Sozialräumliche Konfigurationen und vorkonstruierte Aneignungsmöglichkeiten junger Menschen am Rande einer Großstadt – Ergebnisse einer Sozialraumanalyse in Berlin-Marienfelde

Jennifer Hübner

 1. Eine Sozialraumanalyse am Berliner Stadtrand im Stadtbezirk Tempelhof-Schöneberg

In Berlin leben derzeit 3,7 Millionen Einwohner*innen, circa 843.300 davon sind unter 25 Jahre alt. Der Stadtbezirk Tempelhof-Schöneberg ist einer von zwölf Berliner Bezirken und befindet sich im Westteil der Stadt. Mit etwa 350.000 Einwohner*innen zählt er zu den bevölkerungsreichsten und bevölkerungsdichtesten Regionen Berlins (vgl. Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg 2017). Tempelhof-Schöneberg grenzt an das Nachbarbundesland Brandenburg und wird durch die fünf Bezirke Steglitz-Zehlendorf, Treptow-Köpenick, Mitte, Charlottenburg-Wilmersdorf und Neukölln umschlossen. In der Jubiläumsbroschüre aus dem Jahr 2014 beschreibt das Bezirksamt den Bezirk als ein Gebiet „zwischen Großstadt und Idylle“ (vgl. Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg 2014). Mit seinen sechs Bezirksregionen weist der Bezirk unterschiedliche Charakteristika auf. Mit dem ehemaligen Flughafenanger Tempelhof, urbanen Kiezkulturen in Schöneberg oder den für die Ränder einer Großstadt typischen Hochhaussiedlungen in Lichtenrade oder Marienfelde sind Unterschiede, oder anders ausgedrückt Vielfalt, das Genuine dieses Bezirks. Tempelhof-Schöneberg zeigt sich nicht nur durch eine erhöhte Anzahl verschiedener Differenzkategorien geprägt, auch die soziale Infrastruktur steht vor der Situation, auf die pulsierenden Dynamiken der verschiedenen Stadtteile zu reagieren. Als wachsender Bezirk leben in Tempelhof-Schöneberg etwa 88.640 junge Menschen (unter 27 Jahre), ca. 33.680 von ihnen zwischen dem sechsten und 18. Lebensjahr.

Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen die Ergebnisse einer empirischen Sozialraumanalyse, welche Ende 2017 und Anfang 2018 von der Autorin implementiert wurde. Auftraggeberin war das Jugendamt Tempelhof-Schöneberg. Ziel sollte die sozialräumliche Analyse [1] der Bezirksregion [2] Marienfelde im Hinblick auf die Attraktivität des Quartiers für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende (junge Menschen) sein. Daran anlehnend galt es in dem Forschungsprojekt folgende Ebenen zu beantworten:

Tabelle 1: Primär-und Sekundärfragen des Projektes, eigene Darstellung
Primärfragen Über welche lebensweltlichen und sozialräumlichen Orientierungen verfügen Kinder und Jugendliche im Sozialraum Marienfelde? Welche Interessen und Hobbies haben die hier lebenden Kinder und Jugendlichen?
Sekundärfragen Welche bereits vorhandenen Angebote werden wie angenommen? Durch wen und warum? Welche Angebote fehlen und müssten ergänzt werden? Welche Angebote und Projekte brauchen junge Menschen zur Gestaltung ihrer Freizeit?

Abbildung 1: Gesamtübersicht zur Sozialraumanalyse
Abbildung 1: Gesamtübersicht zur Sozialraumanalyse, Quelle: Autorin
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Das Forschungsprojekt orientierte sich damit an den Interessen und den Anliegen und Wüschen junger Quartiersbewohner*innen, welche in der Analyse als sich den Sozialraum aneignende Subjekte herausgestellt wurden (vgl. Deinet 2005, 165-181). [3] Aus den in der Analyse ermittelten Anliegen und Wünschen wurden im Forschungsprozess Bedarfe identifiziert, anhand derer die Interessen junger Menschen sichtbar werden (vgl. Hinte/Treeß 2014, 48). Die Forschungsergebnisse sollten dem praxisrelevanten Anspruch Rechnung tragen, als Grundlage für eine gemeinsame, durch die öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe begleitete, sozialräumliche Konzeptentwicklung in Marienfelde fungieren zu können (vgl. Krisch 2009, 167-191).

Angebunden wurde das empirische Forschungsprojekt an eine kommunale Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung, welche laut Jugendamt eine wichtige Ankerposition für die im Quartier lebenden jungen Menschen und deren Familien einnimmt.

2. Sozialarbeitswissenschaftliches Forschungs- und Erhebungsdesign als partizipatives Praxisforschungsprojekt

Zur Konzeptionierung und Umsetzung der Sozialraumanalyse wurde sich für einen partizipativen Praxisforschungsansatz entschieden, welcher einen Beitrag zur Aufklärung, Qualifizierung, Innovation, Legitimierung und Kontrolle von Angeboten der Sozialen Arbeit leisten soll (vgl. König 2016, 18-19). Mit dieser Entscheidung wurde die Hypothese berücksichtigt, dass eigene Personalkapazitäten und Ressourcen zu Gunsten eines für die Profession der Sozialen Arbeit eigentlich notwendigen Qualitätsmanagements in Marienfelde fehlen würden. Um Zielgruppen und Angebote erstmalig auch interdisziplinär zu betrachten, konnte die Sozialraumanalyse exklusive Räume für eine selbstreflexive, einrichtungsübergreifende und ebenenverschränkende Analyse erwirken. Spatscheck und Wolf-Ostermann zufolge lohnt es sich im Rahmen von Praxisforschung problemzentriert und interdisziplinär zu arbeiten. Forschungsgegenstände werden dadurch nicht an die Wissenschaftsdisziplin angepasst, sondern über die disziplinären Grenzen hinweg definiert und beforscht (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 33).

Die für die Sozialraumanalyse richtungsweisenden Fragestellungen (s.o.) wurden in einer dialogisch-interaktiven Auftaktveranstaltung zu Beginn des Projekts gemeinsam mit den Akteur*innen aus dem Quartier entwickelt. Sie entschieden sich für einen Fokus, der die Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf ihre Nachbarschaft, ihren Stadtteil rekonstruieren sollte. In Anlehnung an das Raumaneignungskonzept von Deinet und Krisch (vgl. Deinet 1993, 57-70) sollten vor allem beteiligungsorientierte Erhebungsinstrumente genutzt werden (vgl. Deinet 1993, 57-70; Deinet 2009, 65- 86). Sie sollten Aufschluss darüber geben, in welchem Zusammenhang die Lebenswelten junger Menschen mit Treffpunkten, Orten oder Institutionen in Marienfelde stehen und welche Sinnzusammenhänge, Freiräume oder auch Barrieren bzw. Hindernisse junge Menschen in ihren Gesellungsräumen erkennen (vgl. Deinet, 2009 54; Krisch 2009, 74).

Vor diesem Hintergrund ergab sich folgende Gegenstandsklärung:

Tabelle 2: Ablauf der Erhebungsphase Sozialraumanalyse Ludwigsfeld
Gegenstandsklärung Kinder und Jugendliche, welche die im Sozialraum vorhandenen non-formalen Bildungseinrichtungen bereits besuchen
Kinder und Jugendliche, welche die im Sozialraum vorhandenen non-formalen Bildungseinrichtungen noch nicht annehmen
Fachkräfte der non-formalen Bildungseinrichtungen
Relevante Schlüsselpersonen im Sozialraum, die Auskunft über die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen aus ihren jeweiligen Perspektiven geben können

Für die Datenerhebung wurden verschiedene Erhebungsinstrumente genutzt, die im Folgenden dargestellt werden.

Strukturierte Stadtteilbegehung

Die strukturierte Stadtteilbegehung ist ein aufwändiges Erhebungsverfahren, welches Forschenden ganzheitliche, dichte und präzise Einblicke in die Lebenswelten und das sozialräumliche Verhalten junger Menschen ermöglicht. Insbesondere die beteiligten Fachkräfte werden hier in die Situation versetzt, kindliche und jugendliche Lebenswelten aus einer weniger institutionalisierten dafür sozialräumlichen Perspektive zu betrachten (vgl. Spatscheck/ Wolf-Ostermann 2016, 43). Die strukturierte Stadtteilbegehung folgt einem forschungsanalytischen Zweischritt. Zunächst werden Fachkräfte zur Stadtteilbegehung eingeladen, um im Anschluss an die durch sie entworfene Segmentierung des Stadtteils, das Quartier mit einem ethnografischen Blick auf die soziale Welt junger Menschen zu begehen. Es folgt die Inspektion der Kinder und Jugendlichen. Um deren lebens- und alltagsweltlichen Blickwinkel in Erfahrung zu bringen (vgl. Deinet/Krisch 2009), kann in diesem Schritt gefragt werden: „Wo trefft ihr Euch gern? / Wo treffen sich die anderen? / Welche Cliquen sind an diesem Raum anzutreffen? / Welche Probleme und Affinitäten gibt es zwischen den Cliquen? / Welche Orte erlauben was? / Welche Hindernisse und Hemmnisse ergeben sich bei der Aneignung von Räumen? / Was gefällt Euch/ Dir am Stadtteil, was ist mühsam?“ (vgl. Krisch 2006, 134).

Abbildung 2: Übersicht zur Strukturierten Stadtteilbegehung
Abbildung 2: Übersicht zur Strukturierten Stadtteilbegehung, Quelle: Autorin
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In Marienfelde wurde die strukturierte Stadtteilbegehung mit den Adressat*innen der zwei größten Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen durchgeführt. Wie in der Konzeption beschrieben, erhielten die Fachkräfte zunächst eine speziell für die Sozialraumanalyse durch das Vermessungsamt entwickelte Stadtteilkarte, um das Quartier topografisch zu erkunden. Um die Einheit mit einer Karteneinzeichnung der bestrittenen Route enden zu können, wurde der Stadtteil zunächst durch die Kinder- und Jugendarbeiter*innen im Anschluss daran Ort für Ort erkundet. Die Stadtteilbegehung mit den Kinder und Jugendlichen folgte dann einige Tage später. Die Fachkräfte berichteten den Teilnehmenden von ihrem Spaziergang und präsentierten diesen entlang der Karte. Daran anschließend wurde der Spaziergang mit den Beteiligten gemeinsam wiederholt und durch deren Ideen verändert oder ergänzt. Alle Gespräche am Rande der Begehung wurden aufgezeichnet und unter Hinzuziehung ethnografischer Beobachtungsprotokolle und Bilder ausgewertet.

Nadelmethode

Mit der Stecknadelmethode sollten Marienfelder Kinder und Jugendliche befragt werden, welche Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit nach § 11 SGB VIII sie noch nicht in Anspruch nehmen. Die Methode lädt dazu ein, verschiedenfarbige Stecknadeln auf eine Stadtteilkarte anzubringen, um ausgewählte Orte (bspw. Wohnorte, Treffpunkte, gemiedene Plätze) in einer Region zu markieren (vgl. Krisch 2009, 78) und deren Eigenschaften sichtbar zu machen. (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 60). Befragt wurden Schüler*innen von sechs Schulen sowie junge Bewohner*innen einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete. 312 abgegebene Daten wurden registriert. Auf den Schulhöfen konnten die Schüler*innen in den Pausenzeiten mit folgenden Einheiten konfrontiert werden: Lieblingsort im Sozialraum von weiblichen Befragten; Unbeliebtester Ort im Sozialraum von weiblichen Befragten; Lieblingsort im Sozialraum von männlichen Befragten; Unbeliebtester Ort im Sozialraum von männlichen Befragten. Das Verfahren entwickelte sich zu einer aktivierenden Methode, die zusätzliche Gesprächssettings zwischen Forschenden und Teilnehmenden ermöglichte. Alle Erhebungssettings wurden ethnografisch begleitet und protokolliert.

Abbildung 3: Übersicht zur Nadelmethode
Abbildung 3: Übersicht zur Nadelmethode, Quelle: Autorin
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Befragung von Schlüsselpersonen

Abgerundet wurde die Erhebungsphase durch den Einsatz von Einzelinterviews und Kurzzeitgesprächen. Bei der Befragung wurden Menschen beteiligt, die aufgrund ihrer Position, ihres Wissens oder ihrer Erfahrung im Sozialraum umfassende Kenntnisse über das Geschehen und Leben im Stadtteil verfügen. Es handelte sich dabei bewusst nicht um die Auswahl institutionalisierter Expert*innen allein, sondern um Personen, die über den Lebensraum Marienfelde aus ihrer ganz ureigenen Perspektive berichten konnten. Schlüsselpersonen waren damit Fachkräfte aus Einrichtungen, Vertreter*innen von Kinder- und Jugendhilfeträgern aber auch Eltern. Angereichert konnten diese durch ethnografische Tür-und-Angel-Gespräche mit weiteren Akteuren aus dem Kiez werden. (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 55)

Ethnografie als Forschungsstrategie

Ergänzt wurde das Setting durch das Formulieren von Feldnotizen und Beobachtungsprotokollen (vgl. Breidenstein et al. 2015, 86 ff. und 94 ff.) sowie dem Durchführen von Gruppendiskussionsverfahren mit Zielgruppen und Fachkräften (vgl. Bohnsack et al. 2001). [4] Bereits Martha Muchow hat in ihrer Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ die Bedeutsamkeit von interaktivem, ethnografischem Datenmaterial herausgearbeitet (vgl. Hungerland 2015, 18; Muchow; Muchow 1987, 71f.; Krisch 2009, 74). Streifzüge, beobachtetes Teilnehmen und teilnehmende Beobachtungen, aber auch subjektive Landkarten junger Menschen, konnten das Herausstellen einer kinder- und jugendzentrierten Perspektive auf den Stadtteil Marienfelde forschungspraktisch ergänzen (vgl. Eisewicht/Hitzler 2016).

Auswertungsmethode

Die Daten wurden mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring ausgewertet, welches sich als deduktives Verfahren an den durch die Fachkräfte aufgeworfenen Fragestellungen orientierte (vgl. Mayring 2015; Flick 2016, 144-155; Mayring, 2017, 468-475). Alle Datensätze wurden in eine einheitliche Textstruktur transformiert und in einem Codier-Kategorienbildungsverfahren rekonstruktiv ausgewertet (vgl. Rosenthal 2014). Insgesamt sind 30 Codierungen mit mehr als 380 Items entstanden.

3. Ergebnisdarstellung: Der Sozialraum Berlin-Marienfelde und seine sozialräumlichen Differenzkategorien als Strukturschablone

Das Quartier Marienfelde liegt im süd-westlichen Teil Tempelhof-Schönebergs und zählt mit 9,15 qkm zum territorialen Durchschnitt aller Regionen im Bezirk. Marienfelde besteht aus vier Planungsräumen, die durch große Hauptverkehrsadern voneinander abgetrennt sind. Kinder und Jugendliche können die architektonischen Trennlinien nur unter Aufwand durchkreuzen. In Marienfelde leben etwa 32.200 Einwohner*innen; 14.304 davon im Planungsraum Marienfelde Süd, gefolgt von den Planquadraten Marienfelder Allee Nordwest, Kirchstraße und Marienfelde Nordost. Die Bevölkerung in Marienfelde wächst stärker als der bezirkliche Durchschnitt. Insbesondere die Zahl der Kinder unter sieben Jahre nimmt deutlich zu. Nur in dem vorwiegend ‚gutbürgerlichen’ Wohngebiet Kirchstraße nimmt die Anzahl junger Menschen ab (vgl. Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg 2016, 1). „Der Anteil der unter 18-Jährigen ist der höchste im Bezirk. Auffällig sind die Daten zur Bevölkerungswanderung [...]. Der Zuzug von Geflüchteten nach Marienfelde, z. B. im Planungsraum Marienfelde NO mit der Daimlerstraße trägt maßgeblich dazu bei.“ (ebd.) Durch die Verortung der beiden Großunterkünfte für Geflüchtete leben hier überproportional viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Das Marienfelder Stadtbild zeigt sich durch eine hohe Anzahl von alleinerziehenden Haushalten geprägt. Kinderschutzmeldungen und Transferleistungsbezug spielen ebenfalls eine erhöhte Rolle (ebd.).

Tabelle 3: Einwohner*innenentwicklung in Marienfelde, eigene Darstellung, www.Berlin.de, Bezirksregionenprofil Marienfelde
 Einw. unter 18 JahreVeränderung zu 2015Veränderung zu 2011
Bezirk 52.171 2,8% 7,9%
Marienfelde 5.505 6,8% 12,2%
Marienfelder Allee NW 1.894 7,4% 14,9%
Kirchstr. 712 6,2% 9,4%
Marienfelde NO 653 28,9% 34,3%
Marienfelde Süd 2.246 2,2% 8,3%

In Marienfelde sind derzeit verschiedene Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ansässig: siebzehn Kindertageseinrichtungen, zehn Kindertagespflegeeinrichtungen, ein Familienzentrum, eine Erziehungs- und Familienberatungsstelle und ein Kinder- und Familientreff. Darüber hinaus existieren in Marienfelde drei Grundschulen, zwei Oberschulen und zwei Schulen mit Förderbedarf. Alle Schulen offerieren im Rahmen ihrer Ganztagsgestaltung einen auskömmlichen Nachmittags- und Freizeitbereich.

Das Angebot der Kinder- und Jugendbildung präsentiert sich in Marienfelde mit derzeit zwei größeren Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen und einem Jugendtreff in einem überschaubaren Rahmen. Damit liegt das Quartier deutlich unter dem bezirklichen Versorgungsdurchschnitt. Ergänzt werden die drei Angebote durch einen Jugendkeller für selbstorganisierte Jugendgruppen. Angebote der mobilen Jugend(sozial)arbeit nach § 11 SGB VIII oder § 13.1 SGB VIII existieren trotz vorhandener Potenzialflächen im Quartier (bspw. leerstehender Gewerberaum) derzeit nicht. Die Gemeinschaftsunterkünfte für Menschen mit Fluchtgeschichte halten ebenfalls Angebote für Kinder und Jugendliche vor.

3.1 Der öffentliche Raum: Geografisch-architektonische Gegebenheiten und Aneignungspraxen von Kindern und Jugendlichen

Marienfelde besteht aus einer Plattenbausiedlung, einem Einfamilienhausgebiet und einem breit angelegten Industrieareal. Die Hochhaussiedlung und die Einfamilienhausgegend stehen sich als diametrale Pole gegenüber.

Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen auf deren Mobilitäts- und Aneignungsmöglichkeiten im Plattenbaugebiet präsentiert sich differenziert. Ein kinder- und jugendzentrierter Blickwinkel aus den Erhebungen zeigt: Die hier angelegten Fußgängerwege sind in ihrer physischen Beschaffenheit grundsätzlich funktional angelegt und für spielerische Interessen nutzbar. Pflastersteine sind kaum vorhanden; dafür jedoch üppiger Asphalt, welcher zum Rollen, Fahrradfahren oder Skaten einlädt. Das Gebiet ist durch eine Vielzahl einzelner akkurat gepflanzter Bäume kennzeichnet, welche durch eine Art Sitzbankzirkel umrandet werden. Die Bänke sind in der Regel leer. Gehören die in der Hochhausbausiedlung verorteten Spielplätze in der Regel zu einem zugeordneten Plattenbaublock, werden diese durch eine der ansässigen Wohnungsbaugesellschaften finanziert. Deren Inanspruchnahme beschränkt sich auf ein exklusives Nutzungsrecht. Wesentliche Unterschiede zwischen den einzelnen Spielorten gibt es nicht. Die Spielplätze sind sauber; meistens bestehend aus Sandkasten, Schaukel, Balanciergerüst, einem kleinen Spielhaus; alles umrandet durch kurzgestutzte Büsche. Insgesamt wirken die Spielplätze klein, fast wie separierte Inseln. Die benachbarten Häuser schauen von allen Seiten auf die durch Zäune markierten Flächen. Es gibt wenige Versteckmöglichkeiten; dafür jedoch diverse Schilder, die zur Einhaltung der Ruhepausen auffordern. Komplettiert wird das Bild durch Tischtennisplatten, welche das gesamte Hochhausgebiet flankieren. Markiert man Tischtennisplatten als Bewegungsflächen, kann von einer ausgedehnten Inselgruppe gesprochen werden. Die Tischtennisplatten sind zwar öffentlich zugänglich, zur eigenen Nutzung jedoch abermals voraussetzungsvoll. Darüber hinaus können die vereinzelten Molekularflächen nicht darüber hinweg täuschen, dass die Plattenbausiedlung über nur wenig (öffentliche) Sport- und Bewegungsplätze verfügt. Oft sind diese an private Wohnungsbaugesellschaften geknüpft und nur eingeschränkt oder gar nicht nutzbar. Auch werden sie seitens der Kinder und Jugendlichen als unzureichend und marode beschrieben. Durch die städtebauliche Verdichtung wurden ehemalige lichte, kleinere Grün- und Waldflächen zugunsten neuer Wohnanlagen in den vergangenen beiden Jahrzehnten zurückgebaut. Bewegungs- und Mobilitätsräume für junge Menschen sind seit jeher insgesamt rar. Möchte man sich im öffentlichen Grünland bewegen, bedarf es seitens der jungen Quartiersbewohner*innen eine gewisse Mobilitätsbereitschaft. Sind es neben einigen Parkhäusern, einem breiten Straßenland oder Spielplätzen für Klein(st)kinder, vor allem zwei größere Parkanlagen, die zum Chillen und Spielen einladen sollen.

Statistisch gesehen, weist das Quartier mit einem Versorgungsgrad von 26,7 Prozent eine überdurchschnittliche Anzahl an öffentlichen Spiel- und Grünflächen auf. [5] Andernfalls sind für diese Werte vor allem die erwähnten, jedoch abgelegenen Parkanlagen verantwortlich (Freizeitpark Marienfelde, Gutspark). Abermals bedarf es eine gewisse Form von Mitgliedschaft, um sich Spiel- und Bewegungsräume zu erschließen – Mitgliedschaft hier verstanden als eine Gruppe „Auserwählter“, die mobil sein kann oder darf (bspw. durch eine Erlaubnis der Eltern oder durch andere begünstigende Mobilitätsmotive, etwa das Fahrradfahren).

Nahezu alle Spiel-, Bewegungs- und Grünflächeneinheiten sind in Marienfelde unbeleuchtet. Insbesondere die Zuwegungen zu den Bildungseinrichtungen (Schulen, Kinder- und Jugendeinrichtungen) sind abends menschenleer, dunkel und unübersichtlich. Kinder und Jugendliche beschreiben diese und andere Wege im Quartier als Angsträume, welche sie – vorzugweise Mädchen und junge Frauen – bei dunklen Tageszeiten nicht nutzen wollen.

Insgesamt wirkt die Hochhaussiedlung betonlastig und steril. Kinder- und jugendgerechte Freiräume sind selten. Spielräume, die unter Einbeziehung junger Menschen entwickelt wurden, gibt es mit einer einzigen Ausnahme nicht. Die Nutzung der vorhandenen Potentialflächen ist für junge Menschen ebenfalls voraussetzungsvoll und bedient sich dabei verschiedenen Differenzkategorien (Alter, Geschlecht, Behinderung etc.). Die Einladung zur Dekonstruktion des Vorhandenen ist damit immanenter Bestandteil kindlicher und jugendlicher Aneignungspraktiken in Marienfelde.

Gelten Zäune als symbolische Repräsentanz der architektonischen Gesamtbeschaffenheit, sind Barrieren und Grenzen in Marienfelde Programm. Große Hauptverkehrsstraßen, eingezäunte Spielinseln, abgelegene Parkanlagen, fehlende Beleuchtung – der öffentliche Raum ist voraussetzungsvoll und bedient sich einer Logik vorformierter Mitgliedschaften. Pädagogische, transzendierende Brücken im öffentlichen Raum, etwa nach § 11 oder 13.1 SGB VIII, gibt es zur Überwindung der Differenzlinien bisher nicht (vgl. Göhlich et al. 2006, 185-194). Das gesamte Bewegungsnetzwerk in Marienfelde wird und wurde vor allem aus der Sicht Erwachsener konstruiert. Besonders auffällig ist die engmaschige Wegeführung, welche die freie Entfaltung junger Menschen be- oder verhindert. Der Stadtteil denkt sehr stark für Kinder und Jugendliche vor(aus) und lenkt, entwirft bzw. beeinflusst damit die Bewegungsmuster und sich daran anschließende Potentialgrößen (bspw. Peer-Bildung) der hier lebenden jungen Menschen.

Informelle Orte bergen für die Marienfelder Befragten, hier vor allem Jugendliche und junge Heranwachsende, eine besondere Bedeutung. Zeichnet sich weder der öffentliche Raum, noch die Kinder- und Jugendarbeit durch eine besondere Attraktivität für Jugendliche und Heranwachsende aus, suchen und besuchen diese Alterskohorten andere (vor allem informelle) Orte im Stadtteil. Als relevant gekennzeichnet werden hier vor allem offene und halb-öffentliche Räume, die mit ausreichenden Sitzmöglichkeiten, günstigen Fastfood-Speisen und/oder Internetzugang präpariert sind. Als mittlerweile populärster Snack nimmt die Kebab-Filiale hier eine der vorderen Positionen ein (vgl. Dönerkind 2016, 2). Doch auch „Chinese“, „Burger King“, „McDonald‘s“, „Lidl“, „Edeka“ oder „Rewe“ werden durch Jugendliche als bedeutsame Orte frequentiert. Jugendliche und Heranwachsende entwickeln und zelebrieren hier ihre eigenen Speise-Riten, welche nicht auf die Verwertungsleistung Lebensmitteleinnahme reduziert werden kann, sondern vor allem Praxen der informellen Bildung herausstellen (vgl. dazu auch Bütow/Spatscheck 2012). Die durch die jugendkulturellen Praktiken entwickelte Chill-Out-Kultur markiert einen wichtigen Ort der Entschleunigung: „Rumhängen, quatschen, gemeinsamen essen, kiffen.“ (Mengilli et al. 2017, 6). Es werden gemeinschaftliche Identitätsprozesse exploriert, die einerseits als Reaktion auf fehlende Räume in Marienfelde, aber auch als eigene Bildungsleistung innerhalb der jugendlichen Kohorte verstanden werden kann.

Neben Systemgastronomie und Einkaufshallen erfreuen sich auch das öffentliche Straßenland (Bushaltestellen und anliegenden Verteilerkästen), Parkhäuser oder leerstehende Gewerberäume an besonderer Beliebtheit für das gemeinsame Chillen. Fehlende Einkaufsmöglichkeiten in Marienfelde führen darüber hinaus zur Freizeitgestaltung im Nachbarbezirk Steglitz-Zehlendorf. Dort gibt es ein großes Einkaufscenter, welches durch eine Buslinie niedrigschwellig zu erreichen ist. Auch andere Orte mit besonderem Eventcharakter bezeichnen die Befragten als relevant; unter ihnen die sich in der Nähe befindenden Eislauf- und Trabrennbahn.

3.2 Die Kinder- und Jugendförderung: Infrastrukturelle und konzeptionelle Ansätze zur Freizeitgestaltung junger Menschen am Berliner Stadtrand

Die Angebotsstruktur der Marienfelder Kinder- und Jugendarbeit kann gemessen am Berliner Versorgungsanspruch mit nur zwei Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen und einem Jugendtreff als marginal beschrieben werden. Verstehen sich die Orte der non-formalen Bildung als offene Formate für alle Kinder und Jugendlichen, werden diese im Erhebungszeitraum vor allem durch die Kohorten Kinder und Lücke-Kinder im Alter zwischen 11 und 13 Jahren besucht. Angebote, die Teenager und junge Heranwachsende ansprechen, gibt es faktisch nicht. Der klassische offene Bereich, eine wöchentliche Projektstruktur, aber auch Offerten der Kinder- und Jugenderholung zählen zum gängigen Angebotsrepertoire der Treffs.

Tabelle 4: Angebotsrepertoire der Kinder- und Jugendtreffs in Marienfelde, eigene Darstellung
Einrichtung 1Einrichtung 2Einrichtung 3
Abenteuerspielplatz und Hüttenbau, Fahrrad- und Holzwerkstatt, gemeinsames Kochen, Angebote der kulturellen Bildung, Lernförderung, Kinder- und Jugenddisko, internationale Jugendarbeit und Ferienfahrten, sportbezogene Angebote Aufenthalts-, Kreativraum und Küche, Turnhalle, Tonstudio, PC- und Medienraum: Angebote der Sportpädagogik und kulturellen Bildung, Medienbildung, gemeinsames Kochen, Lernförderung Lernförderung, Angebote der kulturellen Bildung, Werken, Angebote zu digitalen Medien, gemeinsames Kochen, Ideen zur aufsuchenden Arbeit

Junge Geflüchtete nehmen in den strategischen Überlegungen aufgrund ihres überproportional hohen Bevölkerungsanteils einen wichtigen Stellenwert in der Marienfelder Fachdebatte ein. Normativ ist dabei der als Anspruch formulierte „sozialintegrative Ansatz“, welcher Newcomer*innen und Stammbesucher*innen in der Kinder- und Jugendarbeit zusammenbringen soll (vgl. Amadeu-Antonio-Stiftung 2015). Methodische Überlegungen zur Implementierung gibt es trotz räumlicher Nähe bisher nicht. Vielmehr fungiert auch hier eine exemplarisch zu nennende, zwischen den Institutionen liegende Hauptstraße als Trennlinie zwei verschiedener, andernfalls analoger mikroskopischer Welten: Eine Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung und eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete, beide mit einem sich ähnelnden Profil. Beide Einrichtungen unterscheiden zwischen Kindern und Jugendlichen und verfügen über Exklusivräume für die älteren Jahrgänge, abgetrennt vom pädagogischen Normalbetrieb. Der Jugendbereich der Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung befindet sich in einem auf dem Außengelände separierten Haus, deren Hauptnutzerin im Erdgeschoss die Stadtteilbibliothek ist. Die Zugänglichkeit ist exklusiv, hochschwellig und zeitlich befristet. Auch die Unterkunft für Geflüchtete hat ihren Jugendbereich auf der anderen Unterkunftsseite ausgelagert. Der offene Bereich, die Projektangebote und die opulente pädagogisch bespielte Außenfläche (u.a. wöchentliches Spielmobil) ähneln der klassischen Kinder- und Jugendarbeit nach § 11 SGB VIII. Dass beide Einrichtungen nicht miteinander kooperieren, steht exemplarisch für das noch nicht ausgeschöpfte Netzwerkpotential im Quartier.

Die in Marienfelde ansässige Kinder- und Jugendarbeit bezeichnet sich als „drogenfreies Angebot“, in der die Einnahme psychoaktiver Substanzen durch junge Menschen (o.Ä.) konzeptionell und den einrichtungsbezogenen Hausordnungen sowie gesetzlich entsprechend untersagt ist. Ein pädagogisches und/oder sozialräumliches Konzept zum Umgang mit psychotropischen Mitteln etwa nach § 14 SGB VIII gibt es trotz im öffentlichen Stadtbild zu beobachtender junger Konsument*innen bisher nicht; Präventions- oder Bildungsangebote fehlen ebenfalls. Die Einrichtungen skizzieren damit eine sinnbildliche Klammer, welche Menschen und Gruppen in ihren Einrichtungen erwünscht sind oder eben nicht.

Ein weiterer Blick zeigt: Insgesamt befindet sich die hier ansässige Kinder- und Jugendarbeit in einem Paradigmenwechsel: Die Fachkräftedebatte hat die hiesige Kinder- und Jugendarbeit mittlerweile erreicht. Können die anerkannten Träger der freien Jugendhilfe ihre Stellen nur unter enormen Anstrengungen besetzen, liegt das Durchschnittsalter der kommunalen Einrichtungen bei etwa 50 Jahren. Auch vor diesem Hintergrund werden aufsuchende Angebote der Kinder- und Jugendarbeit in Marienfelde nicht angeboten. Die fehlende Personalentwicklung in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe hat ihren Teil zum Rückgang innovativer Triebkräfte beigetragen. Einige Jugendarbeiter*innen gehen sogar davon aus, dass Kinder- und Jugendarbeit eine vor allem problemzentrierte Zielgruppe ansprechen soll und deshalb gar nicht in allen Planungsräumen vertreten sein müsse. Auch diese und ähnliche als Exempel statuierte Annahmen können bei der Fragestellung zurate gezogen werden, warum in der Einfamilienhaussiedlung noch kein Angebot nach § 11 SGB VIII existiere.

Schließlich markiert die Analyse der Marienfelder Kinder- und Jugendförderung blinde Flecken, die vor allem in den Bereichen kulturelle Bildung, sportbezogene und geschlechterreflektierte Kinder- und Jugendarbeit (mit Mädchen und jungen Frauen) herauszustellen sind. Wünschen sich die Befragten Angebote mit Eventcharakter, bedarf es neben direkten Veranstaltungsformaten auch regelmäßig stattfindende jugendkulturelle Formate, die Konsum und Abhängen miteinander kombinieren und vor allem nicht negativ konnotieren.

Ausgewiesene Jugendtreffs samt jugendgerechter Öffnungszeiten gibt es in Marienfelde nicht. Der als „Jugendtreff“ durch seine namentliche Bezeichnung ausgewiesene Ort ist kein Raum für Jugendliche sondern für Kinder und Teenager. Alle Öffnungszeiten verfolgen insgesamt nicht die durch Jugendliche präferierten Interessen:

Tabelle 5: Öffnungszeiten der Kinder- und Jugendtreffs in Marienfelde, eigene Darstellung
haus of fun3D-MedienhausJugendtreff Basis
Mo – Fr: 14:00 bis 20:00 Uhr Mo – Fr: 14:00 bis 19:00 Uhr Di, Do, Fr: 14:00 bis 19:00 Uhr
Ferien: 12:00 bis 18:00 Uhr Sa: 12:00 bis 17:00 Uhr
Derzeit Fokus: 8 bis 14 Jahre Breite Zielgruppe, derzeit Fokus: 8 bis 12 Jahre Derzeit: 8 bis 14 Jahre

Schließlich wirken das Hochhausgebiet und die Einfamilienhaussiedlung in Marienfelde wie Séparées, die durch das Straßennetz voneinander getrennt sind. Junge Menschen finden zwischen den beiden Planungsräumen kaum zueinander. Da im Siedlungsgebiet keine Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung existiert, müssen die hier lebenden Kinder und Jugendlichen vorgefertigte Grenzen überwinden, um Orte der Kinder- und Jugendarbeit zu erreichen. Darüber hinaus begegnen sich die Bewohner*innen beider Quartierseinheiten mit Ressentiments: Formulieren die Familien aus dem Siedlungsgebiet Vorurteile gegenüber dem Plattenbaukiez, empfinden die als „sozial benachteiligt“ deklarierten Familien Scham und Angst gegenüber den im Einfamilienhausareal lebenden Menschen. Hybride Freundschaften sind wegen der familiären Eingrenzungsmechanismen kaum oder unter erschwerten Bedingungen möglich. Da die Kinder- und Jugendeinrichtungen bislang nicht als Begegnungsräume genutzt werden, wird der Ort Schule unbeabsichtigt zu einer Art pädagogisches Hybrid-Modell samt appellativer, ihr zugeschriebener Aufgaben erklärt. Damit überlassen die informelle und non-formale Bildung der formellen Bildung den Vortritt, kindlichen und jugendlichen Ballungen im Stadtteil pädagogisch zu begegnen.

4. Fazit und Ausblick: Notwendige Strategien für die partizipative Planung von kinder- und jugendgerechter Infrastruktur im Sozialraum Berlin-Marienfelde

Ausgangspunkt der sozialräumlichen Untersuchung war die Fragestellung, wie Kinder und Jugendliche die räumlichen Gegebenheiten ihres Quartiers wahrnehmen und sich diese aneignen (vgl. Lehnigk 2015, 101).

Die vorliegende Sozialraumanalyse karikiert Marienfelde als verinselte Collage, die durch sozialräumliche Differenzlinien geprägt ist (vgl. Lang 2005, 212). Zurückliegende Strategien in Städtebau oder Daseinsvorsorge (etwa die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe) haben ihren Teil zu deren Entwurf, Form und Sicherung beigetragen. Die Bewohner*innen der Plattenbau- und die der Einfamilienhaussiedlung bleiben unter sich; außerschulische Begegnungen von Kindern und Jugendlichen gestalten sich auf den ersten Blick zufällig.

Die Kinder- und Jugendeinrichtungen flankieren bzw. bedingen die im Quartier zu beobachtenden Ein- und Ausgrenzungsmechanismen. Sie sind keine hybriden Begegnungsorte für alle Kinder und Jugendlichen, sondern offerieren Bildungsangebote für homogene Gruppen. Der allseits bekannte Anspruch, Kinder- und Jugendarbeit solle sozialintegrative Leistungen erbringen, verbleibt eine Utopie (Böhnisch 2013, 3-9; Landesjugendamt Sachsen 2018, 5-6). [6] Die Kinder-und Jugendfreizeiteinrichtungen objektivieren den Sozialraum und nutzen ihn (aufgrund fehlender Kapazitäten) im Sinne einer sozialraumorientierten Arbeitshaltung nicht (vgl. Deinet 2005, 411-422). Intrinsische Gestaltungspotentiale, beispielsweise räumliche Barrieren aus politik-bildnerischer Perspektive gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen zu dekonstruieren, bleiben verwaist.

Marienfelde ist ein von Erwachsenen, fernab von Kinder- und Jugendarbeit, erschaffenes Konstrukt. Das durch kommunale und private Stadt- oder Verkehrsplaner*innen entwickelte, architektonische Koordinatensystem stellt kinder- und jugendgerechte Orte zwar zur Verfügung, holt sich die Konnontierung der augenscheinlichen Zielgruppe jedoch nicht ein.

Ergänzt werden die fremdentwickelten Orte durch die große Weite unattraktiver, funktionalisierter Flächen. Wirklichkeit und Wirksamkeit von Orten entstehen dabei jedoch nicht durch die Topografie der Orte allein sondern erst durch das Deutlichwerden von Zusammenhängen, warum und wofür diese gebraucht werden (vgl. Truniger/Wolf 2019, 2). Es darf also trotz oder gerade wegen des erzieherisch-funktionalen Wegeleitsystems davon ausgegangen werden, dass Kinder und Jugendliche aus Orten veränderliche Räume konstruieren und diese zu ihren eigenen Zweckbestimmungen verändern (vgl. ebd.). Aus diesem Erkenntnisgewinn auch eine pädagogische Konsequenz abzuleiten, könnte eine der zukünftigen Aufgaben für die Kinder- und Jugendarbeit im Quartier sein.

Marienfelde besteht aus einer – rekurrierend auf das Theoriemodell von Helga Zeiher (Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 21; Zeiher 1983, 187) – verinselten Vorformatierung, welche durch Hauptstraßen umzäunte Planungsräume, umzäunte Spiel- und Sportplätze oder pädagogisch umzäunte Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen skizziert wird. Zu empfehlen ist die Auseinandersetzung mit der sozialräumlichen Fragestellung: Wer ist warum, wann und wo im Quartier Mitglied, welche räumlichen Aneignungsmöglichkeiten bzw. Anschlussmitgliedschaften ergeben sich daraus und welche Rolle habe ich bei dieser reflexiven Auseinandersetzung eigentlich als Kinder- und Jugendarbeiter*in? Muss ich Kinder und Jugendliche aus ihren kolonialisierten Lebenswelten befreien und das jugendarbeiterische Angebot zu transzendenten Räumen entwickeln? Oder erhöhe ich mich damit als Jugendarbeiter*in nur und spreche Kindern und Jugendlichen die Befähigung, sich selbst zu befreien ab? Anders gesagt: Unterstelle ich ihnen mit dieser These nicht sogar eine sozialräumliche Gefangenschaft, welche die Befreiung erst überhaupt notwendig macht? Wo braucht es subjektorientierte, sozial integrative, wo strukturstiftende Bildungsangebote?

In diesem Forschungsprojekt wurden Kinder und Jugendliche als handelnde und sich den (Sozial)Raum aneignende Subjekte begriffen, welche nicht nur in der Dimension Raum leben, sondern sich die relationale Raum(an)ordnung (Löw 2001) auch aneignen und erleben (vgl. auch Muchow/Muchow 1935). Mit ihrem spezifischen sozialräumlichen Aneignungsverhalten – etwa beim Chillen in Kebab-Filialen oder Rumhängen auf Stromkästen – haben die jungen Quartiersbewohner*innen den erwachsenen Fachkräften Bewegungsmuster voraus, die andernfalls auch von der sozialarbeiterischen Profession erwartbar sind. Kinder und Jugendliche sollten daher nicht nur als die sozialräumlichen Pionier*innen in Marienfelde verstanden werden: Erst die Betrachtung ihrer jugendkulturellen Praktiken sind Tor und Parabel, um als Fachkraft zu einem ganzheitlichen Verständnis von Lebenswelt und Sozialraum zu gelangen. Damit schlägt die sozialräumliche Orientierung der Kinder und Jugendlichen die sozialräumliche Arbeitshaltung der Fachkräfte, wenngleich auch diese konstitutive Barrieren überwinden müssen (Kinder = Zäune, Straße; Fachkräfte = Finanzen, Personal). Ziel sollte also die (Re-)Aktivierung sozialräumlicher Jugendarbeit im Quartier sein, in der Sozialräumlichkeit nicht nur als Methode sondern als immanente und professionsgebundene Haltung verstanden wird (vgl. Deinet 2009).

Dass in Marienfelde Kinder- und Jugendgerechtigkeit mit separiert zugeschriebenen Kinder- und Jugendflächen gleichgesetzt und verwechselt wird, ist ein typisches und weitverbreitetes Problem von Erwachsenen. Es braucht die Sichtweise eines alternierenden Objekt-Subjekt-Einschreibungsprozesses, in welchem Kinder und Jugendliche als handelnde Subjekte verstanden werden, die die Soziale Welt neu formen und gestalten. Auch hier stellen sich Fragen um Definitionsmacht und -hoheit von Aneignungsprozessen. Reicht die Annahme von sozialräumlichen Einschreibungsprozessen in die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen überhaupt aus? (vgl. Hüllemann et al. 2019, 384f.). Aneignung ist ein „wechselseitiger Vermittlungsprozess zwischen Aneignungssubjekt und Aneignungsobjekt“ (ebd.), bei dem der pädagogische Moment der Kinder- und Jugendarbeit im Dazwischen liegen könnte. Kinder und Jugendliche bilden ihre eigene Subjektivität und schreiben sich mit ihren Aneignungsleistungen in die vorgefundene Welt ein (vgl. ebd., 386). Die Marienfelder  Kinder- und Jugendarbeit müsste sich mit ihrem hoheitlichen Auftrag in dieser Gemengelage positionieren und sich institutionsortbefreit selbst in den Sozialraum einschreiben lernen (etwa nächtliche Streifzüge zur ethnografischen Diagnose, operative Angebote im Stadtpark).

Die Angebote nach § 11 SGB VIII tragen bislang einen maßgeblichen Teil zur herrschenden Ordnungsstruktur des Stadtteils bei. Mit der Konstruktion, Jugendarbeit als Hilfe und Unterstützung für sogenannte sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu definieren, beteiligen sie sich an Prozessen des Otherings, die auch in der Sozialen Arbeit konstitutiv sind. „Mit diesem hierarchisch und paternalistisch konstruiertem Bildungsbedarf wird die Notwendigkeit von Bildung im Rahmen der Jugendarbeit legitimiert“ (Riegel 2016, 98). Es bedarf also hier einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung, die einen differenz- und diversitätsbewussten Ansatz ins Zentrum stellt. Die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen sozialen Differenzkategorien und den damit einhergehenden Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnissen (vgl. ebd.) ist Voraussetzung für den Umgang mit sozio-topografischen Differenzlinien im eigenen Stadtteil (Migration, Geschlecht, Konsum).

Schließlich hat die vorliegende Sozialraumanalyse gezeigt, dass die institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur*innen in Marienfelde nur in Ansätzen funktioniert. Wirkt diese vor allem auf operative Planungsebene, fehlt die Auseinandersetzung mit der für die Soziale Arbeit relevanten Frage nach dem sozialen und sozialräumlichen Ordnungssystem bisher gänzlich. Die hier implementierte Sozialraumanalyse als soziale Diagnose (vgl. Spatscheck 2009, 37) kann dabei „helfen, Konzeptionen und Konzepte für Angebote in [...] bildungsbezogenen Dienstleistungen fundierter zu entwickeln“ (Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 180), vor allem selbst-, gesellschafts- und sozialraumkritisch.

Es werden immer wieder Forderungen laut, Kinder und Jugendliche an kommunalen Entscheidungsprozessen zu beteiligen und auf dieser Grundlage kinderfreundliche Lebensräume zu entwickeln (vgl. Hübner 2015, 83). Sozialräumliche Konzepte sind daher nicht nur auf Ebene der Fachkräfte, sondern insbesondere auf der Primärebene der Kinder und Jugendlichen zu implementieren. Entsprechende Formate sollten mit den jungen Marienfelder*innen gemeinsam konzipiert werden. Dabei ist es neben der Erstellung eines sozialräumlichen Konzeptes wichtig, sozialräumliches Arbeiten als normativen Garant von Kinder- und Jugendarbeit zu begreifen. „Die strukturierte und kontinuierliche Form der Wahrnehmung der Vorgänge im Stadtteil erweist sich als Ausgangspunkt einer sozialräumlich orientierten Jugendarbeit.“ (Krisch 2009, 194). Es ist Aufgabe der Öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, regelmäßige Angebote für diese Form der Qualitätsentwicklung zu offerieren und diese darüber hinaus als Markierung von Jugendhilfeplanung nach § 80 SGB VIII festzusetzen. Wichtig anzumerken ist auch hier, dass die Einbeziehung junger Menschen nicht Aufgabe von Jugendverwaltung und -politik allein ist. Vielmehr muss diese verschränkt mit Bau- und/oder Stadtplanung sowie weiteren Akteur*innen stattfinden (Kinderfreundliche Kommunen 2018). Dass Raum als „verinselt und damit als einheitlich und uneinheitlich erfahren wird“ (Löw 2001, 88) ist keine Erkenntnis dieser Sozialraumanalyse. Vielmehr lädt sie dazu ein sich mit der „relationalen (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“ (ebd., 271) von nun an in regelmäßigen Abständen auseinanderzusetzen.

Kinder und Jugendliche in Marienfelde zeigen, dass sozialräumliche Barrieren nicht allein als Hindernisse begriffen werden müssen. Augenscheinlich fehlende oder unattraktive Kinder- und Jugendräume werden als Nadelöhr genutzt, sich mit ihnen ins Verhältnis zu setzen und eigene Interessen herauszuschälen. Barrieren, hier vor allem Zäune, entwickeln sich zu Zuschauer*innen, die von links und rechts auf die sich den Raum aneignenden kindlichen und jugendlichen Subjekte schauen. Sie staunen, welche Potentiale junge Quartiersbewohner*innen beherrschen, um – etwa dank zäher, halbstündiger Fußmärsche –  eigene jugendkulturelle Praktiken in McDonald‘s-Filialen implementieren zu können. An diesen wie Wunder wirkenden Syntheseleistungen könnte sich die Kinder- und Jugendarbeit ein Beispiel nehmen. Sich dem Genuinen der Sozialen Arbeit auf operativer Ebene (vgl. Kreft/Mielenz 2017, 657-661) aufgrund mangelnder Ressourcen oder diffiziler Hürden zu entziehen, kann nicht die Antwort auf das Postulat von Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe sein. Einige der Kinder und Jugendlichen machen es vor: Sie anerkennen die sozialräumlichen Grenzen nicht nur als Gegenhorizont zum Bedarf an eigenen kinder- und gerechten Räumen, sie transformieren diese als einen Teil ihrer jugendkulturellen Praxis selbst. Es ist zu erwarten, dass dieses emanzipative Verständnis von Sozialraum durch die Fachkräfte als Implikation verstanden wird, um den topografisch nicht weg zu diskutierenden Differenzlinien mit Ansätzen einer emanzipativen, politisierenden und streitbaren Kinder- und Jugendarbeit gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen aus Marienfelde zu begegnen.

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Fussnoten

[1] In diesem Beitrag wird der Begriff Sozialraum plural und offen verwendet. Synonyme können sein: Stadtteil, Quartier, Bezirksregion, Gebiet etc.

[2] „Bezirksregion“ ist eine in der Berliner Kinder- und Jugendhilfeverwaltung formulierte Bezeichnung für die Region eines Bezirks. Die Kinder- und Jugendhilfe hat im Jahr 2005 das Konzept der Sozialraumorientierung eingeführt. Die Unterteilung der Bezirke in verschiedene Zuschnitte ermöglicht eine bedarfsorientierte Jugendhilfeplanung nach § 80 SGB VIII. Ein Bezirk besteht aus mehrere Regionen; Regionen wiederrum beinhalten mehrere Bezirksregionen. Die Bezirksregionen schließlich setzen sich aus der kleinsten Messgröße, den Planquadraten, zusammen.

[3] Wenn nicht explizit auf die Unterscheidung zwischen Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden verwiesen wird, impliziert „junge Menschen“ immer alle Menschen zwischen sechs und 27 Jahren, auch wenn von Kindern und Jugendlichen die Rede ist.

[4] Die Gruppendiskussionen hier werden als ein Segment der ethnografischen Forschungsstrategie verstanden, nicht jedoch als einzelne Methode im Sinne der Triangulation.

[5] (Richtwert Spielflächen: 1 m2 Spielfläche pro Einwohner*in, Richtwert Grünflächen: 6 m2 pro Einwohner*in, wohnortnah)

[6] Dass Prävention trotz des lebensweltorientierten Ansatzes (Thiersch 2005) keine Aufgabe von Jugendarbeit ist, wurde mittlerweile hinlänglich geklärt (Lindner 2016). Andernfalls braucht es eine aktive und offene Auseinandersetzung mit Jugendlichen, die trinken, rauchen oder anderweitig durch für Fachkräfte als schwierig deklarierte Verhaltensweise auffallen. Vor allem braucht es eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum Fachkräfte das Verhalten als schwierig bezeichnen und diese sogar exkludieren. Eine erste Auseinandersetzung könnte über den Abschnitt „Prävention: Exklusion eines untauglichen Konzepts für die kooperativ-integrative Pädagogik“ in Hinte/Treeß (2014), 199ff. stattfinden.


Zitiervorschlag

Hübner, Jennifer (2019): Sozialräumliche Konfigurationen und vorkonstruierte Aneignungsmöglichkeiten junger Menschen am Rande einer Großstadt – Ergebnisse einer Sozialraumanalyse in Berlin-Marienfelde. In: sozialraum.de (11) Ausgabe 1/2019. URL: https://www.sozialraum.de/sozialraeumliche-konfigurationen-und-vorkonstruierte-aneignungsmoeglichkeiten-junger-menschen-am-rande-einer-grossstadt.php, Datum des Zugriffs: 02.12.2024