Chillen in der Shopping Mall – neue Aneignungsformen von Jugendlichen in halböffentlichen, kommerziell definierten Räumen

Ulrich Deinet, Sophie Thomas

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Die von der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung (FSPE) [2] in den letzten Jahren in zahlreichen Kommunen durchgeführten Jugendstudien geben immer wieder Hinweise auf die Nutzung kommerzieller Räume sowie deren Bedeutung und Anziehungskraft für Jugendliche. Verglichen und in Bezug gesetzt zu bundesweiten Jugendstudien entsteht so ein Bild einer besonderen Attraktivität kommerzieller Räume für Jugendliche. Jedoch wurde in diesen Vergleichen noch nicht wirklich klar, was den besonderen Reiz dieser Räume genauer ausmacht. Diese Situation war Ausgangspunkt für die Entwicklung der im Folgenden beschriebenen Studie.

Das Forschungsprojekt „Chillen in der Shopping Mall – neue Aneignungsformen von Jugendlichen in halböffentlichen, kommerziell definierten Räumen“ ist eine mehrdimensional angelegte empirische Analyse von Raum(um)nutzung durch Jugendliche in Einkaufszentren. Ziel der Untersuchung soll sein, die Nutzung und Bedeutung von Shopping Malls für Jugendliche aus verschiedenen Perspektiven heraus zu untersuchen und die Rolle der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) in Bezug auf die Räume herauszuarbeiten. Neben dem klaren Fokus, der demzufolge auf der Befragung von Jugendlichen hinsichtlich deren Nutzung der Räume liegt, wurden auch die Perspektiven und Erfahrungen von Sozialpädagog_innen und Sozialarbeiter_innen aus der OKJA sowie eines Sicherheitsbeamten aus einer Mall in den Blick genommen. Die Untersuchung fand an allen fünf Befragungsorten zwischen 2014 und 2016 statt.

In die im Winter 2016 erscheinende Veröffentlichung (Deinet 2016) fließen die Ergebnisse aus allen Datenquellen ein, jedoch wird aufgrund der hohen Datenmenge nur ein kleiner, ausgesuchter Teil des erhobenen Datenmaterials vorgestellt. In diesem Artikel werden exemplarisch Ergebnisse aus der Befragung der Jugendlichen herausgegriffen und zum ersten Mal schriftlich einem Publikum vorgestellt.

Zum methodischen Vorgehen

Kernstück der Befragung der Jugendlichen war ein dreiseitiger Fragebogen, mit dem fast 400 Jugendliche an drei Standorten (Düsseldorf Arcaden, CentrO Oberhausen sowie LEO Center Leonberg) befragt wurden.

Abbildung 1: Soziodemographie (1/3)
Abbildung 1: Soziodemographie (1/3)
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Abbildung 2: Soziodemographie (2/3)
Abbildung 2: Soziodemographie (2/3)
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Abbildung 3: Soziodemographie (3/3)
Abbildung 3: Soziodemographie (3/3)
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Zusätzlich zum Fragebogen wurde ein Teil der Jugendlichen mit einer weiteren Methode befragt, der Nadelmethode (vgl. Nadelmethode im Methodenkoffer sozialraum.de). Hier konnten die Jugendlichen auf einem Plan des Einkaufszentrums mit einer Nadel Orte markieren, an denen sie sich wohl oder unwohl fühlen. Dazu sollten sie jeweils die Gründe auf einen kleinen Zettel schreiben und mit auf den Plan heften. Zusätzlich wurden sie gebeten ihre „Homebase“, also den Ort, an dem sie am liebsten ihre Zeit verbringen, zu markieren. Die Nadelmethode wurde nur in Düsseldorf (92 Befragte) sowie Oberhausen (46 Befragte) durchgeführt. Die Nadelmethode ist eine aktivierende Methode, setzt direkt an den Erfahrungen der Jugendlichen an und liefert sofort graphisch sichtbare und diskutierbare Ergebnisse.

In Einzelfällen wurden weiterhin kurze qualitative Interviews mit den Jugendlichen durchgeführt. Dies waren zum Teil Einzelinterviews, zum Teil Gruppeninterviews. Die Interviews hatten eine Länge von maximal 5 Minuten und orientierten sich thematisch an ausgesuchten Fragen aus dem Fragebogen. Die Aussagen aus den Interviews wurden paraphrasiert und für die Ergänzung der Analyse entsprechend kodiert.

Des Weiteren wurden ausführlichere Leitfadeninterviews mit Personen aus der OKJA in Köln, Düsseldorf, Remscheid, Oberhausen und Leonberg durchgeführt, um deren Einschätzungen zur Bedeutung der Malls für Jugendliche und für die OKJA zu erforschen. Für die Interviews wurden explizit Akteur_innen ausgewählt, welche in der Umgebung von Shopping Centern aktiv sind. Dazu gehörten neben Mitarbeiter_innen in klassischen offenen Jugendeinrichtungen auch Akteur_innen mobiler Angebote sowie Streetworker_innen. Insgesamt wurden aus 10 Projekten (jeweils zwei in Köln, Remscheid sowie Düsseldorf, drei in Oberhausen und eins in Leonberg) insgesamt 14 Mitarbeiter_innen befragt. Zusätzlich wurde in Leonberg die Leitungs- und Steuerungsebene (Bereichsleitung des Trägers sowie Stadtjugendreferentin) interviewt. Als Ergänzung wurde ein Interview mit einem Security-Angestellten in Düsseldorf und einer Person aus dem Jugendamt in Leonberg geführt. Auch die Expert_inneninterviews wurden paraphrasiert und für die Analyse mit dem Datenauswertungsprogramm MaxQDA kodiert.

Die hier vorgestellten Daten wurden an drei Standorten erhoben, die sich nicht nur in ihrer Größe voneinander unterscheiden, sondern auch starke sozialräumliche Unterschiede aufweisen.

Ergebnisse der Jugendbefragung

Die Gründe für die Attraktivität von Malls sind unterschiedlich. Die Jugendlichen werden in erster Linie von besonderen Merkmalen der Läden angezogen: die Auswahl, der Style oder die Qualität der Waren. Einkaufen ist jedoch für Jugendliche nicht der einzige wichtige Grund, eine Mall zu besuchen. Fast genauso oft wird jedoch genannt, dass sie dort hingehen, weil es etwas umsonst gibt (z. B. Wasser im Drogerie Markt, WLAN im Media Markt, etc.) oder man „Sachen ausprobieren“ kann (Kleidung in Modeläden, Computerspiele, Bücher, etc.). Dies scheint ein sehr wichtiger Grund für viele Jugendliche für den Aufenthalt in der Mall zu sein. Jugendliche passen sich den Gegebenheiten an, schätzen die Sicherheit und verändern die Situationen so für sich, dass ein neuer „Raum“ für sie entsteht.

Jugendliche sind in der Lage, gesellschaftliche Orte, wie Shopping Malls etc. auf ihre eigene Weise zu (be)leben, d. h. neben deren offizieller Funktion ihr jugendliches Leben zu entwickeln und sich eigene Räume anzueignen (Deinet 2014). Dies gelingt durch Umwidmung, Veränderung, Verknüpfung von Räumen und Situationen. In diesen „neuen“ Räumen finden auch informelle Lernprozesse statt. Dabei geht es immer auch um „Jugendkulturen“ und um kulturelle Aneignungspraxen.

Nutzung von Räumen

Im Rahmen der Nadelmethode wurden durch die Jugendlichen verschiedene räumliche Orte angegeben, an denen sie sich bspw. gern und/oder häufig aufhalten. Gerade Cafés, Restaurants und Imbisse sind für viele Jugendliche in der Mall eine, in ihrer Sprache, „Homebase“. Damit sind jene Orte gemeint, an denen sich Cliquen treffen und von denen aus weitere Aktivitäten unternommen werden.

 
Abbildung 4: Nadelmethode – Restaurants, Imbisse und Cafés
Abbildung 4: Nadelmethode – Restaurants, Imbisse und Cafés
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Die Attraktivität dieser Orte lässt sich nicht allein durch das kulinarische Angebot erklären – auch wenn es eine große Rolle spielt. In der Nadelmethode wird das Essensangebot in der Kategorie: „beliebte Orte“ von insgesamt 73 Jugendlichen (also 53%) in Oberhausen und Düsseldorf als Grund für den Aufenthalt genannt („lecker Essen“, „viele Essensmöglichkeiten“, „weil es dort am besten schmeckt“). Die Imbisse in Einkaufszentren – und allen voran McDonald´s – scheinen also sehr genau den Geschmack der Jugendlichen zu treffen. Nicht mal 5% der Jugendlichen erklären in der Nadelmethode, dass sie das Essen an diesen Orten nicht mögen. Aber nicht nur der Geschmack des Essens spielt eine Rolle, sondern auch der sogenannte Fame (deutsch: Ruhm), der Style und die Peerorientierung. Peter Noack stellt fest, dass auch attraktive Gleichaltrige dazu beitragen können, dass man Engagement für etwas zeigt, was de facto außerhalb des eigenen Interessenbereichs liegt (2008: 298).

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Imbisse als Treffpunkte dienen sowie zum „Chillen“ und „Leute kennenlernen“ genutzt werden. Immerhin 27,5% der befragten Jugendlichen geben an, die Imbisse als Treffpunkt, zum „Chillen“ oder wegen der Atmosphäre aufzusuchen. In den Düsseldorf Arcaden wird besonders deutlich, warum die Jugendlichen McDonald´s als Treffpunkt wählen: es liegt direkt am Eingang zu den Arcaden, man kann also alle Menschen beobachten, die rein- und rausgehen. „Ne, ich finde das hier eigentlich sehr gut. Sowieso, wie das aufgebaut ist, dass da vorne direkt McDonald´s ist“ (Interview Jugendliche J6, Düsseldorf: 1). Außerdem gäbe es dort Sitzgelegenheiten. Auch im CentrO ist die Coca-Cola Oase, ein großer Bereich mit vielen Imbissen und Restaurants, direkt an einem der Eingänge gelegen.

Läden und Geschäfte sind für die Jugendliche natürlich spannende und oft besuchte Orte. Jedoch unterscheiden die Jugendlichen dabei sehr deutlich zwischen den Geschäften, die sie für angesagt und ihrem Alter angemessen halten, und solchen, bei denen das nicht zutrifft.

Abbildung 5: Nadelmethode – Läden und Geschäfte
Abbildung 5: Nadelmethode – Läden und Geschäfte
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Die Gründe für die Attraktivität dieser Orte sind unterschiedlich. Die Jugendlichen werden in erster Linie von besonderen Merkmalen der Läden angezogen: die Auswahl, der Style oder die Qualität der Waren. Dies wurde in 77,5% der Fälle als Grund für den Aufenthalt an diesen Orten genannt. Wenig verwunderlich ist, dass viele einfach zum Einkaufen dorthin kommen (42 Nennungen, also 30%). Fast genauso oft wird jedoch genannt, dass sie dort hingehen, weil es etwas umsonst gibt (Wasser im dm-Drogerie Markt, WLAN im Media Markt) oder man Sachen testen kann (Kleidung in Modeläden, Computerspiele, Bücher, etc.). Dies scheint ein sehr wichtiger Grund für viele Jugendliche für den Aufenthalt in der Mall zu sein. Viele Jugendliche können sich die Produkte in der Mall nicht leisten, aber sie können an der Warenwelt teilhaben, indem sie die Produkte ausprobieren.

Dadurch entsteht zwangsläufig ein Interessenkonflikt zwischen der Mall bzw. den Geschäften und den Jugendlichen: die Umsonstangebote sollen ja einen Service für diejenigen darstellen, die auch etwas kaufen wollen. Gleichzeitig gibt es Jugendliche, die sich quasi auf die Umsonstangebote „spezialisiert“ haben. Sie können ihren ganzen Tag in der Mall verbringen, ohne dabei Geld auszugeben. Den Jugendlichen fällt dieser Interessenskonflikt auf, zwei Mädchen sagen im Interview: „Das andere Mal hat man uns hier rausgeworfen, weil wir hier rumgelaufen sind und nichts gekauft haben, weil, weiß ich auch nicht...“ (Interview Jugendliche J12, Düsseldorf: 2).

Weitere wichtige Orte für Jugendliche sind auch im Außenbereich der Shopping Center zu finden – dies ist jedoch nur in Düsseldorf der Fall, nicht in Oberhausen oder Leonberg. In Düsseldorf geben 25% der Jugendlichen an, ihren Lieblingsort auf dem Außengelände zu haben, in Oberhausen wird das Außengelände nur von einer Person genannt, obwohl es deutlich größer und auf den ersten Blick auch für Jugendliche attraktiver scheint. So gibt es in Oberhausen einen Freizeitpark, ein Kino und eine Konzerthalle, während es in Düsseldorf einen Spielplatz, Treppen und ein kommunales Schwimmbad gibt. Hier zeigt sich jedoch, in welcher Form sich Jugendliche Räume aneignen. In Oberhausen ist die Nutzung des Außengeländes klar vorgeschrieben. Es gibt – bis auf wenige Ausnahmen – keine Möglichkeiten einer Umnutzung oder Umdeutung. Die kleinen Grünflächen am Kanal sind von Vögeln beschlagnahmt und es gibt kaum eine Sitzmöglichkeit jenseits von Restaurants. Der Außenbereich in Oberhausen ist vollkommen kommerzialisiert, wodurch viele Jugendliche ausgeschlossen werden. Der Außenbereich der Düsseldorf Arcaden wird hingegen von den Jugendlichen umgenutzt. Sie „chillen“ auf den Treppen vor oder neben den Arcaden oder auf dem Spielplatz. Dort treffen sie auch ihre Freund_innen, essen oder verbringen anderweitig ihre Zeit.

Abbildung 6: Nadelmethode – Orte außerhalb des Shopping Centers
Abbildung 6: Nadelmethode – Orte außerhalb des Shopping Centers 
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Das Außengelände ist jedoch sowohl in Düsseldorf als auch in Oberhausen für viele Jugendliche auch ein unangenehmer Ort. Während in den Einkaufszentren alles sauber, ordentlich und überschaubar ist, kommen die Jugendlichen außerhalb mit Dingen in Berührung, die für sie bedrohlich wirken. Viele Jugendliche meiden den Außenbereich, weil es dort „zu viele Junkies“, „Scheißleute“, oder „Prügeleien“ gebe. Es sei dort „dreckig“ oder „unhygienisch“, es gebe „zu viele Assis“ und „zu viele Leute, die betteln“ (alle Zitate aus der Nadelmethode). All dies gibt es in der – künstlich hergestellten– „heilen“ Welt der Einkaufszentren nicht, weil diese Personengruppen vom Sicherheitsdienst vertrieben werden. Aus dieser Perspektive zeigt sich wiederum, warum die Malls für Jugendliche so attraktiv sind: sie finden dort ein Setting, in dem sie keine Angst haben müssen.

Shoppen, Freunde treffen, Chillen und Essen: Gründe für den Aufenthalt in der Shopping Mall

Im Fragebogen wurden die Jugendlichen gefragt, was der Hauptgrund für ihren Besuch im Einkaufszentrum sei. Obwohl es keine vorgegebenen Antwortmöglichkeiten gab, lassen sich die Ergebnisse leicht kategorisieren. Dabei wurde bei Nennung von mehreren Gründen jeweils der erste Grund verwendet.

Abbildung 7: Tätigkeiten in der Shopping Mall
Abbildung 7: Tätigkeiten in der Shopping Mall
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Shoppen ist natürlich DIE Beschäftigung in der Shopping Mall, nur 5,4% der Jugendlichen geben an, niemals zu shoppen. Im Rahmen der Untersuchung wurde deutlich, dass die Jugendlichen gedanklich einen Unterschied zwischen einkaufen (tatsächlichem Geldausgeben) und shoppen (Stöbern, anprobieren, rumgucken) machen. Hier beziehen wir uns auf eine Ausdifferenzierung wie Bernd Falk sie macht, dieser versteht unter einkaufen primär eine Abarbeitung einer konkreten Einkaufsliste, während shoppen „mehr von einem ungefähren Wunsch oder Verlangen getrieben" sei, nach etwas Ausschau zu halten, was gekauft oder gebraucht werden könnte „um ein noch ungestilltes, jedoch waches Verlangen nach Erfüllung oder Identität zu befriedigen“ (1982: 241).

Auch wenn shoppen der Hauptgrund ist, weshalb Jugendliche ins Einkaufszentrum kommen (90% der Jugendlichen geben an, häufig oder ab und zu einzukaufen, wenn sie die Mall besuchen), so gibt es für Jugendliche zwei weitere wichtige Gründe für den Mall-Besuch: Freund_innen treffen (geben fast 90% der befragtem Jugendlichen an) und „chillen“ (geben ca. 80% der befragten Jugendlichen an).

Im Fragebogen geben die Jugendlichen an, in Gruppen von durchschnittlich 3,8 Personen im Einkaufszentrum unterwegs zu sein. Dieser Wert ist in allen untersuchten Einkaufszentren gleich. Mädchen sind insgesamt in größeren Gruppen unterwegs als Jungen (4,4 gegenüber 3,4 Personen). Dementsprechend gibt auch ein Großteil der Befragten an, das Einkaufszentrum mit ihrer Clique oder mit einem Freund/einer Freundin zu besuchen. Deutlich weniger Jugendliche kommen mit ihrer Familie, fast niemand besucht das Shopping Center alleine.

Auf Platz drei der Top-Tätigkeiten in der Shopping Mall steht „chillen“. Es wäre verkürzt, „chillen“ mit Nichtstun gleichzusetzen. „Chillen“ kann auch mit Aktivität verbunden sein – es handelt sich dabei jedoch um selbstbestimmte Aktivitäten. So kann „chillen“ auch heißen, durch das Einkaufszentrum zu laufen oder zu reden.

Abbildung 8: Bedeutung des Begriffs „chillen“
Abbildung 8: Bedeutung des Begriffs „chillen“
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In einem Interview wird uns erzählt was „chillen“ bedeute:
B1: Ja hier so rumgehen, Sachen angucken.
I: Was ist denn „chillen“?
B1: Lästern. Alles Mögliche.
B2: Lachen, lästern.
(Interview Jugendliche J12, Düsseldorf: 1)

„Chillen“ ist dementsprechend die Tätigkeit, die die Jugendlichen machen, wenn die anderen Tätigkeiten erfüllt sind (Schule, Einkaufen, Hausaufgaben) oder wenn sie keine Lust auf diese anderen Tätigkeiten haben.

B1: Ja, dann gehen wir so shoppen und wenn wir dann fertig sind mit shoppen, also wenn wir kein Geld mehr haben so, dann setzen wir uns irgendwo hin und „chillen“, Handy und so.
I: „Chillen“, was meint das genau?
B1: Ja, so hinsetzen, einfach ausruhen.
B2: Ja, relaxen und so.
I: Und warum macht ihr das nicht zu Hause?
B1: Weil, hier sind mehr Leute.
B2: Ja, das ist langweilig.
B1: Das ist langweilig und hier sieht man mehr Leute und so.
(Interview Jugendliche J21, Oberhausen: 1)

Hier zeigt sich deutlich, dass „chillen“ mehr ist als nur rumhängen. „Chillen“ ist ganz offensichtlich eine soziale Tätigkeit, die man auch im öffentlichen Raum durchführen kann. Es beinhaltet den Kontakt zu anderen Menschen, hier in erster Linie natürlich zu Jugendlichen und ganz besonders zu Freund_innen. Wie oben bereits beschrieben beinhaltet chillen nur für 10% der Jugendlichen alleine zu sein, für 85% bedeutet es, Freund_innen zu treffen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, weshalb Jugendliche in die Shopping Mall kommen, sind die Cafés und (Fast-Food-) Restaurants – allen voran McDonald´s. Die Cafés und Restaurants sind für die Jugendlichen aus mehreren Gründen wichtig: sie verbringen dort häufig ihre Mittagspause. Immer mehr Jugendliche haben Ganztagsunterricht, wodurch sie eine billige und nahgelegene Essensmöglichkeit brauchen. Dieser Grund ist ganz besonders wichtig in Leonberg, wo das LEO Center im Stadtzentrum liegt und eine große Anzahl von Schulen in der direkten Nachbarschaft angesiedelt sind. Auch in die Düsseldorf Arcaden kommen Schüler_innen in der Mittagspause, wenn auch aufgrund der vielfältigen anderen Angebote weniger oft als in Leonberg. Das CentrO liegt sehr weit von den meisten Schulen entfernt und eignet sich daher nicht als „externe Schulmensa“. Der zweite Grund ist aber, dass die Jugendlichen in den Cafés und Restaurants Zeit verbringen und andere Jugendliche treffen und/oder beobachten können.

Nutzung von Jugendangeboten durch die Befragten

Viele der Jugendlichen meiden die befragten Jugendzentren in der Umgebung – viele kennen die Einrichtungen nicht einmal. Drei Viertel der Jugendlichen gehen nie in Jugendzentren oder Jugendtreffs.

Abbildung 9: Tätigkeiten in der Freizeit allgemein
Abbildung 9: Tätigkeiten in der Freizeit allgemein
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Die Nutzung der Angebote der aufsuchenden Jugendarbeit ist sehr unterschiedlich. In Oberhausen wurde das CentrO in den vergangenen Jahren nur einmal vom Manni-Mobil (mobile Jungenarbeit) und der Flotten-Lotte (mobile Mädchenarbeit) besucht. Manni-Mobil erreichte damit knapp 8% der Jungen, die Flotte-Lotte 4% der Mädchen. Viele Besucher_innen des CentrO kommen jedoch von außerhalb angereist und bilden nicht die direkte Zielgruppe der OKJA, die sich eher auf die Jugendlichen vor Ort konzentriert.

Da die Arcaden in Düsseldorf deutlich stärker in den Stadtteil eingebunden sind, verwundert es nicht, dass die Nutzung der pädagogischen Angebote durch die Jugendlichen hier deutlich höher ist. Zwei Sportangebote, der Sport Action Bus und die Bolzplatzhelden, werden von jeweils 22% der Jugendlichen genutzt. Das mobile Angebot der Jugendfreizeiteinrichtung (JFE) in der Suitbertusstraße kennen immerhin 14%. 11% der Befragten geben an, die JFE Suitbertusstraße auch zu besuchen.

Abbildung 10: Tätigkeiten in der Freizeit Düsseldorf
Abbildung 10: Tätigkeiten in der Freizeit Düsseldorf
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Am meisten werden aber die Angebote LeoChill und LeoAction im LEO Center genutzt. Diese unterscheiden sich von den vorher genannten dadurch, dass sie innerhalb der Mall angeboten werden und auf einer engen Kooperation zwischen Centermanagement und der OKJA beruhen. LeoChill, das zweimal monatlich angeboten wird, wird von 49% der Jugendlichen genutzt. LeoAction findet einmal im Monat statt und erreicht immerhin 32% der Jugendlichen. Die Zahlen zeigen, dass die Angebote der OKJA von den Jugendlichen in Leonberg stark wahrgenommen und auch genutzt werden. Keines der anderen Angebote in Oberhausen oder Düsseldorf konnte eine annähernd hohe Prozentzahl von Bekanntheit und Nutzung aufweisen.

Abbildung 11: Tätigkeiten in der Freizeit Leonberg
Abbildung 11: Tätigkeiten in der Freizeit Leonberg
Abbildung 11: Tätigkeiten in der Freizeit Leonberg
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Offene Jugendarbeit und Shopping Malls

Vor dem Hintergrund der veränderten Ausgangsbedingungen des Aufwachsens scheinen Jugendliche heute neue (kommerzielle) Räume als Freizeit-, Ausweich- oder Rückzugsräume zu nutzen. Fastfood-Ketten wie McDonalds aber auch die Shopping Malls gehören dabei zu den bevorzugten Räumen von Kindern und Jugendlichen (in den klassischen öffentlichen Räumen wie Parks, Innenstädten etc. konkurrieren sie mittlerweile mit der wachsenden Gruppe von Senioren, die dort allseits präsent und wirkmächtig ist).

Für die Soziale Arbeit aber auch für die Bildungsinstitutionen ist bezüglich der eigenen Positionierung und der Platzierung von Angeboten besonders relevant, die Bedeutung dieser „neuen“ Räume der Jugendlichen und ihr Verhalten zu verstehen und daraus entsprechende fachliche Rückschlüsse zu ziehen. Die überschaubare bislang geringe Anzahl von sozialpädagogischen Projekten in diesen Räumen (z. B. Mobile Jugendarbeit) verdeutlicht die Distanz zwischen den professionellen Fachkräften und den (häufig als reine „Konsumtempel“ betrachteten) Shopping Malls und weiteren kommerziellen Orten. Die Attraktivität dieser Räume für Jugendliche hingegen macht es jedoch erforderlich, weitere Forschungen zu betreiben, die deren Qualitäten (und die entstehenden Probleme) stärker unter die Lupe nehmen, um das Verhalten der Kinder und Jugendlichen in diesen „neuen“ Räumen besser zu verstehen und aktuelle Raumaneignungsstrategien zu rekonstruieren um daraus fachliche Konsequenzen für die Soziale Arbeit zu ziehen.

Die durch solche Zugänge freiwerdenden Dimensionen und Möglichkeiten konnten in diesem Beitrag im Überblick angedeutet werden. In der längeren Buchfassung (Deinet 2016) sollen Überlegungen hierzu weiter ausgeführt. Anhand von drei Fallbeispielen aus der OKJA werden im letzten Teil der Studie auch exemplarische pädagogische Zugänge zu Shopping Malls beschrieben und die Realität der Jugendarbeit im Kontext von Shopping Malls illustriert. Hier werden die innovativen Konzepte zur Aufsuchenden Arbeit in den Räumen des LEO Center, Interventionsmodelle zur Konfliktbewältigung durch Streetwork im Allee-Center Remscheid sowie die Mobile Arbeit an den Köln Arcaden ausführlicher beschrieben. Aus der Analyse dieser Beispiele werden kreative und innovative Zugänge der Jugendarbeit sichtbar, die orientierend für weitere Projekte in diesem Bereich sein könnten.

Quellen

Deinet, Ulrich (2014): Das Aneignungskonzept als Praxistheorie für die Soziale Arbeit. In: sozialraum.de (6) Ausgabe 1/2014. URL: http://www.sozialraum.de/das-aneignungskonzept-als-praxistheorie-fuer-die-soziale-arbeit.php, Datum des Zugriffs: 17.08.2016.

Deinet, Ulrich (Hrsg.) (2016): Jugendliche und die „Räume“ der Shopping Malls – Herausforderungen für die Offene Jugendarbeit. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich (Reihe: Soziale Arbeit und Sozialer Raum, Band 4) (geplant für Winter 2016).

Falk, Bernd (Hrsg.) (1982): Einkaufszentren. Planung, Entwicklung, Realisierung und Management. Landsberg am Lech: Verlag Moderne Industrie.

Legnaro, Aldo/Birenheide, Almut (2005): Stätten der späten Moderne. Reiseführer durch Bahnhöfe, Shoppingmalls, Disneyland Paris. Wiesbaden: VS Verlag (Erlebniswelten, Bd. 6).

Noack, Peter (2008): Freizeitorte und Freizeitaktivitäten. In: Silbereisen, Rainer/Hasselhorn, Marcus (Hrsg.): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Göttingen: Verlag für Psychologie, 291-323.


Fussnoten

[1] Kurzfassung aus der Publikation: Ulrich Deinet (Hrsg.) (2016): Jugendliche und die „Räume“ der Shopping Malls – Herausforderungen für die Offene Jugendarbeit. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich (Reihe: Soziale Arbeit und Sozialer Raum, Band 4), Winter 2016.

[2] Forschungsstelle am Fachbereich für Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf, weitere Informationen unter http://soz-kult.hs-duesseldorf.de/fspe


Zitiervorschlag

Deinet, Ulrich und Sophie Thomas (2016): Chillen in der Shopping Mall – neue Aneignungsformen von Jugendlichen in halböffentlichen, kommerziell definierten Räumen. In: sozialraum.de (8) Ausgabe 1/2016. URL: https://www.sozialraum.de/chillen-in-der-shopping-mall-neue-aneignungsformen-von-jugendlichen-in-halboeffentlichen-kommerziell-definierten-raeumen.php, Datum des Zugriffs: 29.03.2024