Die Gezi-Park-Proteste in Istanbul – vom Recht auf Stadt zum Recht auf einen liberalen Staat

Lilo Schmitz

Im Mai und Juni 2013 wurde der Gezi-Park, der im Rahmen des Istanbuler Innenstadt-Umbaus abgerissen werden sollte, zunächst von kritischen Aktivist*innen und dann von immer mehr Istanbuler Bürger*innen besetzt. Hunderttausende bevölkerten den Park und den angrenzenden Taksim-Platz. Weder die Polizei noch ihre Panzerwagen mit Tränengas und Wasserwerfern konnten die Parkbesetzer*innen dauerhaft vertreiben. Tausende lebten und wohnten zeitweise im Park; Hunderttausende demonstrierten auf den Straßen der Türkei, bis mit einem riesigen Polizeiaufgebot am 15. Juni 2013 der Park gewaltsam geräumt und abgerissen wurde.

Mit der Besetzung des Gezi-Parks wurde Istanbul Schauplatz einer in dieser Art bisher nie erlebten öffentlichen Inbesitznahme von zentralem Innenstadt-Raum, der von einer neuen und keinesfalls protestgewohnten Generation mit Beharrlichkeit und Vehemenz gegen die brutal vorgehende Staatsmacht verteidigt wurde.

1. Zur Vorgeschichte

Bereits länger waren die Pläne der Regierung zum Umbau des Taksim-Geländes von vielen Bürger*innen und NGOs sowie der parlamentarischen Opposition kritisiert worden (vgl. z. B. Amnesty International, 2013). Dass auf dem Gelände des Gezi-Parks ein historisierender Nachbau einer dort früher stehenden Kaserne mit einem darin liegenden Einkaufscenter erfolgen sollte, bestätigte die These einer absichtsvollen Inszenierung eines vormodernen „osmanischen“ Stadtcharakters als Camouflage für einen grundlegenden neoliberalen Umbau der Stadt. (Öncü, 2007) Ministerpräsident Erdogan hatte – kritisiert von Opposition und Expert*innen, aber kaum von der Bevölkerung bekämpft – mit Radikalsanierungen, lukrativen Gentrifizierungsprojekten, zahlreichen Wolkenkratzern und einer neuen großen Brücke der türkischen Metropole am Bosporus seinen Stempel aufgedrückt.

Ausgerechnet den Taksim-Platz mit einem Moscheebau und Einkaufszentrum im osmanischen Gewand zu planen, wurde von den Aktivist*innen und Stadtplaner*innen als skandalöser Eingriff in die Stadtgeschichte gewertet (Esen, 2013). Der Taksim-Platz war stets in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig: er wurde gestaltet aus dem Geist der jungen säkularen Staatsmacht und sollte in seiner Modernität für die Abkehr von Religion und Feudalherrschaft stehen. Taksim war der Platz für politische Meinungsäußerung und Demonstrationen, das vielleicht hässliche, aber pulsierende Zentrum der Istanbuler gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft. Hier fand 1976 eine riesige 1.Mai-Demonstration statt. 1977 endete die riesige Demonstration in einem Blutbad, dessen Rädelsführer bis heute verdeckt bleiben. Seit der Militärdiktatur von 1981 wurden immer wieder Versammlungen und Demonstrationen am Taksim verboten. (Yilmaz, 2013) Bis heute ist es bei drohenden Unruhen oder Regierungskritik ein probates Mittel, den Taksim und die Zufahrtsstraßen zu sperren.

Gegen den geplanten Umbau des Taksim hatte sich eine Initiative gebildet, die seit einigen Jahren aktiv war. Jedoch fehlte es ihr an großem Zulauf. Erste Abbrucharbeiten am Taksim und die langfristige Sperrung der Straßen zum Platz blieben ohne breite öffentliche Proteste, so dass die einen erfreut, die anderen resigniert von einem Freifahrtschein für Ministerpräsident Erdogan ausgingen, der das Istanbuler städtische Umbauprojekt zu seiner Herzensangelegenheit erklärt hatte. Dass sich an dem weit weniger symbolträchtigen kleinen Park am Taksim, dem Gezi-Park, eine große Revolte entzünden würde, ahnte noch niemand.

2. Was daraufhin geschah – Eine Chronologie der Ereignisse

In der Nacht auf den 28. Mai fingen Abbrucharbeiten an einer Mauer des Gezi-Parks an, der von einer Handvoll Aktivist*innen bewacht wurde. Über soziale Netzwerke wurden Freunde alarmiert, die Bagger zunächst aufgehalten. Als am nächsten Tag die Abbrucharbeiten fortgesetzt werden sollten, stellte sich der kurdische Abgeordnete Sirri Süreyya Önder den Baggern entgegen, nutzte seine Immunität als Parlamentsmitglied und brachte die Arbeiten zum Stoppen. Eine sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete, Gülseren Onanc, stellt sich ebenfalls den Maschinen entgegen. Es kam zu ersten Tränengaseinsätzen der Polizei. Am 28. Mai abends befanden sich bereits Hunderte Menschen im Park.

Am 29. Mai eröffnete Ministerpräsident Erdogan bei der Grundsteinlegung zur dritten Bosporusbrücke, dass diese Brücke den Namen des Herrschers Yavuz Sultan Selim tragen wird, der sich im 16. Jahrhundert einen Namen als Eroberer und Alevitenschlächter machte (Beiname „der Grausame“). Diese Namenswahl brachte große Teile der alevitischen und liberalen Bevölkerung gegen Erdogan auf, die ohnehin ihre Religions- und Gesinnungsfreiheit gefährdet sahen (siehe dazu: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2013). Hunderte von Menschen versammeln sich im Gezi-Park.

Am 30. und 31. Mai kam es jeweils in den Morgenstunden zu massiven Angriffen durch die Polizei, die mit Wasserwerfern, Tränengas und Knüppeln die Menschen aus dem Park vertreiben wollte und zum Teil vertrieb.

Im Morgengrauen des 30. Mai überfiel die Polizei das Camp, trieb die dort schlafenden Menschen aus ihren Zelten, türmte Zelte und Habseligkeiten der Besetzer*innen auf einen Haufen und verbrannten sie. Die darauf einsetzenden Abbrucharbeiten wurden wiederum von Parlamentsabgeordneten gestoppt, die sich vor die Bagger setzten. An diesem Abend versammelten sich Tausende im Park. Viele wichtige Oppositionsgruppen zeigten sich vor Ort. Im Park herrschten Wut, aber auch Volksfeststimmung. Lachen, Musik, Slogans und Bilder waren allgegenwärtig. Es gab ein erstes Bewusstsein über die Koalition der Menschen, die hier protestieren – von der schwul-lesbischen Bewegung über kurdische Freiheitskämpfer bis hin zu antikapitalistischen Moslems. Ein weiterer Polizeieinsatz in den frühen Morgenstunden des 31. Mai führte zu großen Demonstrationen nicht nur im Gezi-Park, sondern auf der großen Geschäftsstraße Istiklal-Caddesi und auf dem Taksim-Platz selbst, die alle mit großer Gewalt niedergeschlagen wurden. Das brachte nur noch mehr Menschen dazu, sich in Richtung Gezi-Park aufzumachen, um Solidarität zu zeigen. In den frühen Morgenstunden war die Bosporusbrücke voller Menschen, die die Autostraße nutzten, um zu Fuß auf die europäische Seite zu wechseln. Im Istanbuler Stadtteil Besiktas, aber auch in Ankara und Izmir, kam es zu Demonstrationen und Polizeieinsätzen.

Am 1. Juni kam es in 40 großen und insgesamt 90 türkischen Städten zu Solidaritätskundgebungen, häufig beantwortet von gewaltbetonten Polizeieinsätzen. Erste Todesopfer und viele Verletzte waren zu beklagen. Am Taksim und im Gezi-Park herrschte Ruhe. Die Besetzer*innen blieben ungestört. In Besiktas, einem traditionell sozialdemokratisch oder links wählenden Stadtteil, tobten Straßenkämpfe – das ganze Stadtviertel erstickte im Tränengas. Am 3. Juni wurde eine Art Waffenruhe zwischen Carsi, der Fanorganisation von Besiktas (s.u.) und der Polizei ausgehandelt, so dass auch in Besiktas Ruhe einzog.

Der Park blieb – als besetzte Zone – friedlich und wurde als Lebensort eingerichtet, während sich Erdogan von seinen Anhänger*innen in hastig organisierten Veranstaltungen feiern lässt. Am 8. Juni kam es zu einem riesigen Solidaritätsmarsch der Istanbuler Fußballfans zum Gezi-Park (s.u.).

Ab dem 11. Juni schlug die Polizei mit ungeheurer Brutalität zu. Die Situation wurde chaotisch: Angriffe mit Tränengas, Wasserwerfer mit Chemikalien versetzt, flüchtende Familien und Einzelpersonen, die Zuflucht in Hotels und Privatwohnungen fanden – dazwischen Ruheinseln wie ein Klavierkonzert, Gebete, Tanz, Unterstützung durch besuchende Mütter, Unterstützung durch abendliches Töpfeschlagen in ganz Istanbul. Vernehmungen und Verhaftungen fanden statt. Ärzt*innen, die während der Wasserwerfer- und Tränengas-Attacken erste Hilfe leisteten, wurden in einem Disziplinarverfahren bei der Ärztekammer angezeigt. Am 15. Juni wurde der Park mit beispielloser Brutalität geräumt – Bagger zerstörten alles, was den Besetzer*innen gehörte.

3. Anliegen der Gezi –Besetzer*innen und Demonstrant*innen

Bei aller Heterogenität der Besetzer*innen finden sich bei den Gezi-Protesten mehrere große Stränge an gemeinsamen Anliegen:

3.1. Recht auf Stadt

Unter diesem Schlagwort finden sich Bewegungen, die ein Recht auf öffentliche Plätze, auf die Segnungen der Stadt, auf ein Leben in der Stadt, und zwar abseits von Privatwohnung, Produktionsstätte und Konsum fordern (Holm, 2011). Dazu gehört auch eine Beteiligung an der Stadtplanung, nicht nur am Taksim.

Im angrenzenden Stadtteil Tarlabasi gab es bereits Aktionen gegen die dortigen Gentrifizierungsprozesse. Häuser waren abgerissen und geräumt worden; die armen Istanbuler mussten an den Stadtrand ziehen, während die Gebäude aus den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts schick für neue Bewohner*innen hergerichtet wurden. Wo das Stadtviertel (noch) als zu alt, verrufen und heruntergekommen galt, wurden die ersten renovierten Wohnungen für Tourist*innen und (Erasmus-) Studierende schick gemacht. Wer als Tourist*in oder Erasmus-Student*in in Istanbul eine Wohnung suchte, wurde meist in Tarlabasi fündig. Istanbul mit seinen Wolkenkratzern, seinen Malls und seinen ehrgeizigen Großprojekten drohte immer mehr eine Stadt der Reichen zu werden.

3.2. Recht auf Straße

Zum Recht auf Stadt gehört für die Aktivist*innen auch das Recht auf der Straße zu demonstrieren, und zwar auf Plätzen ihrer Wahl. Im autoritären Staat, den viele Regierungen der Vergangenheit in der Türkei pflegten, gehörten und gehören Demonstrationsverbote, Platzverbote, gar die Anordnung von Hausarrest für ganze Städte an symbolträchtigen Tagen zum ordnungspolitischen Inventar, das gerne genutzt wird.

3.3. Recht auf einen liberalen Staat

Wo früher der politische Richtungsstreit zwischen neoliberalen, konservativ-nationalistischen, kurdischen, sozialdemokratisch-staatskonservativen und religiösen Kräften geführt wurde, regte sich in den letzten Jahren – über die Parteiengrenzen hinweg – Unmut gegenüber dem autoritären Staat an sich. Besonders durch die Auseinandersetzung mit den um ihre Rechte kämpfenden Kurden war der alte Staat atatürkscher Prägung in den letzten Jahrzehnten immer mehr in Verruf gekommen. Auch die sozialdemokratische CHP hatte in ihrer Regierungszeit in kurdischen Gebieten hart durchgegriffen und schien sich gegen nationalistische und rassistische Tendenzen nicht abzugrenzen. Sie wurde wegen ihrer unflexiblen Haltung in der Kurdenfrage kritisiert.

Als Erdogan mit der AKP seine erste Wahl gewann, tat er das unter anderem deshalb, weil er mit dem Versprechen angetreten war, in seinem Staat könne jede/r nach seiner/ihrer Facon selig werden. Neben dem Kopftuch, das Erdogan an den Unis frei geben wollte, sollte eben auch die Punkfrisur oder das Regenbogenemblem der Lesben- und Schwulenbewegung möglich sein. Wie auch schon der neoliberale Turgut Özal vor ihm zeigte sich Erdogan zunächst tolerant gegenüber den Rechten der kurdischen Bevölkerungsgruppe auf ihre Sprache und signalisierte die Bereitschaft für weitere Freiheiten.

Hilflos musste die CHP mit ansehen, wie sie in die Nähe von Militärdiktatur, rassistischem Nationalismus und autoritärem Staat gerückt wurde, während die AKP sich einen Ruf als Hort von Freiheit, Toleranz und Humor erwarb, der zudem wirtschaftlichen Wohlstand verhieß. „Kemalist“ war das neue Schimpfwort, das den Träger oder die Trägerin als borniert, rassistisch, nationalistisch und militärverliebt brandmarkte. Vergeblich beteuerten viele CHP-Veteranen, dass sie während der Militärdiktatur der 80er Jahre im Gefängnis gesessen hatten. Die Partei galt als autoritär und wurde von vielen nicht mehr gewählt.

Kurz: Erdogan hatte große Teile der Bevölkerung überzeugt, dass Toleranz gegenüber Minderheiten und Toleranz gegenüber der persönlichen Lebensführung die Grundfesten seine, auf die sich seine Politik gründete. Die Skepsis gegenüber den „Kemalisten“ war vor allem bei vielen jungen Leuten und kurdischen Aktivist*innen groß. So kam es, dass neben islamfreundlichen und neoliberalen Wählergruppen auch viele Wechselwähler*innen und Verfechter*innen eines freiheitlichen Lebensstils der AKP ihre Stimme gaben. (exemplarisch dazu: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2013) Umso größer war die Enttäuschung, als Erdogan mit wachsenden Mehrheiten und als etablierter Ministerpräsident bald autoritärer auftrat als seine Vorläufer, gestützt auch durch den in den AKP-Regierungsjahren stattgefundenen Elitenwechsel (Aver, 2013). Demonstrations- und Versammlungsverbote, Verbote von YouTube und anderen Internetdiensten, Überfälle auf kurdische Dörfer sowie eine Reihe von einschneidenden „Reformen“, die in die persönliche Lebensplanung und -organisation der einzelnen Menschen direkt eingreifen – dies alles führte dazu, dass sich viele Gruppen von Erdogan abwandten. Stärkung des Islam stand jetzt nicht mehr für gesellschaftliche Vielfalt, sondern als Beschneidung Andersdenkender. Menschenrechte wie Meinungsfreiheit wurden durch ständige Gefährdung und Inhaftierung von Journalist*innen mit Füßen getreten (Aver, 2013).

4. Vielfalt der Demonstrant*innen

Während am ersten Tag die Aktivist*innen aus der Naturschutz- und Recht-auf Stadt-Bewegung optisch in der Mehrzahl waren, bot sich ab dem ersten Polizeieinsatz im Morgengrauen, nach dem Verbrennen der Zelte, Tränengas und Wasserwerfern ein breites Bild der Sympathie und Unterstützung. Da trafen sich im Park alt und jung, Männer und Frauen, gebildete und Ungebildete, Reiche und Arme in bunter Mischung. Menschen sprachen kurdisch, türkisch, englisch, griechisch. Diese Vielfalt nahm noch in den nächsten Tagen zu. Dörflich gekleidete Solidarität neben Rastalocken und bunten Salvar-Hosen für Jungen und Mädchen. Angesehene Professionen mit festen Standesorganisationen – Ärzt*innen, Architekt*innen, Rechtsanwält*innen waren anwesend, kurdische Aktivist*innen, in der Nähe Parlamentarier*innen der CHP in einem grauen Baumwollzelt. Daneben protestierten die schwarz gekleideten antikapitalistischen Moslems mit ihrem Banner „Mülk Allahin“ „Besitz gehört Gott“. Im Alltag verfeindete Gruppen unterstützen sich. Voll Staunen berichtet Murat Beser im Fanzin „HeytBe“, wie junge Protestierer gemeinsam fliehen, der eine eine kurdische BDP-Flagge in der Hand, der andere eine türkische Nationalflagge, wie sich Fußballfans in den Trikots verfeindeter Clubs umarmen (Beser, 2013). „Jetzt können sich die weißen Bürger der Türkei endlich vorstellen, wie es ist, wenn man in großen Gruppen durch die Staatsgewalt angegriffen wird.“ sagte mir eine kurdische Aktivistin.

Wo morgens Kampfstimmung war, herrschte abends Volksfestatmosphäre. Der Gezi-Park war zu einem Anliegen und einer Aktion eines großen Teils der Istanbuler Stadtbevölkerung geworden, keinesfalls – wie Erdogan es gerne kundtat – zu einer isolierten Aktion fehlgeleiteter Studierender und städtischer Randfiguren. Nur ein kleiner Teil der Parkbesetzer*innen hatte sich an den sozialdemokratisch geführten Demonstrationen für den Erhalt des laizistischen Staats beteiligt. Unter den Gezi-Park-Demonstrant*innen waren viele, die noch nie politisch aktiv geworden waren und mit politischen Parteien nichts zu tun haben wollten (Bundeszentrale für Politische Bildung, 2013). Was die Protestierenden einte, war ihre Ablehnung der autoritären Politik und Praxis der Regierung.

5. Fußballfans und der Gezi-Park

Ähnlich wie bei den Protesten am Tahrir-Platz in Ägypten (siehe z. B. Dorsey 2012) spielten die Ultras in Istanbul eine eindrucksvolle politische Rolle bei der Unterstützung der Gezi-Bewegung: Es gibt in Istanbul drei wichtige Fußballklubs: Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray. Diese Mannschaften verfügen über heterogene und aktive Fan-Gemeinden. Neben lockeren Zusammenschlüssen gibt es auch Ultras, die sich – ähnlich den Ultras in anderen Ländern – für einen Fußball des Volkes, der einfachen, klaren und ungebildeten Männlichkeit einsetzen. Ultras sind loyal, laut und unerschrocken. Sie sind gestählt im Kampf gegen gegnerische Fans und im Kampf mit der Polizei.

Eine besondere Rolle spielen in Istanbul die Fangruppe „Carsi“ (ausgesprochen: „Tschar-Sche“) des Fußballvereins Besiktas im gleichnamigen Stadtteil. Carsi ist seit seiner Gründung auch sozial engagiert, fordert soziale Gerechtigkeit, kümmert sich um Arme und Erdbebenopfer und agiert gegen Rassismus. Die diesjährige Internet-Seite zum Muttertag zeigte Fotos der weinenden Mütter des Bergwerksunglücks von Soma. Carsi als Fangruppe versucht seine Ideale „Fairness und Gerechtigkeit“ durch Einsatz fürs einfache Volk und seinen Stadtteil zu verwirklichen. „Sevaliye Ruhlu Sempt Cocuklari“ – „die Jungs aus dem Viertel mit dem ritterlichen Herzen“ – so bezeichnen sich die Mitglieder von Carsi-Besiktas selbst.(vgl. hier und im Folgenden: Carsi Besiktas, 2013; Nuhrat & Federmair, 2013)

Was führte nun die Ultras von Carsi zur Unterstützung von Gezi? Die zwei großen Themen der Gezi-Park-Bewegung sind auch Themen der Fußball-Fans:

  1. Recht auf Stadt, auf die Strasse, auf Plätze, das Recht sich zu versammeln, zu protestieren, den öffentlichen Raum für sich und für die Bürger, für das Leben zu reklamieren.
  2. Ärger und Wut auf den autoritären Staat jedweder Couleur, der ohne Begründung verhaftet, verurteilt, gewaltsam vorgeht, Plätze verbietet und Angst und Schrecken verbreitet.

Das Recht auf freien Zugang zum Stadion ist bei allen Hooligans und Ultras ein wichtiges und dennoch häufig eingeschränktes Gut. Der Kampf um Straßen, das Dominieren des eigenen Stadtbildes, all dies hat mit Raum, Aneignung und Nutzen von Raum zu tun. Durch vielfache Restriktionen ist dabei Raum für Ultras immer eingeschränkt: Von Käfigen angefangen bis hin zu Restriktionen bei der Ticket-Vergabe (Fan-Trennung und in Istanbul neuerdings der Zwang zum elektronischen Ticket, der Menschen ohne Konto und Internet den Zugang erschwert). Die autoritäre Seite der Staatsmacht lernen Ultras immer kennen, indem sie z.B. prophylaktisch daran gehindert werden, in eine Stadt zu reisen, Stadion-Verbot erhalten und durch frühen und massiven Polizeieinsatz bedrängt werden.

Im Falle von Carsi Besiktas hatte es unmittelbar vor den Gezi-Protesten noch einen aktuellen Polizeieinsatz gegeben, der als extrem ungerecht erlebt wurde: Am 11. Mai fand das letzte Fußballspiel von Besiktas im angestammten Inönü-Stadion statt, bevor das Stadion umgebaut werden sollte. Am gleichen Tag hielt sich auch Ministerpräsident Erdogan im Dolmabahce-Palast in unmittelbarer Nähe auf, was die Sicherheitskräfte zu einem extremen Einsatz führte: Sie verboten den Besiktas-Fans, die zu diesem letzten Spiel mit ihren Familien angereist waren, sich in bestimmten Straßen aufzuhalten, wo sie ihr letztes Stadion-Spiel feierten. Als in ausgelassener Stimmung die Aufforderungen, die Straße zu räumen, ignoriert wurden, setzte die Polizei sofort massiv und ohne Warnung Tränengas ein, was zu Panik, Wut und unbeschreiblichen Szenen führte. Wut und Unverständnis über diesen autoritären und gewaltsamen Einsatz der Staatsmacht beherrschte im Mai/Juni die Diskurse der Fußball-Fans.

Spätestens ab dem 2. Tag der Gezi-Proteste waren Carsi-Fans im Gezi-Park aktiv. Durch riesige Banner optisch und durch ihre bekannten Hymnen und Schlachtrufe auch akustisch präsent, waren sie eine für die Demonstrant*innen mutbringende Erscheinung. Sie traten als Ordnungskräfte auf, schlichteten kleine Streitigkeiten, sorgten dafür, dass das Leben im Park geordnet vor sich ging. So sorgten auch Carsi-Anhänger mit dafür, dass an einem religiösen Feiertagen (kandil) im Gezi-Park kein Alkohol verkauft werden, nicht geflucht werden und der Tag in einer Atmosphäre der Freundlichkeit und Sanftheit gelebt werden sollte. Bei einer Auseinandersetzung mit einem fliegenden Alkohol-Händler wurde am 9. Juni 2013 Bülent Ergenc, der Leiter von Carsi, mit einem Messer angegriffen und musste im Krankenhaus operiert werden. Ihre wahre Qualität zeigten die Carsi-Mitglieder bei den gewaltsamen Ausschreitungen der Polizei, wenn Tränengas und Wasserwerfer die Demonstrierenden vertreiben sollten: Augenzeugen berichten, wie sie durch Unerschrockenheit, gute Organisation, Kampfgeist und heroisches Auftreten der Carsi-Fans Mut gewinnen konnten. Humor und Freude an der Auseinandersetzung hat anscheinend manches verzagte Hasenherz gestärkt, wie die Augenzeugenberichte dokumentieren. (Carsi Besiktas, 2013)

Einen Höhepunkt Robin-Hood-haften Auftretens bildete der 3. Juni 2013, als Carsi-Fans einen Bagger zum Gezi-Park führten, mit dem sie die gefürchteten TOMAs angriffen, die Polizei-Panzer, die 100 Stundenkilometer erreichen und mit Wasserwerfer und Tränengas ausgerüstet sind. Der Bagger stellte sich diesen Panzern entgegen, rüttelte und schüttelte sie unerschrocken und Carsi brachte einen TOMA-Panzer gar in seine Gewalt, der am nächsten Tag bei Facebook als „gut erhaltener Panzer zum Bekämpfen der Polizei“ inseriert wurde.

Schon während der ganzen Gezi-Tage waren auch zahlreiche Fans der anderen beiden Istanbuler Fußball-Klubs zum Park gekommen. Man sah T-Shirts und Schals von Fenerbahce und Galatasaray. Einen Höhepunkt fand die Fußball-Fan-Unterstützung des Gezi-Parkes am 8. Juni. Carsi rief alle Fußballfans zur Unterstützung auf und in Besiktas sammelten sich Zehntausende von Fußballfans im Stadtteil Besiktas, um in einem beispiellosen Demonstrationszug zum Taksim und zum Gezi-Park zu ziehen. Selbst die konservative Presse bringt die beeindruckenden Bilder (“Gezi’ye 3 büyük deste?i – Milliyet Haber,” 2013). Unter dem Titel „Istanbul United“ ist diese gemeinsame Aktion jenseits aller Rivalitäten bereits heute in die Fußballgeschichte der Stadt eingegangen. Diese riesige Aktion machte endgültig deutlich, dass der Gezi-Park nicht nur von Intellektuellen, Studierenden und wenigen randständigen Gruppen initiiert und aufrechterhalten wurde. Fußballfans gelten nicht nur in der Türkei als Stimme der Arbeiterschaft und Stimme des Volkes. Wer die Fußballfans für sich einnimmt, hat das Volk. Für Erdogan, der selbst Fußball spielt und Fenerbahce stets als „seinen“ Club betrachtete, sicher eine bittere Pille.

6. Neue Medien und Soziale Netzwerke

Neu wie die große Beteiligung der Istanbuler Fußballfans war auch der Anteil neuer Medien und sozialer Netzwerke an den Gezi-Park-Protesten: Jeder und jede konnte schnell kommunizieren. Über Twitter, YouTube und Facebook wurden Milliarden Nachrichten, Tweets, Fotos und Videos in Windeseile verbreitet. Das Mobilisierungspotential dieser Dienste für soziale Bewegungen (Castells, 2012), ihre Flüchtigkeit, ihre Zugänglichkeit auch bei nationalen Sperren war bis dahin bei Politik und Sicherheitskräften unterschätzt worden, obwohl ähnliche Erfahrungen aus dem arabischen Frühling vorlagen.

In einer Situation, in der das nationale Fernsehen und große Teile der Presse in der Türkei die Proteste aus politischer und wirtschaftlicher Angst totschwiegen, nutzten die Aktivist*innen die neuen Möglichkeiten, Geschehnisse, Übergriffe und Aktionen zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Waren früher aktive Bürger im Visier von Geheim- und Abschirmdiensten, wurde nun jeder einzelne Polizist von Dutzenden Mobiltelefon-Kameras eingefangen, so dass Polizisten sich immer häufiger nicht nur mit Helmen und Gasmasken vermummten, sondern sogar die Identifikationsnummern auf ihren Helmen schwärzten. Übergriffe wie die des Erdogan-Beraters, der einen auf den Boden gerissenen Verwandten eines Soma-Bergwerk-Opfers mit Füßen tritt, gingen sofort um die Welt. Minuten nachdem drangsalierende Polizisten in Besiktas gefilmt und via YouTube im Netz erschienen waren, kamen Freunde den bedrängten Opfern zu Hilfe.

Gleichzeitig machte das Netz die Betroffenen auch angreifbar und nachverfolgbar. Nach den Gezi-Protesten fanden Ermittlungen und Anklagen aufgrund von Nachrichten auf Twitter und Facebook statt. Die Prozesse dazu laufen derzeit an.

7. Ein Jahr nach Gezi: Nichts ist mehr wie vorher

Ein Jahr nach den Gezi-Protesten sind viele der damaligen Demonstrant*innen in Strafprozessen angeklagt. Insgesamt laufen in der Türkei 97 Gerichtsverfahren gegen 5.653 Demonstranten. Ermutigend ist, dass einige Anklagen von den zuständigen Gerichten bereits wegen mangelnder Beweislage gar nicht erst zugelassen wurden. Aber noch ist offen, was aus den Anklagen letztlich resultieren wird.

Ein Jahr nach der gewaltsamen Räumung steht die Türkei nach wie vor im Zeichen der Geschehnisse. Gezi ist ein neuer Bezugspunkt geworden und hat das politische Gesicht und die Alltagskultur der Türkei verändert:

Ein Jahr nach den Gezi-Park-Protesten bleibt die Zukunft ungewiss und spannend, aber eines versichern sich die Menschen, die ich in Istanbul getroffen habe, immer wieder: „Hic bir sey eskisi gibi olmayacak“ – „Nichts wird mehr sein, wie es war!“

Literatur

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Zitiervorschlag

Schmitz, Lilo (2014): Die Gezi-Park-Proteste in Istanbul – vom Recht auf Stadt zum Recht auf einen liberalen Staat. In: sozialraum.de (6) Ausgabe 1/2014. URL: https://www.sozialraum.de/die-gezi-park-proteste-in-istanbul.php, Datum des Zugriffs: 27.04.2024