Die Bibliothek im Sozialraum des Stadtteils – vertraute Strukturen, neue Herausforderungen und konzeptionelle Neupositionierungen

Dieter Brinkmann, Lucas Cramer

1. Ein Auftakt

Die Öffentliche Bibliothek ist in einem starken Wandel. Dies hängt mit einer voranschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft und veränderten Nutzungsgewohnheiten zusammen. Die Grundfunktion der Versorgung mit Informationen und Medien erscheint heute angesichts der weltweiten Verfügbarkeit von Daten und des vergleichsweise leichten Zugangs über das Internet weniger gefragt zu sein als noch vor einigen Jahren. Die klassische Bibliothek als Institution leidet an einem starken Funktions- und Legitimationsverlust. Zugleich zeichnen sich neue Aufgaben in einer diversen Stadtkultur ab. Die Bibliothek kann durchaus neben anderen gesellschaftlich bedeutsamen Orten als sozialer Treffpunkt, als Kristallisationspunkt einer Gemeinwesenarbeit im Sozialraum des Stadtteils fungieren und im Rahmen einer aktiven Freizeitgestaltung neue Perspektiven entwickeln. Darum dreht sich der folgende Beitrag, der den Funktionswandel mit Blick auf den Sozialraum des Wohnumfeldes ausloten und neue Herausforderungen, aber auch die Chancen einer veränderten Bibliotheksarbeit nachzeichnen soll. Hintergrund ist ein qualitativ-erkundendes Forschungsprojekt im Cluster Lebensqualität an der Hochschule Bremen (Freericks/Brinkmann/Herfort 2023). Und in die aufgestellten Thesen fließen ebenfalls die Analysen der Abschlussarbeit „Alte Akteurin auf der Suche nach neuen Aufgaben“ an der Hochschule Bremen im dualen Studiengang Soziale Arbeit B.A. ein (vgl. Cramer 2023).

Was kennzeichnet die „neue Bibliothek“? Welche Möglichkeiten eröffnen sich durch eine Umorientierung? Wie muss sie gestaltet sein? Wie kann man die Bürgerinnen und Bürger an der Bibliotheksentwicklung beteiligen? Und welche theoretischen Modelle bieten sich zur Einordnung einer Neuausrichtung der Bibliotheksarbeit an? Viele Fragen erscheinen wichtig, hat man zunächst einmal den grundsätzlichen Strukturwandel akzeptiert. Insbesondere im Nahraum des Stadtteils realisiert sich, ob die Öffentliche Bibliothek durch neue Strategien, eine veränderte Angebotspalette und angepasste Kompetenzprofile für die Mitarbeitenden die Bürgerinnen und Bürger neu begeistern kann. Im Zeitalter der Digitalisierung einen Kontrapunkt für Begegnung, Kommunikation und Kooperation zu setzen, ist das neue Ziel. Praktische Bezugspunkte für den Beitrag bietet die Bibliothek im Bremer Stadtteil Huchting. Ein Blick auf den Alltag dort vermittelt einen lebensnahen Eindruck der sozialraumbezogenen Sozialen Arbeit in einer reformfreundlichen Institution und lässt die soziokulturellen Herausforderungen erkennen, denen sich Bibliotheksmitarbeitende heute stellen müssen. Die „alte Institution“ ist auf dem Weg, und das könnte ein spannendes Abenteuer werden - für alle Beteiligten.

Alltag in der Stadtteilbibliothek Huchting

Es ist Freitagnachmittag in der Stadtbibliothek Huchting. Eine Mutter mit zwei Kindern betritt zum ersten Mal die Bibliothek, um Bibliotheksausweise für ihre Kinder erstellen zu lassen. „Psst, ihr müsst hier ganz leise sein“, sagt die Mutter beim Betreten der Bibliothek und legt sich einen Finger an den Mund. Die Kinder erwidern die Geste und nicken eifrig. Leise gehen sie zur Servicetheke. Eine Bibliotheksmitarbeiterin, die die Szene mitbekommt, begrüßt die Familie freundlich. Sie spricht dabei in normaler Gesprächslautstärke. Sie erklärt der Familie die Regeln der Bibliothek und fragt, was sie gerade in dem Raum sehen und beobachten können.

Die Familie schaut sich um und sieht, dass die Bibliothek belebt ist. Aus fast allen Ecken hört man Stimmen. Einige Jugendliche und ein älterer Mann teilen sich die Bildschirme der PC-Arbeitsplätze. Während die Jugendlichen hörbar Spaß im Internet haben, trägt der ältere Herr Kopfhörer und arbeitet konzentriert am Computer. Am Kopierer unterstützt eine Besucherin eine andere beim Ausdrucken mehrerer Dokumente. Mehrere Lerngruppen unterschiedlichen Alters sind an den Tischen verteilt. Plötzlich geht die Tür des Veranstaltungsraums auf, das Bilderbuchkino ist zu Ende und zwölf Kinder kommen schnellen Schrittes in die Bibliothek. Sie suchen ihre Eltern, die sich über die Bibliothek verteilt haben, Kaffee trinken, sich austauschen oder gerade eine ruhige Phase ohne Kind genossen haben. Die Familie dreht sich wieder zur Bibliotheksmitarbeiterin um und teilt ihre Beobachtungen mit. Die Mitarbeiterin erklärt, dass es sogar erwünscht sei, sich in der Bibliothek zu unterhalten und miteinander zu reden, solange es die anderen Gäste nicht störe – totale Stille ist Vergangenheit.

2. Theorie des Sozialraums: Klassiker und neue Sichtweisen

Ein sozialraumorientiertes Paradigma ist heute in vielen Bereichen zu finden: Soziale Arbeit, Gesundheit und Bildung. Hierbei geht es um bestimmte, wertorientierte Haltungen, eine Orientierung am überschaubaren Nahraum des Quartiers oder der Nachbarschaft und der Berücksichtigung der subjektiven Sichtweisen der Bewohnerinnen und Bewohner (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 12f.). Der Sozialraum hat in diesem Verständnis:

Wichtig erscheint ein „relationales Verhältnis“ von Menschen und Dingen. Dies macht die „Lebenswelt“ einer überschaubaren Gruppe von Menschen aus. Hinzu kommt das Bewusstsein eines möglichen und tatsächlichen Wandels des sozialen Umfeldes im Kontext großer gesellschaftlicher Dynamiken (z. B. dem demografischen Wandel) und der aktiven Gestaltungsmöglichkeit durch Partizipation der Bewohnerinnen und Bewohner eines Gemeinwesens und eine Kooperation mit professionellen Akteuren. Aus der Sicht der sozialrauminspirierten Theorie der Sozialen Arbeit ergeben sich viele Möglichkeiten einer konzeptionellen Neuorientierung in einem weiten Feld (Soziale Arbeit, Gesundheit, Bildung), nicht nur, aber auch, in der Gemeinwesenarbeit. Übergreifend lassen sich folgende Prinzipien eines Sozialraum-Paradigmas ausmachen:

Wie können diese allgemeinen Prinzipien für soziale Dienstleistungen auf die Bibliothek übertragen werden? Eine Bibliothek arbeitet in der Regel nicht fallorientiert, wie etwa ein Teil der Kinder- und Jugendhilfe. Sie ist „fallübergreifend“ (Nutzergruppen) oder noch eher „fallunspezifisch“ (für alle) angelegt. Allerdings ist, wie in Archiven oder bestimmten musealen Ausstellungen eine starke „Materialorientierung“ erkennbar – eben an den Büchern oder den Medien im weitesten Sinne. Sich hiervon ein Stück zu lösen, sich den Bedürfnissen der Menschen im Stadtteil zuzuwenden, erscheint als die eigentliche Herausforderung.

Eine ressourcenorientierte, partizipative Haltung ist in einem soziokulturellen Ansatz verwurzelt (s. Kap. 4) und findet sich auch in kultur- und medienpädagogischen Fachtraditionen. Dies gilt es in der Bibliothek zu stärken, und auch mit einiger Bescheidenheit zu sagen: Die Nutzerinnen und Nutzer bringen schon viel Wissen und eigene Möglichkeiten mit. Diese Singularitäten sichtbar zu machen und in kokreative Ansätze zu transformieren, ist eine lohnende Aufgabe.

Die Übernahme von Verantwortung für die Lebensqualität im Gemeinwesen erscheint als ein zentraler Aspekt einer umfassenden Neubestimmung des Zielsystems. Gemeinsam mit Bürgergruppen zu arbeiten, ein partizipatives, offenes Konzept zu verfolgen, ist herausfordernd und vergleichsweise unbestimmt: Welche Krise kommt als nächstes? Welche Konflikte zwischen verschiedenen Interessengruppen sind zu erwarten? Und wie können langfristig Resilienzen im Stadtteil gestärkt werden? Eine Kooperation mit verschiedenen anderen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren im Stadtteil liegt nahe und könnte noch weiter intensiviert werden. Insgesamt erscheint eine Sozialraumorientierung in der Bibliothek von einem Zusammenspiel auf unterschiedlichen Ebenen geprägt und stellt ein mehrdimensionales Unterfangen dar, z. B. im Zusammenspiel von professionellen und ehrenamtlichen Akteuren, Besuchergruppen und relevanten Behörden. Weitere allgemeine Aspekte nach Spatscheck und Wolf-Ostermann erscheinen ebenfalls sinnvoll auf die Bibliothek übertragbar:

Der dynamische soziale Wandel in vielen Stadtteilen nötigt zu einer offenen und veränderungsbereiten Haltung einer „lernenden Organisation“ Stadtbibliothek. Vorschnelle, klischeehafte Verallgemeinerungen über das bedingende soziale Umfeld und eine pauschalisierende „Homogenisierung“ der Menschen im Sozialraum gilt es auch für die Bibliothek und ihre Deutungen des Sozialraums zu vermeiden. Die relevanten Kontexte zeigt die Netzwerkgrafik zum Sozialraum der „Bibliothek 2030“ aus dem Projekt „Die Bibliothek als soziokulturelles Zentrum“ (vgl. Abbildung 1).

Sozialraum der Bibliothek im Stadtteil

Abbildung 1: Sozialraum der Bibliothek im Stadtteil (Quelle: Freericks/Brinkmann/Herfort 2023, 10)

Der Sozialraum wird neu vermessen, die Umbrüche nötigen die Bibliothek, ihre Konzepte auf den Prüfstand zu stellen. Dabei erscheinen drei „Bilder“ der Stadt von Bedeutung:

Die Bibliothek erscheint im Schnittpunkt dieser drei Perspektiven der Sozialraumentwicklung zu stehen. Sie ist Betroffene des Wandels, aber zugleich auch Akteur und Motor der Veränderung. Dabei kann an andere raumbezogene Analysen und Strategien älterer Art angeknüpft werden. Sie werden mit den Begriffen „Dritter Ort“ und „Soziokultur“ belegt.

3. „Dritter Ort“ als leitende Entwicklungsmetapher für Bibliotheken

Für die Aktivierung und Erschließung des Sozialraums steht heute in vielen Praxisfeldern die Metapher „Dritter Ort“ (vgl. Oldenburg 1999). So auch in den Öffentlichen Bibliotheken. Mehr Lebensqualität, mehr an Kommunikation und Stärkung des Gemeinschaftsgefühls sind Aspekte, die damit verbunden werden. Die Aufwertung öffentlicher Räume, jenseits der beruflichen Sphäre der Arbeitswelt und dem privaten Rückzugsraum der eigenen Wohnung, ist das erklärte Ziel des Modells.

Die Idee des amerikanischen Politikwissenschaftlers Ray Oldenburg, zur Entwicklung der Lebensqualität in den Städten sog. „Third Places“ (Dritte Orte) in den Blick zu nehmen (1999), wird in der deutschen Bibliothekslandschaft aber auch darüber hinaus breit rezipiert. Das Jahrbuch Kulturpolitik 2019/20 mit dem Rahmenthema „Heimat als kulturpolitische Herausforderung“ widmete dem Aspekt „Dritter Ort“ mehre Beiträge (vgl. Sievers et al. 2020). Bibliotheken überschreiben ihre neuen Konzepte mit diesem Begriff oder identifizieren damit bestimmte Teilaufgaben, nämlich Begegnungsort, informeller Treffpunkt oder das „Wohnzimmer der Stadt“ zu sein. Weitere Kultureinrichtungen liebäugeln mit der gar nicht mehr so brandneuen Idee und verbinden damit Hoffnungen auf eine stärkere Publikumsorientierung und ein Absenken der gegenüber Institutionen der Hochkultur empfundenen Hemmschwellen.

3.1 Freizeitraum und Mythos

Der „Dritte Ort“ steht für Treffpunkte im öffentlichen Raum und bezeichnet nach Oldenburg einen dritten Lebensbereich neben der eigenen Wohnung (erster Ort) und der Arbeitsstätte (zweiter Ort). Er entwickelt also eine Art Freizeittheorie vom Raum und der Funktion des Raumes her. Freizeit, so könnte man denken, ist zunächst eine zeitliche Kategorie, also eine ‚Restzeit‘, abgegrenzt von beruflicher Arbeit oder sonstigen Verpflichtungen. Sie wird zu einem großen Teil in der eigenen Wohnung verbracht, und Mediennutzungen spielen dabei heute eine zentrale Rolle. Außerhalb der eigenen „vier Wände“ gibt es die Möglichkeit, sehr unterschiedlichen Freizeitinteressen nachzugehen, sich gemeinsam mit anderen zu treffen, Kultur- und Freizeitprogramme wahrzunehmen, sich weiterzubilden oder verschiedene Erlebnisbereiche der entwickelten Konsumgesellschaft mit Gastronomie, Shopping oder Unterhaltung zum eigenen Vergnügen und zur persönlichen Entwicklung zu nutzen. Der Blick von Oldenburg scheint auf eine bestimmte Art der Zeitverwendung gerichtet: auf das regelmäßige Aufsuchen bestimmter Treffpunkte sowie auf informelle Kontakte und damit fast schon eine nachbarschaftliche Form der Vergemeinschaftung. Was sind mögliche „Dritte Orte“? Der kleine Laden, die Tankstelle, der Buchladen, der Friseur - oder auch die Bibliothek?

Es geht eher um die alltägliche Freizeit, weniger um herausragende Events oder Szeneaktivitäten. Gleichwohl müssen diese Orte nicht um die Ecke liegen. In einer mobilen Gesellschaft können sie auch über eine Stadt verteilt sein. Aber als touristische Orte, an die man reist, um irgendwann mit Eindrücken und Kontakten zurückzukehren, sind sie offenbar auch nicht konzipiert. Wo gibt es also diese informellen Treffpunkte? Was passiert dort? Und wie wichtig sind sie für eine Gemeinschaftsbildung?

Hier setzt eine Mythenbildung ein, die im Kern eine Idealisierung informeller Begegnungsräume im lokalen Nahraum umfasst. Die Rezeption der Idee stört sich dabei nicht an vielleicht unpassenden Ankerbeispielen. Denn es erscheint kaum glaubhaft, dass die verräucherte Bar heute noch für alle gesellschaftlichen Gruppen einen angenehmen Ort zum Verweilen darstellen könnte. Ein eher männlich geprägtes Bild von Treffpunkten für Aktivitäten außerhalb familiärer Bindungen ist auch nicht zu übersehen. Eine genauere Analyse als hier möglich würde sicherlich die Zeitbezogenheit des Ansatzes und die Begrenztheit der Umsetzung deutlich machen. Zudem lässt sich angesichts der Weite des Begriffs auch ein möglicher Gegenentwurf erkennen: Der Philosoph Marc Augé betont in seinen Überlegungen zu „Nicht-Orten“ gerade die rasant zunehmende Zahl an Funktionsräumen, in denen man nicht heimisch ist, wie Flughäfen, Wartebereiche, Supermärkte oder Hotelketten. Diese Räume schaffen keine sozialen Beziehungen, so Augé, sondern stehen für Einsamkeit und Gleichförmigkeit (vgl. Augé 2010). Die jeweiligen Kontexte spielen also eine große Rolle, eine pauschale Idealisierung von „Third Places“ ist abzulehnen.

Die Idee von Ray Oldenburg wird gespeist von einer Defizitanalyse des modernen Städtebaus, insbesondere der Vorstadtsiedlungen amerikanischer Großstädte. Die Beobachtung einer Verödung und eines Abbaus von Sozialbeziehungen, Gemeinsinn und Engagement erinnert stark an die Analysen in Deutschland in den 1970er Jahren, die beispielsweise in den Aufschrei des Deutschen Städtetages „Rettet unsere Städte jetzt!“ mündeten. Hier gibt es eine gut nachvollziehbare Brücke zur „neuen Kulturpolitik“, wie sie von Hermann Glaser, Hilmar Hoffmann und anderen eingeleitet wurde (vgl. Kap. 4). Angesichts einer fehlgeleiteten Modernisierung und Funktionalisierung wurde hier ebenfalls um eine Wiedergewinnung von Lebensqualität gerungen. Wird der Idee von Oldenburg, informelle Treffpunkte zu stärken, an der sicher etwas dran ist, zu viel aufgeladen? Und warum wird das Konzept gerade jetzt besonders stark rezipiert? Ignoriert wird offenbar auch die vielfältige europäische Tradition von Begegnungsstätten, öffentlich getragenen oder teilfinanzierten Treffpunkten, Bildungseinrichtungen usw. Der Blick auf einen beliebigen deutschen Stadtteil offenbart, dass es die von Oldenburg beschriebene Wüste der Sozialbeziehungen und die wirklich trostlosen Neubausiedlungen so nicht gibt, und auch nicht das komplette Fehlen von Begegnungsräumen. Die Ausgangslage in der entwickelten Erlebnisgesellschaft ist anders. Lassen sich dennoch sinnvolle Anregungen und Assoziationen aus den Überlegungen von Oldenburg gewinnen?

3.2 Strukturprinzipien für Dritte Orte – ein Ankerpunkt?

Neun Aspekte kennzeichnen nach Ray Oldenburg subjektiv interessante und für das Gemeinwesen relevante „Dritte Orte“ (1999, 20ff.):

1) Escape or time-out: Dritte Orte bieten einen Rückzugsraum und ermöglichen eine Entlastung von alltäglichen Verpflichtungen und Zwängen. Historisch gesehen, ermöglichten sie gerade Männern, sich den Bindungen und Ansprüchen der häuslichen Umgebung und der Familie zu entziehen (Kaffeehaus, Club). Sie boten entspannenden Tätigkeiten als Leseraum und Spielhalle den geeigneten Rahmen. Eine Flucht aus dem Alltag erscheint als ein freizeittypisches Motiv und ist auch in touristischen Zusammenhängen bedeutsam. Für Bibliotheken könnte dies bedeuten: Möglichkeiten der Entspannung und Entlastung von alltäglichen Zwängen integrieren.

2) On neutral ground: Soziale Kontakte sind wichtig für die Vergemeinschaftung und das Zusammenleben in der Stadt. Dabei geht es aber nicht nur um enge Freundschaften, sondern auch um flüchtige Begegnungen, um Kontakte mit Menschen, mit denen man nicht sofort einer Meinung ist, sondern von denen man neue Anregungen und Impulse erhält. Eine gewisse Distanz fördert paradoxerweise die soziale Gemeinschaft. Wichtig erscheint ein „neutraler Grund“, auf dem sich alle wohlfühlen. Dies ist anders als eine Vergemeinschaftung über die Familie oder themenzentrierte Interessengruppen und Szenen. Die Bibliothek erscheint in diesem Kontext als ein lebendiger Ort, an dem sowohl intensive Kooperationen als auch lockere Begegnungen und Kontakte möglich werden.

3) The Third Place is a leveler: Hierbei geht es um einen Abbau von Statusorientierung und eine größere Gleichheit oder Gleichberechtigung. In Grenzen taucht hier die Idee „Jenseits von Klasse und Stand“ auf, die eine offene Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen beruflichen und privaten Rollen möglich machen soll (vgl. Beck 1986). Auch spielen offenbar ganz bestimmte Zwecksetzungen eine geringere Rolle, wie sie etwa in einer Vergemeinschaftung über Vereinigungen in der Freizeit oder ein Ehrenamt auszumachen sind. Anders als anderen hochkulturellen Institutionen fällt es der Bibliothek möglicherweise leichter, ein Statusdenken und damit verbundene Dünkel (Belesenheit, kulturelles Kapital) abzulegen und ganz offen auf Menschen zuzugehen.

4) Conversation is the main activity: Die Hauptaktivität ist nach den Beobachtungen von Ray Oldenburg die unverbindliche Konversation. Es geht um „idle talk“, um ein lockeres, anregendes Gespräch. Typisch erscheint eine spezifische Art des Redens im Kontext von dritten Orten: befreit, aber auch rücksichtsvoll, zuhörend, keinesfalls agitatorisch oder belehrend. Eine gesellige Unterhaltung ist möglich in verschiedenen Freizeitkontexten. Ist es auch ein Diskurs oder eine gesellige Bildung (mit historischen Vorbildern) im besten Sinne? Hierfür fehlt es vielen Bibliotheken vielleicht noch an räumlichen Strukturen (kleine Gastronomie) oder Gelegenheiten (gesellige Events, Messen, Börsen).

5) Accessibility and accomodation: Ein leichter Zugang zu den Orten sollte immer gegeben sein – räumlich und zeitlich. Im Gegensatz zu Organisationen und Veranstaltungen mit strikten Terminen oder festen Nutzungsmustern geht es um weite Öffnungszeiten, um eine räumliche Nähe der Nachbarschaft, also um eine „Freizeitkultur im Wohnumfeld“ (Forschungsteam SelF 1986) mit ihren Anlaufstellen. Einige Pionierinnen der Bibliothekslandschaft, wie die Bücherhallen in Hamburg, arbeiten an digital gestützten Konzepten für neue Schließsysteme und weite Öffnungszeiten (auch ohne Personal, nur mit Zugangskarte). Für andere ist dies noch Neuland.

6) The regulars: Die anderen, regelmäßigen Nutzerinnen und Nutzer sind entscheidend für die Attraktivität eines Dritten Ortes. Man kann hier seine Bekannten treffen und darauf aufbauende Erwartungen und Kommunikationsketten bilden. Prinzipiell sollten Dritte Orte jedoch offen sein für neue Besucherinnen und Besucher. Die Integration von Fremden ist eine Herausforderung und basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Wie in der Freizeit typisch kann es unterschiedlich intensiv involvierte Kreise geben und vielleicht einen Kern der Intensiv-Nutzer. Innerhalb einer großen Bibliothek gibt es vielleicht Nischen, in denen sich Lerngruppen finden, und offene, gesellige Angebote stützen die Idee regelmäßiger „Treffpunkt“.

7) A low profile: Dritte Orte sind eher einfach gehalten, sind nicht auf Schein aus, machen keine „große Show“. Es ist eher ein alltäglicher Treffpunkt mit niedrigen Schwellen mit einem dazu passenden einfach gehaltenen Design. Dies korrespondiert mit dem „informellen Auftreten“ der Besucherinnen und Besucher. Auch über das Design und die Kleidung der Besucher wird an diesen Freizeitorten die Offenheit und der leichte Zugang signalisiert. Hier geht es ganz offensichtlich nicht um Hochkultur und ihre Restriktionen bezogen auf den Habitus der Beteiligten. Das Design von Bibliotheken kann heute jedoch ganz verschieden sein, einige kommen hochmodern daher, andere pflegen einen besonderen Stil der Inszenierung. Die weihevolle Anmutung als Ort der Bildung geht insgesamt zurück.

8) The mood is playful: Die Stimmung generell ist spielerisch leicht mit einer geselligen Dynamik. Es ist ein „Spielplatz“ im Sinne des Philosophen Johan Huizinga (1956), eben für den „Homo Ludens“ mit einer eigenen Magie und eigenen Regeln. So entsteht vielleicht der verspürte Wunsch, noch einmal zurückzukehren und sich dieser Stimmung hinzugeben: „Let‘s do this again!“ Besonders in den „Kinderbereichen“ der Bibliotheken ist ein spielerischer Ansatz zu spüren, Medien- und Kulturpädagogik halten Einzug. Aber auch in den übrigen Räumen sind spielerische, animative Inszenierungen denkbar.

9) A home away from home: Insgesamt gibt es für Oldenburg viele Ähnlichkeiten mit den Charakteristiken eines „persönlichen Heims“. Typisch erscheint eine Art „Erdung“ und Verwurzelung. Der Ort strahlt Wärme und Freundlichkeit aus und bietet Potenzial für eine psychische und soziale Regeneration. Er ermöglicht zudem eine symbolische Aneignung (vielleicht auch praktische Mitgestaltung), und man kann sich ganz so geben, wie man zu sein glaubt. Insbesondere diese Wohnzimmer-Metapher ist in die Rezeption des Ansatzes eingegangen und steht für einen „Wohlfühlort“, an dem man seine Freizeit verbringen möchte. An diese Idee knüpfen viele Einrichtungen an und schaffen „Sofa-Landschaften“ oder Kuschelecken mit einer eher „warmen“ Ausstrahlung durch angenehmen Farben und Materialien. Die Bibliothek neuer Art folgt zudem eher einem „menschlichen Maß“, was die Größe der Einbauten und die Funktionselemente betrifft.

Insgesamt geht es Ray Oldenburg um die gesellschaftspolitische Funktion Dritter Orte im Sinne eines „community-building“. Ein stärkerer Zusammenhalt in einer ansonsten zersplitterten, individualistischen Gesellschaft ist das Ziel.

Erkennbar ist die positive Sicht auf die Potenziale der Freizeit. Eine Parallele finden diese funktionalen, systemischen Überlegungen in den Ideen der gemeinwesenorientierten Sozialen Arbeit in einem bestimmten Quartier (vgl. Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2011). Angesichts der Unschärfe des Fluchtpunkts „Dritter Ort“ bleiben jedoch viele Fragen nach wie vor offen.

3.3 Kritische Infrastruktur zur Stärkung des Sozialraums: Palaces for the people

In der Weiterführung der Grundidee „Dritter Ort“, etwa bei Eric Klinenberg (2018), spielt die Kommerzialisierung öffentlicher Räume eine größere Rolle für die Problemanalyse. Große Einkaufscenter, Kaffeehaus-Ketten oder andere Orte suggerieren die Möglichkeit von Begegnung. Gleichzeitig unterbinden sie aber durch Konsumzwang und administrative Regeln das „Herumhängen“ an diesen Orten. Sie sind kommerziell durchdrungen und ermöglichen nur bestimmte, erwünschte Verhaltensweisen. Urbanität als ein Netzwerk von Beziehungen und Möglichkeiten kann so offenbar nicht gewonnen werden. Eher im Gegenteil. Zusammen mit einem Rückzug ins Private und einem hohen, weiter steigenden Medienkonsum ist eine neue Welle des Zerfalls von Sozialbeziehungen, Kooperationsbereitschaft und informeller Hilfeleistung zu befürchten. Darauf weisen auch die Analysen der Gesellschaft „More in common“ hin (vgl. Krause/Gagné 2019). Mindestens ein Drittel der Gesellschaft bleibt unsichtbar, beteiligt sich nicht, ist wenig engagiert und integriert. Hinzu kommt heute der Trend der Singularisierung und Erlebnisorientierung in postmodernen Wissensgesellschaften, ein Trend der sich in den 1980er Jahren erst abzeichnete und heute die entwickelte Erlebnisgesellschaft vielfach ausmacht (vgl. Reckwitz 2019). Eine zunehmende Spaltung der Gesellschaften in Arm und Reich, ein Aufstieg akademischer Milieus einer „kreativen Klasse“, die an der Singularisierung von Erlebnisprodukten in irgendeiner Weise beteiligt sind, und eine Entwertung traditioneller mittelschichtiger Lebensentwürfe bestimmen heute die gesellschaftlichen Dynamiken. Die Enttäuschung über fehlende Perspektiven in dieser kommerzialisierten Gegenwart schlägt sich nicht zuletzt in rechtspopulistischen Bewegungen und einer Abwendung von demokratischen Strukturen nieder – eine gefährliche Mixtur (vgl. ebd., 273ff.).

In diesen neuen Kontexten müssen sich auch Bibliotheken mit ihren Möglichkeiten zurechtfinden. Sie sind Fluchtraum, ein Stück soziale Heimat und nach wie vor ein wichtiger Ort des selbstgesteuerten Lernens.

Eric Klinenberg betont in seinem Buch „Palaces for the People“ (2018) die neue Rolle der „sozialen Infrastruktur“, um Städte nachhaltiger und widerstandsfähiger zu machen. Er argumentiert mit Daten aus Großstädten zum Umgang mit Hitzewellen und der aufgetretenen Sterblichkeit, insbesondere unter älteren Menschen (ein Thema mit hoher Aktualität). Für ihn sind Bibliotheken, aber auch andere soziale Orte im Stadtteil notwendig, um die Resilienz von Gemeinschaften zu stärken. Menschen, die sich näher kennen, sind in Krisenzeiten eher bereit, sich gegenseitig zu stützen und informelle Hilfen für andere zu organisieren, so die einfache Beobachtung. Einsamkeit kann tödlich sein, insbesondere für alleinstehende ältere Menschen (vgl. ebd., 20).

„Palaces for the People“ steht als Metapher für Öffentliche Bibliotheken, die mit einer bestimmten Architektur und einem offenen, partizipativen Konzept eine enorme Attraktivität und eine positive, mobilisierende Kraft für das Gemeinwesen entfalten. Wenn dies gelingt, gibt es ein Netzwerk von Beziehungen, schauen die Menschen auf ihre Nachbarinnen und Nachbarn, bieten evtl. Hilfe und Unterstützung an, und die gesamte Community ist folglich eher in der Lage, mit Krisensituationen umzugehen. Bibliotheken als soziale Infrastruktur, so die klare Botschaft, helfen, Menschenleben zu retten. Sie tragen auch durch die Stärkung vielfältiger Kooperationsbeziehungen, durch die Stützung von Selbsthilfe und Selbstorganisation zu einer Verbesserung der Lebensqualität bei, gerade für Menschen in prekären sozialen Lagen. Hier zeigt sich, wie in der Grundidee ‚Dritter Ort‘ der Bezug zur Stadtentwicklung. Die neue Bibliothek ist nicht Selbstzweck, sondern sie ist funktional in heterogenen und zunehmend anonymisierten städtischen Gemeinschaften, die vor neuen Herausforderungen stehen. Die Einrichtungen bilden den Kern einer Gegenbewegung und machen Lebensverhältnisse nachhaltiger – in einem weiten Sinne. Die sozialpolitische Botschaft ist: Bibliotheken werden in dieser Hinsicht unterschätzt, sie werden nicht genügend wahrgenommen und nicht genügend gefördert (vgl. ebd., 32). Für Klinenberg gehören Bibliotheken zur „kritischen Infrastruktur“, die eine Zivilgesellschaft am Laufen hält und insbesondere vulnerable Gruppen stützt.

4. Soziokultur – ein ambitioniertes kulturpolitisches Reformprogramm

Ein zweiter Bezugspunkt für eine sozialraumorientierte Bibliotheksarbeit soll hier mit Rückgriff auf die Konzepte der Soziokultur entwickelt werden. Soziokultur kann nicht nur als vielfältige Praxis gelesen werden (z. B. der vielen Bürgerhäuser und Kulturzentren in Deutschland), sondern ist auch ein ambitioniertes kulturpolitisches Reformkonzept der 1970er Jahre. Wegweisend für diesen Ansatz einer Öffnung der Kulturpolitik der „alten Bundesrepublik“ für die alltägliche Lebensgestaltung und einen zukunftsorientierten, spielerischen Umgang mit neuen Möglichkeiten zur Entwicklung lokaler Lebensqualität ist immer noch das Buch „Die Wiedergewinnung des Ästhetischen“ von Herman Glaser und Karl Heinz Stahl aus dem Jahr 1974. Entworfen wird ein kulturpolitisches Programm zur Abkehr von einer „affirmativen Kultur“, die nur der Verbrämung und Bestätigung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse diente. „Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur“ sollten dagegen zu einer Aktivierung und breiten Beteiligung von Menschen an der Gestaltung ihrer unmittelbaren Lebensbedingungen, an der Verbesserung über Kultur und einer Demokratisierung des Zugangs zu Kultur und Bildung beitragen (vgl. Glaser/Stahl 1974). Es ging den Akteuren um eine Identitätsfindung angesichts starker Kommerzialisierungsprozesse im Wirtschaftswunderland Westdeutschland und einer tendenziellen Verödung von Stadtquartieren eines funktionalistischen Wohnungsbaus; um eine kritische Gesellschaftsanalyse, die streckenweise auch heute noch als aktuell identifiziert werden kann – erweitert vielleicht durch die Verwerfungen einer ungezügelten Globalisierung und einer krisenhaften Digitalisierung in vielen Lebensbereichen.

4.1 Die Stadt als Kulturlandschaft

Kultur wird dabei als „gesellschaftlicher Spielraum“ konzipiert, mit Bezügen zu einer „kritischen Öffentlichkeit“ und einem Rekurs auf die ästhetischen Potenziale von Kunst und kultureller Eigentätigkeit. Eine Revitalisierung der „Stadt als Kulturlandschaft“ ist die programmatische Perspektive. Konkret wird der Entwurf von Glaser und Stahl bei der Diskussion über neue „Kulturzentren“ in den Quartieren. Dabei gerät eine Verschränkung von traditionellen Kulturorten und Funktionen in den Blick und übergreifende Konzepte der Aktivierung werden interessant: „Bildungsort, Lese-Ort, Studio, Kulturladen, Spielort“. Man könnte dies auch als einen Gegenentwurf zur Trennung von Sparten und eben von Möglichkeiten der kulturpädagogischen Arbeit lesen.

Die Autoren sprechen sich hier für eine Zurücknahme von Spezialisierungen der Stadtkultur im Sinne eines breiten, niedrigschwelligen Ansatzes aus, zumindest für eine erweiterte Kooperation und Durchlässigkeit. Sie setzen auf Kommunikation und Begegnung, ausgehend von lokalen, nachbarschaftlichen Verhältnissen. „In der ökologischen Nische regeneriert sich Kommunikation. Es ist zuzugeben: Kommunikation ist geradezu eine magische Vokabel geworden; sie verspricht, was vielfach abhandengekommen ist, aber mehr denn je benötigt wird: Kontakt, Begegnung, Zusammengehörigkeit“ (ebd., 215).

Die Leitbegriffe von Begegnung und Kommunikation werden dabei folgendermaßen ausbuchstabiert:

Begegnung: Hier kommt die Person als Ganzes ins Spiel. Der Begriff erscheint ethisch aufgeladen und bezieht sich auf besondere Momente.

Kommunikation: Ist eher alltäglich und auf das Miteinander und Gegeneinander gerichtet. Botschaften senden und empfangen sind wichtige formale Aspekte.

Die kulturpolitische Analyse von gesellschaftlichen Defiziten und die programmatische Ausrichtung auf die Förderung von Zusammenhalt in der Gesellschaft erinnert beim nochmaligen Lesen an aktuelle Projekte der empirischen Sozialforschung zur Milieustruktur in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Gemeinschaftsbildung und der Kooperation („More in Common“, vgl. Krause/Gagné 2019), sowie einer daran anschließenden Studie zu Begegnungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum (vgl. Wohlfeld/Krause 2021), die von Bibliotheken ebenfalls wahrgenommen wurde.

Beide Eckpunkte, Begegnung und Kommunikation, fließen für Glaser und Stahl in die Prinzipien für die theoretisch begründeten und später mit den „Kulturläden“ Nürnberg und weiteren Einrichtungen realisierten „Kommunikationszentren“ ein (vgl. Glaser/Stahl 1974, 220f.). Verwandt sind die Überlegungen von Hilmar Hoffmann zur Öffnung traditioneller Kultureinrichtungen im Sinne einer „Kultur für alle“ (Hoffmann 1981). Schon damals ging es den Akteuren um „kommunikative Nischen“, um aus dem Leistungsdruck des Alltags ausscheren zu können, und um eine „Integration“ verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, junge und ältere Menschen, bürgerliches Publikum und subkulturelle Szenen.

Das kulturpolitische Programm „Soziokultur“ setzt insgesamt auf eine „Wiedergewinnung urbaner Lebensqualität“ und auf eine Zurücknahme spartenspezifischer Spezialisierungen im Kultursektor und ist in diesem Sinne der Idee „Dritter Ort“ verwandt. Dennoch ist anzunehmen, dass bestimmte Grundprofile der Freizeiteinrichtungen erhalten bleiben. Viele konzeptionelle Fragen sind anzugehen: Können Bibliotheken in ihrer Neuausrichtung auf die Bestände der „neuen Kulturpolitik“ und speziell der „Soziokultur“ zurückgreifen? Bietet die vielfältige Praxis von Begegnungsstätten und soziokulturellen Zentren Anregungen für eine Erweiterung der Bibliotheksarbeit? Und was unterscheidet die neue Bibliothek von einem Kommunikationszentrum oder einem Nachbarschaftshaus im Stadtteil? Auch gut fünfzig Jahre nach den ersten Entwürfen der Soziokultur erscheint der Ansatz für eine Entwicklung des Sozialraums und der eingebetteten kulturellen Institutionen noch aktuell. Die Publikumskrise vieler hochkultureller Einrichtungen (vor allem klassischer Theater) nötigt zudem, traditionelle Konzepte der Programmarbeit zu überdenken. Für Norbert Sievers, lange Jahre Geschäftsführer der „Kulturpolitischen Gesellschaft“ in Deutschland, ist eine „soziokulturelle Wende“ in vielen Kulturbereichen auszumachen – nicht zuletzt in der besucherorientierten Bibliothek (vgl. Sievers 2023).

5. Wohlfühlort und Raum für aktives Tun

Strukturdimensionen der neuen Bibliothek verdeutlicht die folgende Grafik zum Funktionswandel der Bibliothek (Abbildung 2). Als ein Soziokulturelles Zentrum bietet die Bibliothek eine Anlaufstelle für ganz unterschiedliche soziale Gruppen. Sie ermöglicht Begegnung, Austausch und Kooperation über Milieugrenzen hinweg und fördert Integration und Inklusion. Über Kultur-Events und eine partizipative Gestaltung ist sie zugleich ein Ort der Präsentation, eine Bühne für unterschiedliche kulturelle Strömungen und Communities. Insgesamt bietet sie eine „soziale Infrastruktur“ und trägt zur Beheimatung von Menschen unterschiedlicher Herkunft angesichts einer heterogenen Stadtgesellschaft bei. Als ein Kern kann die (physische) Treffpunktfunktion ausgemacht werden. Eine Gestaltung als „Wohlfühlort“ mit Wohnzimmeranmutung verstärkt diese soziale Funktion. Zugleich bleibt die Bibliothek ein wichtiger Lernort für ein selbstgesteuertes und interessengeleitetes Lernen. Dies schließt die neueren Entwicklungen zu einem „Makerspace“, einem Ort der kreativen Gestaltung und der aktiven Beschäftigung mit Hobbys ein.

Funktionsmodell der „neuen“ Bibliothek

Abbildung 2: Funktionsmodell der „neuen“ Bibliothek (Quelle: Freericks/Brinkmann/Herfort 2023, 23)

Auch die Arbeit der Stadtbibliothek Huchting stützt die Annahme eines Funktionswandels. Neben der klassischen bibliothekarischen Arbeit rund um das Thema Versorgung mit Informationen und Medien sowie kulturellen Veranstaltungen werden aktive Elemente zur Raumausstattung in Huchting immer mehr in den Fokus gerückt. Hierbei geht der Trend zu mehr Gemütlichkeit und Aufenthaltsqualität. Hochwertige Möbelstücke wie Couches, Teppiche und Lesesessel sollen für eine Atmosphäre wie zu Hause sorgen und werden von verschiedenen Gruppen in der Bibliothek gut genutzt. Die Möglichkeit, sich in der Bibliothek mit Kaffee zu versorgen und dabei Zeitung zu lesen und sich zu entspannen, stärkt die Attraktivität für Erwachsene. Für Kinder gibt es eine große Spielfläche mit Bauklötzen und kleine Spiel- und Lesetische. Um für Jugendliche weitere Beschäftigungsmöglichkeiten neben dem Zuhause oder einem Freizeitheim zu bieten, gibt es einen Bereich mit einer Spielkonsole. Auf Anfrage kann zudem ein großer Lernraum als Rückzugsort für konzentriertes Arbeiten und für Gruppen genutzt werden.

Wohlfühlort Stadtbibliothek

Abbildung 3: Wohlfühlort Stadtbibliothek (eigene Aufnahme)

Im Rahmen des Funktionswandels Öffentlicher Bibliotheken, nicht nur in Huchting, zeigt sich die Notwendigkeit einer Balance unterschiedlicher Funktionen und die Schaffung von Nutzungszonen: spielen, lernen, entspannen, arbeiten und gesellig sein. Wichtig sind neben den physischen Medien die Zugänge zu virtuellen Informationsquellen am Ort. Eine Beratung zur Erschließung von Informationen ist eine weitere wichtige Serviceleistung.

Die soziokulturell ausgerichtete Bibliothek orientiert sich stärker als bisher an den Bewohnerinnen und Bewohnern des Quartiers oder der Stadt und eröffnet Möglichkeiten für eine Partizipation. Dies umfasst verschiedene Ebenen: Partizipation an der Gestaltung der Bibliothek, nutzerorientierte Veränderung des Medienbestandes und Ausrichtung der Programmarbeit auf kooperative Formate gemeinsam mit vielen Initiativen, Gruppen und Vereinen. Die Idee „Empowerment“ geht hier ein, ebenso wie der Aspekt „Involvement“ (vgl. Jochumsen et al. 2012).

Insgesamt steigt die Bedeutung pädagogischer Ansätze in der Bibliothek. Es lassen sich im Sinne einer Ausdifferenzierung verschiedene Ebenen ausmachen, die durch die neuen Funktionen der Bibliothek und eine andere Gestaltung gestärkt werden:

Um diese Agenda umzusetzen, braucht die neue Bibliothek auch „neue“ Mitarbeitende. Die notwendige Kompetenzerweiterung erfolgt idealerweise durch eine Diversifizierung des Teams, beispielsweise durch mehr Zugänge für einen Quereinstieg. Die neuen Bibliotheksprofis kommen aus allen möglichen Bereichen, bringen aber vor allem viele Erfahrungen aus der Kulturpädagogik, Medienpädagogik, dem Eventmanagement, dem Kulturmanagement und der Sozialen Arbeit mit. Für kleinere Bibliotheken stellt sich die Anforderung, durch Mitarbeiterfortbildungen das bestehende Team in die neue Zeit mitzunehmen und Schritt für Schritt neue Perspektiven auszuloten: Die Bibliothek der Dinge, neue Schließsysteme und Strategien für die Erweiterung der Öffnungszeiten, Entwicklung zielgruppenspezifischer Veranstaltungen mit vielen Partnern und eine Netzwerkarbeit im Sozialraum des Stadtteils.

6. Ausblick

Die Bibliothek ist auf neuen Wegen, neue Funktionen und Aufgaben wachsen ihr zu. Detailliertere Sozialraumanalysen (mit dem eingeführten Methodenkoffer) werden wichtig für die Orientierung der Bibliothek und ihrer Beschäftigten. Das Wissen über die Methoden gilt es zu reaktivieren oder neu zu vermitteln (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016 oder auch der Methodenkoffer von sozialraum.de). Die theoretischen Positionsbestimmungen „Dritter Ort“ und „Soziokulturelles Zentrum“ gilt es vor dem Hintergrund der spezifischen Rahmenbedingungen vor Ort neu zu befragen. Die Fruchtbarkeit einer solchen Standortbestimmung wurde in den vorangegangenen Analysen deutlich. Erkennbar ist auch: Die Ausbildungsgänge für die Bibliothekswissenschaft in Deutschland gilt es zu reformieren und um neue kommunikative Aspekte zu ergänzen. Und schließlich sollten die Zugangsbarrieren für „fachfremdes“ Personal aus der Sozialen Arbeit, aus Freizeitpädagogik und Kulturmanagement gesenkt werden. Den vielfältigen neuen Aufgaben kann nur eine vielfältiger aufgestellte Bibliothek gewachsen sein.

Literatur

Augé, Marc. (2010): Nicht-Orte. C. H. Beck, München.

Beck, Ulrich. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Cramer, Lucas. (2023): Alte Akteurin auf der Suche nach neuen Aufgaben. Chancen und Herausforderungen im Strukturwandel von Öffentlichen Bibliotheken am Beispiel der Stadtbibliothek Gröpelingen. Bachelorthesis im Rahmen des Studiengangs "Soziale Arbeit dual B.A.". Hochschule Bremen, Bremen.

Forschungsteam SelF (1986): Selbstorganisierte Freizeitkultur: ein Förderungsmodell. Dortmund: ILS, Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (1986,3).

Freericks, Renate/Brinkmann, Dieter/Herfort, Jana (2023): Die Bibliothek als soziokulturelles Zentrum der erlebnisorientierten Wissensgesellschaft. Ein Projekt im Cluster Lebensqualität der Hochschule Bremen. Bremen.

Glaser, Hermann/Stahl, Karl Heinz. (1974): Die Wiedergewinnung des Ästhetischen: Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur. Juventa, München.

Hinte, Wolfgang/Lüttringhaus, Maria/Oelschlägel, Dieter (Hrsg.) (2011): Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. 3. Aufl. Juventa, Weinheim.

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Huizinga, Johan (1956): Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt, Hamburg.

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Klinenberg, Eric (2018): Palaces for the people. How to build a more equal and united society. The Bodley Head, London.

Krause, Laura-Kristine/Gagné, Jérémie (2019): Die andere deutsche Teilung: Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Hrsg. v. More in Common e.V. Deutschland. Berlin.

Oldenburg, Ray (1999): The great good place. Cafés, coffee shops, bookstores, bars, hair salons, and other hangouts at the heart of a community. Da Capo Press, Cambridge, Mass.

Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp, Berlin.

Sievers, Norbert (2023): 50 Jahre Soziokultur und Neue Kulturpolitik. In: Kulturpolitische Mitteilungen 181 (2), S. 35–37.

Sievers, Norbert/Blumenreich, Ulrike/Dengel, Sabine/Wingert, Christine (Hrsg.) (2020): Jahrbuch für Kulturpolitik 2019/20. Thema: Kultur. Macht. Heimaten. Heimat als kulturpolitische Herausforderung. transcript Verlag, Bielefeld.

Spatscheck, Christian/Wolf-Ostermann, Karin (2016): Sozialraumanalysen. Ein Arbeitsbuch für soziale, gesundheits- und bildungsbezogene Dienste. Verlag Barbara Budrich (utb), Opladen, Toronto.

Wohlfeld, Sarah/Krause, Laura-Kristine (2021): Begegnung und Zusammenhalt: Wo und wie Zivilgesellschaft wirken kann. Hrsg. v. More in Common e.V. Deutschland. Berlin.

Link zur Bücherei in Huchting: https://stabi-hb.de/bibliotheken/huchting/


Zitiervorschlag

Brinkmann, Dieter und Lucas Cramer (2025): Die Bibliothek im Sozialraum des Stadtteils – vertraute Strukturen, neue Herausforderungen und konzeptionelle Neupositionierungen. In: sozialraum.de (16) Ausgabe 1/2025. URL: https://www.sozialraum.de/die-bibliothek-im-sozialraum-des-stadtteils.php, Datum des Zugriffs: 19.06.2025