man machen möchte (vgl. Maschke u. a. 2013, 235). Nicht zuletzt hat das heutige Kinderzimmer wegen einer guten und zunehmend besseren Ausstattung mit Betätigungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten wie Spielzeug, Multimedia etc. an Attraktivität gewonnen, so dass es nicht unbedingt erforderlich ist, dafür andere Orte bzw. Angebote aufzusuchen.

Abbildung 7

Abb. 7: Ergebnisse Subjektive Landkarte
Bild anklicken zum vergrößern

Weitere beliebte Orte sind Kinos, Spielplätze und Parks. Häufig werden auch spezifische Plätze und Orte genannt, die sich vermutlich im nahen Wohnumfeld der Kinder befinden und zum Spielen, Verweilen mit den Eltern oder für andere Aktivitäten genutzt werden. Es zeigt sich, dass auch Konsumaktivitäten einen Stellenwert in der Lebenswelt der Kinder einnehmen. So werden beispielsweise einigen Kindern die „Bilker Arcaden“ als ein Ort markiert, an dem man sich gerne aufhält.

Als ein weiteres Ergebnis zeigt der Nadelmethode und Subjektiven Landkarten zeigt sich, dass auch Jugendeinrichtungen und Abenteuerspielplätze.

3. Ausblick

In vielen Bereichen der Studie zeigen sich ambivalente Ergebnisse. Zum einen zeigt sich eine hohe Akzeptanz und positive Einschätzung der Bedeutung der Ganztagsschule aus Sicht der Kinder. Zum anderen machen zahlreiche Ergebnisse unserer Studie aber auch deutlich, dass die OGS den Kindern noch nicht jenen Raum (im erweiterten Sinn) bietet, den sie eigentlich für ihre Entwicklung benötigen. So wird die in dieser Altersstufe notwendige (und entwicklungspsychologisch immer wieder betonte) Erweiterung ihres Handlungsraums (in konkret räumlicher aber auch personaler, sozialer Weise, vgl. Deinet 2014) durch die ganztätige Institutionalisierung nicht gefördert, sondern eher eingeschränkt.

Das ist liegt jedoch nicht nur in der Verantwortung der handelnden Akteur/-innen, es handelt sich vielmehr um die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen, insbesondere um eine Entwicklung hin zu einer „Verhäuslichung“ von Kindheit, die den ökonomischen und sozialen Erfordernissen unserer modernen Gesellschaft geschuldet zu sein scheint. Kinder „verschwinden“ – im Vergleich zu früheren Generationen – zunehmend aus der Öffentlichkeit unserer Städte und halten sich häufig in institutionalisierten Angeboten oder Zuhause auf. Für die Veränderung von Kindheit spielen viele gesellschaftliche Veränderungen eine Rolle, z. B. auch die Gefahren des immer stärker gewordenen Verkehrs, die veränderten familiären Bedingungen, aber auch der ökonomische Druck auf die Familien.

Die allgegenwärtige Bedeutung von Bildung, besonders des zu erreichenden Schulabschlusses und der damit zusammenhängenden gesamten Gestaltung des späteren Berufslebens ist längst in der Grundschule angekommen. Lernen ist auch schon in der Grundschule viel stärker durch Bildungserfordernisse (besonders im schulischen Sinn) geprägt als früher. Daher ist es umso wichtiger, dass auf die Bedingungen zur Gestaltung anregender, dem Alter und den Bedürfnissen der Kinder angemessener Lehr-Lern-Situationen besonderer Wert gelegt wird.

Vor diesem Hintergrund sind die großen Bemühungen zur Gestaltung der Offenen Ganztagsschule an vielen Stellen dieser Studie sichtbar: Die Offene Ganztagsschule ist ein Lebensort der Kinder geworden – das zeigen auch die vielen positiven Ergebnisse unserer Studie, z. B. die aus Sicht der Kinder hohe Wertschätzung gegenüber den Lehrkräften und Mitarbeiter/-innen der OGS, zu denen ein starkes Vertrauensverhältnis besteht.

Besonders erfreulich war auch die engagierte Mitarbeit der Kinder in unserem Forschungsprojekt. Durch den Einsatz der aktivierenden und animierenden Methoden wurden sie nicht nur abgefragt, sondern als Expert/-innen ihrer Lebenswelt wahrgenommen und mit einbezogen. Sie haben sehr bereitwillig und ernsthaft Einblicke in ihre Lebenswelt der Ganztagsschule gegeben, daran sollte man weiterhin anknüpfen. Schule und OGS-Träger könnten diese Methoden für Sozialraum- und Lebensweltanalysen auch eigenständig anwenden, um die Situation und Sichtweisen der Kinder in regelmäßigen Abständen zu erfassen und in die weitere Planung und Entwicklung einzubeziehen. Dies wäre ein Ausbau der Partizipation und Beteiligung der Kinder. Damit wird das Potenzial der Dritt- und Viertklässler, deutlich, sich aktiv in die Gestaltung von Schule mit einzubringen. Insbesondere durch Formen von „Peer-Education“ (z. B. Patenschaften mir jüngeren Kindern usw.), wie auch mit jahrgangsübergreifenden Projekten kann man bei den Stärken der Kinder ansetzen und diese auch als eine Ressource für die Schulentwicklung nutzen.

Die aus den Ergebnissen der Methoden interpretierten praxisorientierten Empfehlungen beziehen sich auf folgende Themen:

Eine Langfassung der Studie mit den Empfehlungen erscheint demnächst in der Online-Publikationsreihe „Studies in Social Sciences and Culture", die vom Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf herausgegeben wird.

Literatur

Becker, Helle (2014): Partizipation von Schülerinnen und Schülern im GanzTag. In: Institut für soziale Arbeit e.V. Münster/Serviceagentur „Ganztägig lernen“ NRW (Hrsg.): Der GanzTag in NRW. Beiträge zur Qualitätsentwicklung, Heft 27/2014, Münster.

Bohnsack, Fritz (2013): Wie Schüler die Schule erleben. Zur Bedeutung der Anerkennung, der Bestätigung und Akzeptanz von Schwäche. Verlag Barbara Budrich: Opladen, Berlin, Toronto.

Bohnsack, Ralf (2000): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 8. Auflage, Verlag Barbara Budrich: Opladen, Farmington Hills.

Deinet, Ulrich (2009): Analyse und Beteiligungsmethoden. In: Ulrich Deinet (Hrsg.) Methodenbuch Sozialraum. VS Verlag: Wiesbaden.

Deinet, Ulrich (2014): Das Aneignungskonzept als Praxistheorie für die Soziale Arbeit. In: sozialraum.de (6) Ausgabe 1/2014. URL: http://www.sozialraum.de/das-aneignungskonzept-als-praxistheorie-fuer-die-soziale-arbeit.php, Datum des Zugriffs: 10.08.2015

Maschke, Sabine/Stecher, Ludwig/Coelen, Thomas/Ecarius, Jutta (2013): Appsolutely smart! Ergebnisse der Studie Jugend. Bertelsmann Verlag: Bielefeld.

Podlich, Carola (2008): Selbstgewolltes Leisten. Der Einfluss sportlicher Bewegungsaktivitäten auf das Selbstkonzept von Kindern. Juventa Verlag: Weinheim, München.


Fussnote

[1] Auszüge aus einer Studie im Auftrag des Schulverwaltungsamts der Stadt Düsseldorf: Offene Ganztagsschule (OGS) als Lebensort aus Sicht der Kinder, Befragung von Kindern an sechs Düsseldorfer Schulstandorten. Die Kurzfassung wurde im Rahmen des Gesamtberichts des Schulverwaltungsamts veröffentlicht: „Die Offene Ganztagsschule in Düsseldorf – Eine Evaluation aus verschiedenen Perspektiven nach 12 Jahren“. URL: http://duesseldorf.de/schulen/aktuell/ogs_evalationsbericht.shtml, Zugriff: 05.09.2015


Zitiervorschlag

Deinet, Ulrich, Heike Gumz und Christina Muscutt (2015): Die Offene Ganztagsschule aus Sicht der Kinder – Eine Untersuchung an sechs Standorten in Düsseldorf. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015. URL: https://www.sozialraum.de/die-offene-ganztagsschule-aus-sicht-der-kinder.php, Datum des Zugriffs: 15.10.2024