Die Bedeutungen von räumlichen Relationen beim Distance Caregiving aus der Sicht pflegender Angehöriger – Eine qualitativ orientierte Untersuchung

Helga Pelizäus, Annette Franke

1. Einleitung

Wandlungstendenzen in Familienkonstellationen und arbeitsmarktbezogene Flexibilisierungen erfordern auch für pflegende Angehörige das geografisch „mobile Subjekt“, so wie es Schneider (2002: 15) formuliert, bei dem ein „Auseinanderfallen der Lebensräume der einzelnen Familienmitglieder“ (ebd.) zu beobachten ist. Etwa ein Viertel der pflegenden Angehörigen in Europa wohnt mindestens 25 Kilometer entfernt von den eigenen hilfebedürftigen Eltern (Wagner et al. 2019). Die zudem spürbar zunehmende gesellschaftliche Alterung bringt neue Herausforderungen für die Handlungsfähigkeit und Lebensbewältigung von Familienangehörigen im Kontext von Care-Arbeit mit sich (Böhnisch 2019). Unterstützung für Angehörige ist somit eingebettet in die räumliche Settinggestaltung und beeinflusst die Interaktionen dieser Pflegearrangements. Unter dem Phänomen „Pflege auf Distanz“ (im Englischen „Distance Caregiving“) wird auch diese sozialräumliche Bedeutung von sozialen Unterstützungsnetzwerken mit Direkt- wie auch „Puffereffekten“ bedeutsam (vgl. Diewald 1991; Nestmann 1988; Hollstein 2001). Die Entitäten im Pflegearrangement – zwischen den Pflegebedürftigen, den Angehörigen und weiteren Akteur:innen im Hilfenetzwerk – bilden hier ein komplexes, dynamisches Wirkungsgefüge (Ruhne 2017).

Die in der Literatur häufig aufgeworfene Frage, ob entsprechend familiäre Care-Strukturen vor der Auflösung stehen oder ob sich neue Formen von Pflegearrangements mit einer „Multilokalität von Generationenbeziehungen“ (Bertram 2000: 118) andeuten, diente dem Projekt „Distance Caregiving“ als Ausgangspunkt. Es wurde der Frage nachgegangen, wie Pflege auf Distanz aus der Sicht der pflegenden Angehörigen – wir nennen sie DiCas (Distance Caregivers) – im konkreten Alltag „gelingt“ und wie sie die geographische und sozialräumliche Distanz vor diesem Hintergrund erleben, d. h. auch, welche Unterstützungspraktiken sich durch Akteur:innen (auch) losgelöst von geographischen Gegebenheiten identifizieren lassen. Uns ging es darum, die konkreten Alltagspraxen der DiCas im Umgang mit der Distanz und ihrem unterstützenden sozialen Netzwerk vor dem Hintergrund ihrer individuellen Sichtweisen und Überzeugungen zu erfassen.

Da es sich hierbei um ein (vor allem im deutschsprachigen Raum) wenig bearbeitetes Forschungsthema handelt, wurde ein exploratives Forschungsdesign gewählt. Große Offenheit gegenüber den Alltagspraxen und Überzeugungen der DiCas sollte ermöglichen, das für viele immer wichtiger werdende Phänomen in seinen Grundzügen zu verstehen. Für die Wahl eines qualitativen Methodeninstrumentariums sprach zudem, dass es sich um einen äußerst komplexen Forschungsgegenstand handelt, bei dem unterschiedlichste Aspekte in vielfacher Weise miteinander verwoben sind (Flick 2010: 27).

Da ein offenes Vorgehen im Rahmen explorativer Forschungsdesigns nicht bedeutet, ohne Wissen in die empirische Untersuchung zu starten, wird im ersten Schritt dargelegt, welches theoretische Vorwissen in die Untersuchung einfloss (2). Ein besonderer Fokus wird dabei auf den aktuellen Forschungsstand (2.1) und Konzepte sozialer Netzwerke und alltäglicher Lebensführung (2.2) gelegt. Anschließend erfolgt eine Skizzierung des entsprechenden Forschungsdesigns (3, 3.1-3.3). Im vierten Kapitel stellen wir unsere Befunde zum Raum und relevanten Akteur:innen vor (4). Anschließend werden die Ergebnisse mit Blick auf die Bedeutung des Raums diskutiert (5)[1].

2. Theoretisches Vorwissen – Die Entwicklung sensibilisierender Konzepte

2.1. DiCas im Fokus existierender Forschung

In Anlehnung an das symbolisch-interaktionistische Denken von Glaser und Strauss (1967) erachten wir das bei einem Forschungsprojekt leitende theoretische Vorwissen als wichtig, um unseren Blick für verborgene, auf den ersten Blick nicht sichtbare Zusammenhänge zu schärfen. In Form sensibilisierender Konzepte inspirierten folgende Ansätze unsere Datenerhebung und -auswertung.

Zunächst besteht ein grundlegendes Problem in der Literatur zu DiCas darin, dass keine einheitliche Definition von räumlicher Distanz existiert. Einige Studien gehen vom subjektiven Distanzempfinden der Befragten aus (Phillips/Bernard/Chittenden 2002). Andere nutzen konkrete Längen- oder Zeitmaße (bspw. eine Stunde Fahrtzeit, Metlife Market Institute/National Alliance For Caregiving 2004) oder Angaben wie „in einem anderen Land“ (vgl. Baldock 2000), „kein täglicher persönlicher Kontakt möglich“ (vgl. Bledsoe/Moore/Collins 2010) oder „wenn die (Reise-)Kosten eine Last werden“ (Frankel/Dewit 1989). Angesichts dieser definitorischen Offenheit wurde im DiCa-Projekt ein subjektiver Distanzbegriff gewählt, der individuelle Faktoren, die für das Distanzempfinden entscheidend sind, berücksichtigt (vgl. Franke et al. 2018). In In der empirischen Untersuchung wurde herausgearbeitet, welche Faktoren als besonders wichtig erlebt werden. Zudem wurde ein Fokus auf weitere Implikationen räumlicher Distanz für die DiCas gerichtet, wie zum Beispiel: Entsteht durch räumliche Distanz eine höhere Selbstständigkeit und Autonomie oder gar eine neue „Intimität auf Distanz“ (vgl. Rosenmayr/Köckeis 1965: 5)?

Im Projekt wurde zudem von einem „weiten“ Pflegebegriff vergleichbar dem Care-Begriff ausgegangen, der neben körperlicher Pflege auch Leistungen wie Koordination und Organisation der Versorgung, Hilfe zur Selbstsorge bis hin zur Kommunikation einschließt (vgl. auch Wepf et al. 2017). Es werden dabei nicht nur enge Familienmitglieder, sondern auch Akteur:innen fokussiert, „die einen Menschen, dem sie sich verbunden und/oder verpflichtet fühlen, über längere Zeit und in wesentlichem Ausmaß in der Bewältigung und/oder Gestaltung des Alltags unterstützen“ (ebd.).

Betrachtet man den aktuellen Forschungsstand zu Pflege über eine räumliche Distanz, so handelt es sich bei den Pflegedyaden in den meisten Fällen um Eltern-Kind-Beziehungen (Metlife Market Institute/National Alliance For Caregiving 2004; White et al. 2020; Zentgraf et al. 2019). Dabei lässt sich von einer Prävalenz zwischen 15 und 26 % ausgehen (Franke et al. 2019; Wagner 1997; Wagner et al. 2019). Daten des Surveys of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) geben Aufschluss auf die Unterstützung von pflegebedürftigen Elternteilen und sozialräumliche Angaben. Dabei zeigen sich hier durchaus länderspezifische Unterschiede und kulturspezifische Dimensionen von Räumlichkeit zwischen den Generationen. Während in Schweden, Dänemark und Frankreich zwischen 33-39 % der Befragten ihre Elternteile über eine Entfernung von mindestens 25 km hinweg unterstützen, so liegen die Anteile in Italien und Spanien bei 7 % bzw. 9 %, in Deutschland bei etwa 25 % (Wagner et al. 2019).

Je nach Wegstrecke und weiteren Pendelanforderungen der DiCas (bspw. zum Arbeitsplatz) sind über eine größere Entfernung oftmals nur organisatorische, administrative und emotionale Leistungen möglich und Reaktionen in Akutsituationen sind deutlich erschwert (Bischofberger et al. 2017; Franke et al. 2019; Hicks et al. 2018; Minahan et al. 2018; Vasireddy et al. 2017; Wagner et al. 2019).

Da Studien zudem auf die Bedeutung von helfenden Dritten hinweisen, gehört auch die Koordination eines unterstützenden Netzwerkes zu den Herausforderungen bei Pflege auf Distanz. Neben den DiCas sind i. d. R. unterstützende Geschwister, Partner:innen, Nachbar:innen oder auch professionelle Dienste vor Ort des zu Pflegenden beteiligt (Jähnke/Bischofberger 2012; Zentgraf et al. 2019). Vertiefende Befunde fehlen allerdings nahezu ganz und es zeigt sich eine netzwerkbezogene wie auch „raumtheoretische Blindstelle“ (Kessl/Reutlinger 2011: 1513). Es ist bspw. ungeklärt, wiedie praktischen Alltagsarrangements der DiCas aussehen, wie und unter welchen Rahmenbedingungen sie ihre sozialräumlichen Netzwerke organisieren, welche individuellen Überzeugungen dabei eine Rolle spielen und welche Unterstützungen für sie relevant sind.

2.2 Soziale Netzwerke: sozialräumlich und praxistheoretisch gewendet

Bereits bei Simmel wird die deterministische Wirkung von räumlicher Distanz auf soziale Beziehungen eindrücklich skizziert, indem er allerdings gleichzeitig räumliche Nähe nicht mit einer Intensivierung der persönlichen Beziehung gleichsetzt: „Dem räumlich Nahen gegenüber, mit dem man sich in den beiderseitig verschiedensten Lagen und Stimmungen ohne die Möglichkeit von Vorsicht und Auswahl berührt, pflegt es nur dezidierte Empfindungen zu geben, so dass diese Nähe die Grundlage sowohl des überschwänglichsten Glückes wie des unerträglichsten Zwanges sein kann“ (Simmel 1908: 482). Räumliche Entfernungen können demnach durchaus eine Aufrechterhaltung von Intimität in sozialen Beziehungen zulassen, während eine unausweichliche räumliche Nähe auch die persönliche Grenzziehung zum eigenen Schutzraum evozieren kann. Durch die Einordnung des Individuums in unterschiedliche räumlich konstituierte soziale Kreise bilden sich nach Simmel spezifische soziale Gefüge und Netzwerke. Aufgrund der hohen Bedeutung von Dritten als Unterstützende in den Distance Caregiving-Arrangements bietet sich demnach auch eine theoretische Sensibilisierung für das Themenfeld der sozialen Netzwerke an.

Unter sozialen Netzwerken verstehen wir einerseits mit Mitchell (1969: 2) „spezifische Mengen von Verbindungen zwischen sozialen Akteuren“ resp. „die spezifischen Webmuster alltäglicher sozialer Beziehungen“ (Keupp/Röhrle 1987: 7). Zudem umfassen aus unserer Sicht soziale Netzwerke auch nicht-menschliche Akteur:innen wie bspw. Angebote im Sozialraum oder Technologien, die die Pflegearrangements konstituieren, stabilisieren oder auch irritieren. Wir beziehen uns damit auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Bruno Latour (2005), indem wir auch Objekte als Hilfe oder Barrieren für DiCas zu identifizieren suchen und die Verwobenheit von Entitäten, die zu potenziell aktivierbaren Handlungsfeldern und Formen sozialer Unterstützung werden können (Nestmann 1988; Diewald 1991; Otto 2011; Winkler 2013).

Naheliegend sind Hilfen bei der konkreten Pflege und Betreuung des zu Pflegenden. Allerdings vermuten wir, dass auch nicht direkt auf Pflege bezogene Unterstützungsleistungen – wie die Ermöglichung flexibler Arbeitszeiten für den oder die DiCa – zur Erleichterung der Pflegesituation beitragen. In der Regel wird zwischen emotional-expressiven, instrumentellen (aktivitätsorientierten), kognitiven und finanziellen Unterstützungsleistungen unterschieden (z. B. Diewald 1991; Kecskes/Wolf 1996). Emotional-expressive Unterstützung kann nach Diewald (1991) in der Vermittlung von Geborgenheit und damit verbunden emotionaler Zugehörigkeit, Liebe, Intimität und Vertrauen ihren Ausdruck finden. In die Kategorie aktivitätsorientierter, instrumenteller Leistungen fallen „objektive“ Angebote wie Arbeitshilfen im Haushalt, Gartenpflege, die Zubereitung von Mahlzeiten, Pflege, aber auch gemeinsame Aktivitäten wie Spazieren- und Einkaufengehen. Bei der Vermittlung von Kognitionen hingegen steht die Vermittlung von Zugehörigkeit und Kommunikation im Mittelpunkt. Sie impliziert soziale Anerkennung, aber auch „Orientierung“ in Form von Verhaltensmodellen, Ratschlägen und Informationen (vgl. Diewald 1991: 75). Eine weitere Form der Unterstützung bildet die finanzielle Hilfe.

Hier zeigt sich auch der Anknüpfungspunkt, der das Netzwerkkonzept für das Projekt so interessant machte: Die Netzwerke der DiCas können als strukturelle Rahmenbedingung verstanden werden, die (mit-)bestimmt, in welcher Weise Unterstützung zur Pflege auf Distanz arrangiert werden kann (vgl. z. B. Diewald/Sattler 2010; Hollstein 2001; Otto/Bauer 2005). Gleichzeitig sind Netzwerke im Sozialraum für uns „ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ (Kessl/Reutlinger 2007: 19). Grundlegend ist die Überzeugung, dass Rahmenbedingungen zwar Einfluss auf die Pflegepraxis nehmen, aber keine deterministische Wirkung entfalten. Sie werden als Impulse interpretiert, die erst durch individuelle „Verarbeitung“ Praxisrelevanz gewinnen. Der Annahme liegt das Konzept Alltäglicher Lebensführung (Voß/Weihrich 2001) zugrunde, das eine praxistheoretische Perspektive impliziert. Alltagspraxis wird in diesem Sinne als ein eigenes Handlungssystem interpretiert, das sich zwischen Person und (Gesellschafts-)Struktur schiebt und eine Vermittlung zwischen beiden Sphären ermöglicht. Als Lebensführung betrachtet Voß (1995: 30) die „Gesamtheit aller Tätigkeiten im Alltag von Personen“.

Alltagspraxis gilt als einerseits hochgradig geprägt durch gesellschaftliche, räumlich-materiale und soziale Bedingungen, andererseits ist sie aber nicht einfach gegeben. Mit Voß (1995) argumentieren wir, dass die (Pflege-)Praxis von den DiCas aktiv in Auseinandersetzung mit den sie umgebenden Bedingungen konstruiert wird, dass sie „alltäglich praktiziert und erhalten sowie gegebenenfalls an sich ändernde Bedingungen angepasst“ wird (Voß 1995: 31). Hierbei spielen die Handlungsorientierungen der DiCas eine entscheidende Rolle (vgl. Pelizäus/Franke 2022). Nach Hollstein (2001: 193) können sie „als das Gesamt der Beweggründe des Individuums {verstanden werden, Anm d. Verf.}, die sein Handeln leiten und es dazu bewegen, sich in Interaktionen (…) zu begeben“. Dies sind individuelle Interessen und normative Orientierungen, ebenso wie eigene Zielsetzungen. Die Relevanzsetzungen der DiCas, ihre individuellen Bewertungen der Situation und aktive Handlungen haben Einfluss darauf, wie Pflege auf Distanz typischerweise praktiziert wird (vgl. Pelizäus/Franke 2022).

Dadurch entsteht ein dynamischer Handlungszusammenhang, der gleichzeitig einen strukturierten „Rahmen“ bildet und gewisse Zeit stabil bleibt. Voß (2001: 207) spricht hier von einer „nicht intendierten Strukturbildung, in Folge der Verknüpfung und des Austauschs komplexer Alltagsaktivitäten“. Pflege auf Distanz wird entsprechend zwar jeden Tag immer wieder neu aktiv „hergestellt“, aufgrund vielfältiger verbindlicher Arrangements kann sie aber nicht immer wieder umstandslos geändert werden. DiCas können ihre eingeführte Alltagspraxis nicht beliebig modifizieren, sondern bewegen sich im selbst erzeugten „Rahmen“.

3. Wahl des Forschungsdesigns

Empirische Basis des vorliegenden Beitrags ist das deutsch-schweizerische Forschungsprojekt „Distance Caregiving: Pflege- und Hilfepotenziale über nationale Distanzen und internationale Grenzen hinweg (DiCa)“, gefördert vom BMBF im Rahmen der Förderrichtlinie „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter-SILQUA-FH“ (Juni 2016 - Mai 2019). Im Rahmen unserer Analyse wurde der Fokus auf die Gesamtheit aller Alltagspraxen in den Netzwerken aus Sicht der pflegenden Angehörigen gerichtet, die sich auf die Pflegesituation beziehen. Die Aufdeckung und Rekonstruktion von Handlungszusammenhängen in den Pflegearrangements, die sich in konkreten Alltagspraxen widerspiegeln, wollten wir entdecken. Aufgrund ihrer Strukturbildung sind sie überdauernd, können entsprechend als Muster identifiziert werden und beinhalten Erklärungsansätze hinsichtlich des Gelingens von Pflege auf Distanz.

Es wurde ein exploratives Forschungsdesign gewählt (vgl. Hollstein 2006). Nur mit offenen Verfahren schien es uns möglich, Unterstützungsleistungen und Akteur:innen zu identifizieren, die möglicherweise nicht die direkte Versorgung der/des zu Pflegenden betreffen, aber dennoch für die DiCas zur Erleichterung der Pflege beitragen. Darüber hinaus haben sich qualitative Methoden bewährt, wenn es darum geht, individuelle Deutungen, Beurteilungen und Handlungsorientierungen von Akteur:innen zu erfassen (vgl. ebd.). Aufgrund unserer Annahme, dass die individuellen Einschätzungen der DiCas wesentlichen Einfluss darauf haben, in welcher Weise mit dem Raum umgegangen und Unterstützung etabliert wird, war eine subjektorientierte Perspektive auf das Vollzugsgeschehen wesentlich.

3.1 Datenerhebung

Wir entschieden uns für verstehende, narrative und gleichzeitig leitfadengestützte Interviews, verstehend im Sinne Kaufmanns (1999), leitfadengestützt in Anlehnung an Witzels (2000) Vorgehen. Ergänzend zur Befragung wurde das Beziehungsnetzwerk der DiCas mit Hilfe egozentrierter Netzwerkkarten visualisiert, um die Schilderungen zu veranschaulichen (Diaz-Bone 1997). Zudem sollte mit Hilfe dieser Netzwerkkarten ein tiefergehender Reflexions- und Erzählprozess angestoßen werden (vgl. z. B. Stegbauer 2010: 527).

Wir wählten das Konzept der strukturierten Netzwerkkarte, die „Methode der konzentrischen Kreise“ (vgl. Kahn/Antonucci 1980). Hierbei wird den Befragten ein Blatt Papier vorgelegt, auf dem sich vier konzentrische Kreise befinden und im inneren ein „ICH“ seht. Die Karte war in vier Segmente aufgeteilt, die den verschiedenen Formen von Unterstützung entsprechen, der finanziellen, emotionalen, praktischen und kognitiv/informativen. Die Befragten sollten Entitäten eintragen, die sie als Unterstützung bei der Pflege auf Distanz erlebten. Je näher diese dabei am „ICH“ verortet wurden, desto wichtiger wurden sie von der oder dem DiCa wahrgenommen. Gleichzeitig sollten sie jeweils dem Segment zugeordnet werden, das deren Leistungen entsprach.

3.2 Das Sample

Unsere Fallauswahl war Kriterien geleitet in dem Sinne, dass Personen befragt wurden, die sich selbst als „Distance Caregivers“ definierten und zum Interviewzeitpunkt Betreuungs- oder Pflegeaufgaben für eine Person im Alter von mindestens 60 Jahren aus der Distanz übernahmen. Grund für dieses Einschlusskriterium ist die Tatsache, dass sich die Pflegequote ab dem 60. Lebensjahr kontinuierlich erhöht bzw. sich zwischen der Alterskategorie unter 60 Jahre und 60-69 Jahre quasi vervierfacht. Sind bei den 60-69-Jährigen ca. 4,6 % Personen pflegebedürftig, so erhöht sich dieser Anteil bei den 80-84-Jährigen auf knapp ein Drittel und bei den über 90-Jährigen auf ca. 78 % (Statistisches Bundesamt 2023). Das Recruitment erfolgte u. a. mittels Projektflyern, Aufrufen in lokalen Medien und Verbandszeitschriften. Das hier vorgestellte Sample umfasst 35 Personen aus Deutschland.

3.3. Datenauswertung

Die Interviews wurden digital aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Im Mittelpunkt stand die induktive Entwicklung eines Kategoriensystems in Form eines deskriptiven Analyserasters. Zudem wurden die sensibilisierenden Konzepte in das Kategoriensystem aufgenommen, die uns bei der Auswertung hilfreich schienen.

Unser Vorgehen der induktiven Kategorienbildung glich dem Verfahren der Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1996). Im Sinne des ersten Schritts, des offenen Kodierens, wurden zunächst erlebte Distanz, relevante Akteur:innen, Formen der Unterstützung, Einstellungen zu und Interpretationen von Unterstützungspersonen aus DiCa-Sicht erfasst, ebenso wie konkrete Alltagspraxen. Im zweiten Schritt wurden sogenannte phänomenbezogene Zusammenhangsmodelle (Kategorien) gebildet, bei denen miteinander in Beziehung stehende Konzepte verbunden wurden. Strauss und Corbin (1996: 75ff.) sprechen hier vom axialen Kodieren. Durch eine abschließende Komprimierung des Interviewmaterials in Form des selektiven Kodierens wurde – im Sinne der Grounded Theory – Kernkategorien identifiziert, die sich quasi als „roter Faden“ durch die Interviews zogen.

4. Empirische Ergebnisse

Unser Ziel war es, herauszuarbeiten, wie die DiCas ihre Pflegearrangements vor dem Hintergrund räumlicher Distanz organisieren und welche subjektive Bedeutung dabei Distanz, die beteiligten Akteur:innen und ihre Unterstützungsleistungen erhalten.

Zunächst wurden dazu die Faktoren identifiziert, die das räumliche Distanzerleben prägen. Im Rahmen des offenen Kodierens wurden folgende Konzepte herausgearbeitet: Zeit zur Überwindung räumlicher Distanz (im Rahmen des Pflegearrangements) und individuelle Ressourcen. Als eines der vielen Beispiele für den ersten Aspekt gilt die Aussage von DiCa 33: ich wohne „zweidreiviertel Stunden entfernt von ihr {Mutter}“ (33, 239). Und die Distanz zwischen ihrem Bruder und der Mutter: „der is ein bisschen näher dran als ich. Also der hat ein Auto … bei mir geht das halt nicht, weil ich {…} kein Auto {habe} (1, 169f.). Wie im Zitat angedeutet, ist erlebte Distanz ebenso beeinflusst von individuellen Ressourcen bzw. Entitäten (hier das Auto) im Netzwerk.

Eine für den Forschungsgegenstand besonders wichtige Erkenntnis zeigt sich darin, dass räumliche Distanz zwischen den Arbeits-, Pflege- und Wohnorten positiv gedeutet und genutzt werden kann, um die Trennung der Bereiche spür- und erlebbarer zu machen. Durch Entfernung wird zugleich emotionaler Abstand gewonnen. (Auto-)Fahrten werden genutzt, um abzuschalten, zu entspannen. „Also ich habe mir ein Auto gekauft mit Freisprechanlage, aber ich mache da nicht so viel, ne. Also da höre ich Musik oder irgendwas, Hörbuch oder Radio oder so ja“ (13, 838ff.). „Weil, wenn ich dann weg bin, dann bin ich auch weg. Also es hat auch positive Effekte“ (13, 786ff.).

Wesentliche Bedeutung erhält zudem die individuelle Ressource Zeit. Stets wird für die Zukunft geplant. Und: „Also wir haben auch alles umgebaut, behindertengerecht, die ganze Wohnung, oder das ganze Haus“ (13, 528ff.). Insbesondere das Einplanen zukünftiger Unterstützung durch andere ist Basis des Gefühls, gut gerüstet zu sein. „Und dann habe ich es quasi schon einmal durch{dacht} (lacht) und habe jetzt mein Netzwerk und meine Ansprechpartner, also das könnte ich jetzt alles schnell organisieren. Und da gibt es ja immer mehr, also ja“ (13, 1042ff.) Auch die frei verfügbaren Zeitfenster neben Arbeit und privaten Anforderungen beeinflussen das Distanzerleben. Eine weitere individuelle Ressource bildet das finanzielle Budget; das z. B. darüber bestimmt, wie häufig die Fahrt zur pflegebedürftigen Person möglich wird. Aber nicht nur die Distanz zwischen DiCa und der zu pflegenden Person werden durch diese Faktoren bestimmt. Auch Distanzen zu unterstützenden Personen werden entsprechend eingeschätzt. Z. B. begreift DiCa 8 die Mutter eines Freundes ihres Sohnes – die bei Bedarf sofortige Unterstützung angeboten hat – als sehr nahe, auch wenn eine größere Distanz zwischen ihnen liegt. Es ist das Zusammenspiel beider Faktoren, die die gefühlte Distanz ausmacht.

Unsere Befunde zeigen aber nicht nur, was für das Distanzerleben ausschlaggebend ist, sondern auch wie Distanz von den DiCas empfunden wird. Ambivalenz ist hier das Stichwort, das sich schon zu Beginn der Datenauswertung als wichtiges Konzept herauskristallisierte (vgl. auch Zentgraf et al. 2019). „Also der positive Aspekt ist, dass mein Rücken frei ist. Der negative dazu ist, dass ich Schuld empfinde, dass ich nicht mehr dazu beitragen kann“ (DiCa 19, 17, 54).

Betrachtet man die Unterstützungsleistungen in den Netzwerken so zeigt sich, dass DiCas einerseits die Hilfen als Entlastung erleben, die sie persönlich in ihrem eigenen Alltag unterstützen. Als wichtigen Beitrag empfinden sie andererseits aber ebenso die Leistungen, die der pflegebedürftigen Person direkt zugutekommen und sie damit bis zu einem gewissen Grad von ihrer Verantwortung entlasten. Dies können Nachbar:innen sein, die hin und wieder mit der pflegebedürftigen Person spazieren gehen oder aber auch die Dame aus der Nachbarschaftshilfe, die ihr morgens die Zeitung hereinträgt: „dass man halt einfach nicht alleine ist und sich da auf jemanden verlassen kann…, wenn ich die {Nachbarn} anrufen würde, wenn was wäre, da würde auch jemand rüber gehen zu meinen Eltern auch in der Nacht“ (8, 193ff.).

Unabhängig von Distanzen erhalten DiCas emotional-expressive Leistungen wie Trost, Verständnis und Zuneigung und geben der hilfebedürftigen Person ebenso emotionale Unterstützung. Zum Beispiel DiCa 13: „Meine Freundin, die auch Ärztin ist, … mit der bin ich in WhatsApp-Kontakt und telefoniere“ (13, 1076f.). Der Austausch über die Pflegesituation und die Wertschätzung eigener Leistungen werden als die am meisten unterstützenden Leistungen erlebt, um das Pflegearrangement „am Laufen“ zu erhalten und damit verbundene Herausforderungen emotional zu ertragen. Zum Beispiel DiCa 30: „Ansonsten habe ich noch Freunde. … die mir da auch emotionale Unterstützung bieten, indem ich mich da mal ausheulen kann“ (30, 313ff.). Ebenso können die von Diewald (1991) so bezeichneten kognitiven Leistungen medienvermittelt erbracht werden, wie informative Unterstützung in Form von Tipps und Ratschlägen durch Bekannte und Freund:innen, aber auch im Rahmen von online Kursen und Infomaterial. Als höchst relevante Form der Unterstützung gilt praktische Hilfeleistung. Dies entspricht dem Befund von Hollstein (2010), der besagt, dass der Bedarf an instrumenteller Unterstützung im Alter zunimmt. Das morgendliche Hereintragen der Zeitung ist zugleich verbunden mit einer regelmäßigen Einschätzung der Pflege-Situation, so dass Notfälle sofort erkannt werden. Es wird deutlich, dass auf den ersten Blick völlig unbedeutend erscheinende „kleine“ Leistungen aus Sicht der DiCas beträchtlichen Einfluss auf das Erleben von Pflege auf Distanz nehmen können.

Daneben zeigt sich, dass die Pflegenetzwerke ausgesprochen komplex sein können. Die befragten DiCas waren häufig selbst erstaunt, wenn sie sich im Gespräch der Größe ihres Netzwerks bewusst wurden. Ein Teil bestand aus über 30 Akteur:innen, andere hingegen setzten sich aus nur wenigen Einheiten zusammen. Ein weiterer Befund war die Multilokalität der Netzwerke und nicht ihre Bi-Lokalität, wie zunächst vermutet. Die Zufriedenheit mit den Netzwerken ist dabei unter den DiCas sehr unterschiedlich und nicht unbedingt eine Frage der Anzahl von Entitäten, sondern auch der gemeinsamen Kooperation und Planung. Gelingt hier eine gute Balance und Delegation von Aufgaben, kann auch die Pflege auf Distanz als praktikabel und sogar untereinander verbindend erlebt werden.

Informelle Unterstützung erfolgte meist durch Familienmitglieder. Der Rückgriff auf das familiäre Netzwerk wurde dabei teilweise als ambivalent erlebt. Einerseits galt er als Entlastung, ebenso aber meist als konfliktbeladen (vgl. Pelizäus/Franke 2022; Zentgraf 2019). Das zeigte sich besonders dann, wenn Aufgaben und Verantwortungen nicht eindeutig geklärt waren, Verteilungen ungerecht empfunden wurden oder andere Konflikte mit der Pflege entstanden: „Auf jeden Fall waren das von Anfang an riesen große Schwierigkeiten mit meinem Bruder“ (9, 2). In diesem Fall gelangen DiCas in ein Dilemma, aus dem sie sich nur schwer befreien können.

Neben familiären Angehörigen werden auch Freund:innen oder Bekannte genannt, mit denen man Freude und Sorgen teilen kann, oder Gemeinschaften wie bspw. Kirchengemeinden oder die Nachbarschaft, die mal „nach dem Rechten sehen“. DiCa 30 erkannte zum Beispiel im Rahmen gemeinsamen Reflektierens, dass ihr vor allem die Zuwendung der Dorfgemeinschaft gegenüber ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter einen großen Teil ihres Verpflichtungsgefühls nahm. Durch deren Verständnis und Aufmerksamkeit fühlte sie sich weniger allein gelassen. So hatten die Mitarbeiter:innen einer Bank ein besonderes Augenmerk auf die Bankgeschäfte der Mutter und informierten die Tochter über ungewöhnliche Vorhaben. „Man mag es kaum für möglich halten abermals war jetzt für mich extrem wichtig sogar. Weil ja, Banken bewegen sich natürlich selber in datenschutzrelevanten Bereichen und wie gesagt, ich habe meine Mutter ja nicht entmündigt“ (30, 80ff.). Oder der Besitzer eines Kiosks, der sich an sie wendete, „wenn sie mal was am Kiosk vergessen hat, dass dann jemand vom Kiosk angerufen und gesagt: ‚Ja Ihre Mutter hat hier ihre – weiß ich nich – Papiere liegen lassen. Können Sie das arrangieren, dass sie die wieder abholt?‘“ (30, 102ff.).

Formelle Unterstützung wurde vor allem von Pflegekräften (in der eigenen Häuslichkeit oder in Pflegeheimen) sowie Beratungsstellen wie den Pflegestützpunkten erhalten. Als wichtige unterstützende Akteur:innen werden hier auch Ärzt:innen erlebt, die telefonisch über die Erkrankungen der pflegebedürftigen Person informieren.

Dass auch „non-humans“ als wichtige Akteur:innen erlebt wurden, zeigt das Beispiel eines Kalenders, der in der Wohnung einer pflegebedürftigen Person hing. Dieser diente der DiCa zur Organisation und Kontrolle eines komplexen Pflegearrangements. Indem alle Beteiligten aufgefordert wurden, sich mit ihren Hilfeleistungen einzutragen, wurden gleichzeitig „Lücken“ des Arrangements offensichtlich. Und der Kalender schien verbunden mit der impliziten, aber deutlichen Aufforderung, sich zu engagieren. Der entstehende Druck wurde noch dadurch verschärft, dass der Kalender das Ausmaß des Engagements jeder/jedes Beteiligten dokumentierte und Ungleichgewichte für alle sichtbar wurden. Auch das Auto kann als eine bedeutsame Entität im Netzwerk interpretiert werden, das großen Einfluss auf eine funktionierende Dynamik des Pflegearrangements haben kann: „Jetzt habe ich mir extra ein {großes} Auto gekauft (lachend) damit ich die zwei gut transportieren kann“ (13, 473f.).

Auf der anderen Seite stellen diese nicht-menschlichen Entitäten auch Barrieren dar, wie bspw. gesellschaftlich-strukturelle Rahmenbedingungen, die die Pflegearrangements (in Deutschland) heute begleiten, und oftmals als Ursache einer Vielzahl von Hindernissen im Alltag erlebt werden: „Das ist ja schlimm genug, wenn ein Mensch pflegebedürftig wird, aber erst durch die Bürokratie, die das ganze umrankt, wird es zu einem fast nicht zu bewältigenden Moloch“ (9, 1733ff.). In engem Zusammenhang damit steht auch bei einigen DiCas das eher unstrukturierte Vorgehen bei der Suche nach Unterstützung. Meist sind es Zufälle, die diesen DiCas weitere Möglichkeiten der Unterstützung offenbaren. „Das habe ich jetzt erst erfahren. Weil ich meinen Steuerberater gefragt habe, ob ich eigentlich für die Fahrten … ob ich das steuerlich gelten machen kann … für Verhinderung- oder Kurzzeitig- wenn das nicht in Anspruch genommen wird, können Sie für die Fahrtkosten einsetzen“ (9, 19) (vgl. Pelizäus/Franke 2022).

Hier zeigt sich die Notwendigkeit, über existierende Optionen professioneller Unterstützung und vor allem über ihre Finanzierung informiert zu sein. Erst vor diesem Hintergrund kann für die DiCas ein Gefühl der Sicherheit im Umgang mit den zu erwartenden Herausforderungen entstehen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit den präsentierten Handlungspraxen  in den Netzwerken „funktionierende“ Pflegearrangements etabliert und stabilisiert werden. Dass dabei nicht alle DiCas mit ihrer Situation zufrieden sind, ist nicht allein auf die Rahmenbedingungen zurückzuführen, sondern auch darauf, wie diese von den DiCas interpretiert werden. Entsprechend konnte unsere explorative Datenerhebung und die Interpretation subjektiver Handlungspraxen auf der Grundlage individueller Überzeugungen dazu beitragen, zu verstehen, wie Pflegearrangements „funktionieren“.

5. Diskussion

Das Thema „Distance Caregiving“ weist entscheidenden Forschungsbedarf in Bezug auf seine sozialräumliche, netzwerkbezogene und praxistheoretische Ausgestaltung auf. Mit dieser Untersuchung konnte gezeigt werden, dass im Rahmen eines qualitativ orientierten Forschungsdesigns Leistungen und (nicht-)menschliche Akteur:innen im Sinne Latours (2005) identifiziert werden können, die wesentlich zum „Gelingen“ der Pflegearrangements beitragen, aber bislang kaum oder gar nicht gesehen und/oder zu wenig berücksichtigt wurden. Denn auch vermeintlich „kleine“ Leistungen können aus subjektiver Sicht hohe Bedeutung für die Aufrechterhaltung von Pflege auf Distanz haben (vgl. Pelizäus/Franke 2022; Nestmann 1988).

Es konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die DiCas über Formen und Inhalte ihrer sozialräumlichen Netzwerke entscheiden, indem ihre Überlegungen, Einstellungen und Alltagspraxen die strukturellen Rahmenbedingungen mit prägen. Sie führen zu spezifischen Netzwerkfigurationen, die nur auf der Basis qualitativer Forschung identifiziert werden können.

Am Beispiel der Untersuchung konnte in Anlehnung an Simmel (1908) ebenso gezeigt werden, dass standardisierte Maße von Distanz – wie Kilometerangaben – kein vertieftes Verständnis von erlebter Distanz erlauben, so dass daraus auch kaum Schlussfolgerungen für Pflegearrangements abgeleitet werden können. Während bei Simmel Entfernungen die Qualität sozialer Beziehungen konstituieren, so sind es bei den DiCas umgekehrt aber auch Aspekte von emotionaler Nähe, die Einfluss auf das Erleben von räumlicher Distanz haben. Durch die Berücksichtigung des subjektiven Distanzempfindens aufgrund individueller Einstellungen, aber auch individueller Ressourcen, konnten die Distanzen zwischen den Akteur:innen auf den Netzwerkkarten so rekonstruiert werden, dass die Perspektive der DiCas im Mittelpunkt steht.

Gleichzeitig wird die Distanz durchaus ambivalent erlebt. DiCas empfinden durch die weitere Entfernung sowohl häufiger Schuldgefühle und Kontrollverlust als auch die Möglichkeit, sich von der Pflegesituation persönlich abzugrenzen.

Die Befunde zeigen zudem, dass Pflege weit mehr ist als körperliche und räumlich nahe Hilfen und legen einen erweiterten Begriff von Pflege nahe. Indem Alltagsarrangements aus praxeologischer Perspektive in den Mittelpunkt gerückt wurden, konnte die Komplexität der verschiedenen Arrangements mit ihrer Vielfalt an Unterstützungsleistungen sichtbar gemacht werden. Diese erbringen meist Familienangehörige, die in unmittelbarer Nähe der pflegebedürftigen Person wohnen. Häufig werden auch professionelle Dienste in Anspruch genommen. Als besonders wichtig erleben DiCas auch praktische Unterstützung durch Nachbar:innen und Bekannte der hilfebedürftigen Person. Dies sind in der Regel „kleinere“ Dinge, wie das Übernehmen von Fahrdiensten oder das „nach dem Rechten schauen“. Aber gerade diese sind besonders wichtig, weil sie aufgrund der Distanz nicht selbst geleistet werden können. Wesentlich ist dieser Befund vor allem in der Hinsicht, dass er den Blick auf Leistungen lenkt, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, aber dennoch enormen Einfluss auf den „gelingenden“ Umgang mit Pflege auf Distanz haben.

Gleichzeitig wird das Potenzial sozialräumlicher Angebote zur Unterstützung der DiCas bislang kaum in den Blick genommen – dabei ist von ihrer hohen Relevanz mit Blick auf die dynamische Mobilität und Flexibilität von Lebensformen auszugehen. Hier ergeben sich spürbare Anknüpfungspunkte für sozialräumliche Hilfen, bei denen Beratung, psychosoziale Interventionen und Angebote verschiedener Institutionen und Akteur:innen miteinander vernetzt angeboten werden.

Literatur

Baldock, Cora Vellekoop (2000): Migrants and Their Parents: Caregiving from a Distance. In: Journal of Family Issues, 21(2), 205-224.

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Fußnoten

[1] Der vorliegende Beitrag basiert in Teilen auf dem Artikel von Pelizäus/Franke 2022. Während jener Beitrag den Schwerpunkt auf die Typenbildung im Projekt legte, verfolgt der hier vorliegende Beitrag stärker die Befunde zur räumlichen Relationalität der beteiligten Akteur:innen.


Zitiervorschlag

Pelizäus, Helga und Annette Franke (2023): Die Bedeutungen von räumlichen Relationen beim Distance Caregiving aus der Sicht pflegender Angehöriger – Eine qualitativ orientierte Untersuchung. In: sozialraum.de (14) Ausgabe 1/2023. URL: https://www.sozialraum.de/die-bedeutungen-von-raeumlichen-relationen-beim-distance-caregiving-aus-der-sicht-pflegender-angehoeriger.php, Datum des Zugriffs: 26.04.2024