Nachbarschaft: eine komplexe Selbstverständlichkeit mit Potenzial

Sebastian Kurtenbach

1. Nachbarschaft als Interessengegenstand

Sowohl Umfragen als auch Berichte aus der Praxis Sozialer Arbeit vermitteln das Bild einer Gesellschaft im dauerhaften Krisenmodus. Der gesellschaftliche Zusammenhalt scheint zu schwinden und die Wahrnehmung teils existenzieller Krisen, ob nun die Klimakatastrophe, die Furcht vor militärischen Auseinandersetzungen oder wirtschaftliche Sorgen, treiben viele Menschen um. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, dass Menschen sich an ihrem Wohnort häufig sehr wohlfühlen, den Menschen in ihrer Nachbarschaft vertrauen und das Lokale ein Identitätsanker ist – und das nahezu unabhängig vom Typ des Wohnorts. Die Erfahrung der Gegenwart verliert also deutlich ihre Bedrohung im Erleben des lokalen Umfeldes.

Das weist darauf hin, dass in den lokalen Erfahrungswelten Potenziale liegen, welche den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren und eventuell auch fördern können. Damit ist vor allem das nachbarschaftliche Zusammenleben angesprochen, in welchem Menschen sich im Lokalen begegnen und ihren Alltag koordinieren. Das kann von einer kommunikationsarmen Co-Existenz bis zu engen Beziehungen aber auch zu Konflikten reichen. Entscheidend ist, dass durch die räumliche Nähe zueinander eine soziale Beziehung mit der Rolle als Nachbar einhergeht. Nachbarschaft ist dabei neben Familie und Freundschaft eine der drei sozialen Beziehungen, die nicht künstlich hergestellt werden kann. Im Alltag erscheint diese soziale Rolle häufig als profan und selbstverständlich, weist aber bei näherer Betrachtung eine hohe Komplexität auf (Kurtenbach 2024).

Die Untersuchung von Nachbarschaft ist einer der dauerhaften Debatten in der soziologischen Stadtforschung und ist auch bereits in den frühen Arbeiten des Fachs angelegt. Beispielsweise schreibt Engels in seinen Reiseberichten von der proletarischen Lebensweise in den Arbeiterquartieren Londons (Engels 1980), in der klassischen Marienthal-Studie aus den 1920er Jahren wird das Gemeindeleben beschrieben (Jahoda et al. 1975) und auch in den ersten stadtsoziologischen Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg wird das lokale Zusammenleben untersucht. In Westdeutschland gab es dazu Studien vor allem zum nachbarschaftlichen Zusammenleben in klassischen Arbeiterquartieren (Croon/Utermann 1958, Mackensen et al. 1959, Klages 1958) und ab Mitte der 1960er Jahre dann zu Nachbarschaft in Neubausiedlungen (Becker/Keim 1977, Heil 1971). Im weiteren Verlauf wurden dann weniger Quartiersanalysen vorgenommen, sondern thematische Untersuchungen, beispielsweise zum nachbarschaftlichen Zusammenleben im Zuge von Zuwanderung (Hüttermann 2000), zur Sozialen Nachbarschaft (Reutlinger et al. 2015) oder zum Verhältnis von Digitalisierung und Nachbarschaft (Heinze et al. 2019).

Im folgenden Beitrag wird Nachbarschaft als soziale Beziehung sowohl theoretisch genauer bestimmt als auch empirisch erfasst. Ziel ist es, Potenziale und Grenzen von Nachbarschaft besser zu verstehen und zugleich einen Ansatz zu erarbeiten, ob und wie das Potenzial von Nachbarschaft als Ressource des gesellschaftlichen Zusammenhalts gefördert werden kann. Dafür wird im Folgenden Nachbarschaft theoretisch gefasst, um anschließend empirische Befunde zum nachbarschaftlichen Zusammenleben in Deutschland zu versammeln. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung werden dann aus Perspektive sozialraumorientierter Sozialer Arbeit aufgegriffen und diskutiert.

2. Theoretische Überlegungen zu einer Soziologie der Nachbarschaft

Die grundsätzliche Annahme einer soziologischen Bestimmung von Nachbarschaft ist, dass diese in gesellschaftliche Strukturen eingebettet ist. Nachbarschaft verarbeitet gesellschaftliche Prozesse und Herausforderungen, wie den Umgang mit der Klimakatastrophe, der Verbreitung oder Eindämmung rassistischer Ressentiments oder auch die Bewältigung einer Pandemie. Nachbarschaft erbringt demnach eine eigene Verarbeitungsleistung und das abhängig von dem Grad ihrer Ausprägung bzw. der Qualität der sozialen Beziehung. Sie ist sowohl ein individuelles Merkmal, in Form der sozialen Beziehung zwischen zwei oder mehreren Nachbar:innen, als auch ein kollektives Merkmal, was sich im geteilten interpersonalen Vertrauen in der Nachbarschaft ausdrückt (Sampson et al. 1997).

Bei der Begriffsbestimmung von Nachbarschaft wird in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Stadtforschung häufig auf die Definition von Hamm (1973) zurückgegriffen, welcher Nachbarschaft definiert als „[...] eine soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen des Wohnortes miteinander interagiert“ (Hamm 1973: 18). Diese Definition ist deswegen hilfreich, weil sie die beiden Elemente des Ortes und der Beziehung ordnet. Allerdings fehlt dieser Definition der Aspekt der Qualität sozialer Interaktion, da beispielsweise dadurch rassistische Beleidigungen und pflegerische Hilfe analytisch gleichgesetzt werden. Eine Definition von Nachbarschaft muss demnach die soziale Beziehung selbst in ihrer Komplexität präziser abbilden. Dem folgend wird an dieser Stelle ein Verständnis eingeführt, welches Nachbarschaft als einen „[…] Typ sozialer Beziehung unterschiedlicher Qualität, welche sich durch die unmittelbaren Interaktionsmöglichkeiten aufgrund der Wohnortnähe zueinander entwickelt“ definiert (Kurtenbach 2024: 43).

Bei der Frage nach der Besonderheit dieser sozialen Beziehung fällt die Differenz zu anderen sozialen Rollen und den damit einhergehenden Handlungserwartungen auf. Dabei sind vor allem drei Besonderheiten zu nennen. Erstens ist Nachbarschaft eine Normalitätskulisse, in dem Menschen ihren Alltag verbringen und gestalten. Hier begegnen sich Nachbar:innen auf Augenhöhe, wodurch ein Gefühl von Gleichheit und Normalität entsteht. Diese Normalitätskulisse wirkt insbesondere auf jene Personen sozialisierend, die viel Zeit in ihrem Wohnumfeld verbringen. Forschungen zu den Kontexteffekten von Wohngebieten, also der räumlichen Einflüsse bspw. auf Verhalten, zeigen, dass das eigene Handeln oft an die lokal wahrgenommene Normalität angepasst wird (Friedrichs/Blasius 2000; Kurtenbach 2017). Zweitens ist Nachbarschaft eine Solidarreserve, die sich vor allem in Krisenzeiten zeigt. Sie bietet Unterstützung, die andere Beziehungsformen oft nicht leisten können. Auch wenn nicht alle Menschen in nachbarschaftliche Hilfestrukturen eingebunden sind, zeigt beispielsweise eine Untersuchung zur Nachbarschaftshilfe während der Covid-19-Pandemie, dass Nachbarschaft bei der Bewältigung von Krisen unterstützend wirken kann, insbesondere bei kollektiven Herausforderungen (Bölting et al. 2020). Drittens ist Nachbarschaft eine Sphäre privater Öffentlichkeit. Denn Nachbar:innen erhalten Einblicke in das Private, etwa in die Haushaltsstruktur oder den Tagesablauf, ohne dabei zwangsläufig enge Freundschaften vorauszusetzen. So entsteht eine distanzierte Vertrautheit, die Nachbarschaft einzigartig macht. Im Gegensatz zu Simmels (2006) Konzept des urbanen Lebens, das die Interaktion unter Fremden im öffentlichen Raum betont, steht Nachbarschaft zwischen Privatem und Öffentlichem. Hier entstehen spezifische Leistungen wie Informationsaustausch, Solidarität oder soziale Kontrolle, die sich nicht vollständig mit urbanen Kategorien beschreiben lassen.

Mit den Besonderheiten gehen auch vier Funktionen einher, wofür Nachbarschaft genutzt wird und was ihre Leistungsfähigkeit fasst. Nachbarschaftliche Umgangsformen schaffen eine Balance zwischen sozialer Nähe und notwendiger Abgrenzung. Beispiele hierfür sind das Verhalten in Gemeinschaftsbereichen wie Treppenhäusern oder die gegenseitige Rücksichtnahme bei der Nutzung von Parkflächen. Solche Umgangsformen normalisieren Verhaltensweisen und ermöglichen es, im Konfliktfall Regeln einzufordern oder auszuhandeln. Werden sie dauerhaft verletzt, können soziale Sanktionen wie Missachtung oder Ausschluss folgen (Baumgartner 1988). Mit Nachbarschaft geht auch eine Informationsleistung einher. Unter Nachbar:innen werden Informationen weitergegeben und soziale Kontrolle erzeugt (Jetzkowitz/Schneider 2006). Dies reicht von alltäglichen Hinweisen – etwa zu geplanten Baumaßnahmen in der Straße – bis hin zu Informationen über lokale Veranstaltungen. Digitale Plattformen, digitale schwarze Bretter oder Messenger-Dienste erweitern dabei die Möglichkeiten der nachbarschaftlichen Kommunikation und stärken ihre Funktion im digitalen Alltag. Eine klassische Funktion von Nachbarschaft ist die Alltagsunterstützung. Beispiele sind das Ausleihen von Werkzeugen oder die gegenseitige Betreuung von Haustieren während der Abwesenheit. Auch wenn diese Unterstützungen nicht eingefordert werden können, gehören sie dennoch zum Erwartungskanon des nachbarschaftlichen Zusammenlebens (Fromm/Rosenkranz 2019). Zudem erfüllt Nachbarschaft die Funktion einer Notgemeinschaft in Krisensituationen. Beispiele hierfür sind das Organisieren von Trinkwasserversorgung bei einem Rohrbruch oder die gemeinsame Schneeräumung nach einem Unwetter. Solche Erfahrungen stärken das Gemeinschaftsgefühl langfristig. Während im Alltag etwa ein Drittel der Bevölkerung Unterstützung leistet, steigt diese Zahl in Krisenfällen auf etwa zwei Drittel, wodurch die bereits angesprochene Solidaritätsreserve Nachbarschaft sichtbar wird (Kurtenbach 2024, 77).

Die theoretische Fassung von Nachbarschaft zeigt, dass diese alltägliche Beziehung eine hohe Komplexität und zugleich Potenziale für die lokale Erfahrung gesellschaftlichen Zusammenhalts aufweist. Sie bildet das interpersonale Vertrauen zu Menschen, die lediglich die gegenseitige Wahrnehmung der Wohnstandortnähe teilen. Dabei scheint es jedoch Unterschiede im Ausmaß dieses nachbarschaftlichen Vertrauens zu geben, deren Muster aufzudecken sind. Zugleich wird angenommen, dass Nachbarschaft gesellschaftliche Veränderungen adaptiert und verarbeitet. Dabei ist fraglich, ob und wie Nachbarschaft durch externe Einflüsse, wie Organisationen und damit auch durch Soziale Arbeit, gefördert werden kann. Allen drei Aspekten wird im folgenden Abschnitt mittels eigener empirischer Untersuchungen nachgespürt.

3. Ausgewählte empirische Befunde zu Nachbarschaft

In Deutschland ist das Vertrauen in die Nachbarschaft insgesamt hoch ausgeprägt. In einer repräsentativen deutschlandweiten digitalen Befragung, welche von Juli bis September 2022 lief, wurden 2.029 Menschen zur Wahrnehmung ihrer Nachbarschaft befragt. Dabei gaben 60,5 Prozent der Befragten an, dass die Beziehungen zwischen Menschen in der Nachbarschaft gut seien, weitere 27,4 Prozent gaben an, dass dies teils/teils der Fall sei. Umgekehrt stimmten nur 10,8 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass es Probleme oder Stress mit Menschen in der Nachbarschaft gibt (Kurtenbach 2024, 93). Beide Befunde zusammen zeigen, dass die Grundvoraussetzung für interpersonelles Vertrauen in der Nachbarschaft in Deutschland weitestgehend positiv zu bewerten ist.

Allerdings gibt es durchaus räumliche Unterschiede in Bezug auf die Bewertung nachbarschaftlichen Zusammenlebens. Hierzu werden mehrere Umfragen miteinander verglichen. Zum einen drei mixed-mode Umfragen in Bonn (n=2.071), Berlin (n=2.096) und Dortmund (n=2.106) sowie vier Umfragen, ebenfalls im mixed-mode Verfahren in den Dörfern Metelen (n=216), Schapen (n=202), Wieck-Ladebow/Eldena (n=156) sowie der Einheitsgemeinde Gerbstedt (n=135). Mit den Daten können unterschiede innerhalb von Städten, zwischen Städten und zwischen Stadt und Land deutlich gemacht werden. Zu Erfassung nachbarschaftlichen Vertrauens wurden mehrere Items mittels einer explorativen Faktorenanalyse zu einem Faktor verdichtet und auf die Ebene des Stadtteils aggregiert. Hier zeigt sich ein negativer Zusammenhang mit sozialstruktureIlen Merkmalen, vor allem der Armutsquote. Dabei sind die Unterschiede im nachbarschaftlichen Vertrauen zwischen den Stadtteilen einer Stadt größer als zwischen den Untersuchungsstädten. Weiterhin gibt es strukturelle Unterschiede zwischen Stadt und Land. Das nachbarschaftliche Vertrauen ist in den Untersuchungsdörfern deutlich höher ausgeprägt als in den drei Großstädten (Kurtenbach 2024).

Nachbarschaft organsiert sich aber auch zunehmend digital. Mittlerweile sind rund 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland in irgendeiner Weise digital mit ihren Nachbar:innen vernetzt. Dabei ist die digitale Vernetzung in der Nachbarschaft in ländlichen Räumen deutlich verbreiteter als in den Städten. Das liegt, wie qualitative Analysen zeigen, daran, dass der analoge Kontakt vorgelagert sein muss, damit ein digitaler Kontakt zustande kommt. Daher sind auch Messenger-Dienste das wichtigste Medium digitaler Vernetzung unter Nachbar:innen. Eine ergänzende Umfrage von 474 Nutzer:innen der größten digitalen Nachbarschaftsplattform in Deutschland, nebenan.de, von Januar bis März 2022, zeigt, dass ihre nachbarschaftliche Integration gering ist (Kurtenbach 2024, 117).

4. Förderung von Nachbarschaft durch sozialraumorientierte Soziale Arbeit

Während Nachbarschaft sich zwar zunehmend digital organisiert, bleibt unklar, ob Nachbarschaft auch extern organisiert werden kann. Hierzu findet sich eine komplexe Befundkette. Im Rahmen einer Befragung in NRW (n=1.012) zu nachbarschaftlicher Hilfe während der ersten Welle der Covid-19 Pandemie zeigt sich, dass Nachbar:innen gegenseitige Unterstützung lieber unter sich organisieren wollten, Angebote sozialer Dienste wurden nur zurückhaltend befürwortet (Bölting et al. 2020, 20). Eine direkte Förderung ist also nicht gewünscht. Allerdings zeigt eine Auswertung von Befragungsdaten in Münster-Coerde, dass wenn eine soziale Einrichtung im Stadtteil regelmäßig besucht wird, dann ist auch das subjektive Vertrauen in die Nachbarschaft erhöht (Kurtenbach 2024, 175). Das heißt, dass es Orte der Begegnung braucht, an denen sich Bewohner:innen in ihrer Rolle als Nachbar:in begegnen können. Solche Orte der Begegnung fungieren als eine Förderung von Nachbarschaft, allerdings ohne direkte Beeinflussung der sozialen Beziehung.

Damit sind Möglichkeiten der Begegnung in der nahräumlichen Umgebung um die eigene Wohnung angesprochen, die offenbar das Potenzial einer förderlichen Wirkung auf das nachbarschaftliche Zusammenleben haben. Hier ist aber eine Typisierung der Wohnumgebung notwendig. Zu unterscheiden sind bauliche Arrangements (1), wie Hinterhöfe oder Treppenhäuser, welche unmittelbare nachbarschaftliche Interaktionen zwischen Bewohner:innen  in ihrer Rolle als Nachbar:innen erlauben. Weiterhin gibt es kommerzielle Orte (2), wie beispielweise Supermärkte, gastronomische Angebote oder auch Apotheken. Dort ist die Nachbarschaftlichkeit in der Begegnung mitunter weniger intensiv als im ersten Typ. Hinzu kommen Orte der Bildung, Kulturarbeit sowie der Sozialen Arbeit (3), wie Beratungseinrichtungen, Nachbarschaftstreffs oder Familienzentren. In der klassischen Studie von Oldenburg (1989) zu Dritten Orten“, werden Typ 2 und 3 als sogenannte Dritte Orte zusammengefasst. Da sie sich aber hinsichtlich des kommerziellen Charakters – und damit in ihrer Zugänglichkeit – voneinander unterscheiden, ist es sinnvoll sie auch konzeptionell zu differenzieren. Zudem ist der öffentliche Raum (4), hier vor allem Parks, Spielflächen oder öffentliche Plätze, selbst ein Ort nachbarschaftlicher Begegnung. Auch der lokal ausgerichtete digitale Raum (5) kann als nahräumliche Infrastruktur der Nachbarschaft einbezogen werden.

Soziale Arbeit ist Teil der Ökologie der Nachbarschaft. Darin ist bereits das Potenzial aber auch die Grenze Sozialer Arbeit für die Förderung von Nachbarschaft enthalten, denn sie beeinflusst nur einen Teil des Ganzen und darunter auch keinen zwingend zentralen. Dieser wird eher durch unmittelbare zugängliche Interaktionsorte rund um die eigene Wohnung oder das Haus, wie das gemeinsame Treppenhaus, gebildet. Denn gleicht man nun die Typen von Orten der Nachbarschaft mit der lokalen Angebotslandschaft von Einrichtungen Sozialer Arbeit in einem Stadtteil ab, gibt es zwar Überschneidungen, aber diese sind jeweils nur ein Ausschnitt des Ganzen. Wohngruppen, Beratungseinrichtungen der Suchthilfe oder Hilfeangebote für wohnungslose Menschen sind wichtige Einrichtungen der Sozialen Arbeit, aber nicht unbedingt verbunden mit dem nachbarschaftlichen Zusammenleben. Dem entsprechen vielmehr offene Orte, wie Nachbarschaftstreffs, Familienzentren oder auch Einrichtungen der sozialraumorientierten Jugendarbeit.

Das wiederum führt vor Augen, dass die Förderung von Nachbarschaft nicht alleine in den Händen von Ansätzen des Quartiersmanagements liegt. Solche, häufig an städtebaulichen Maßnahmen orientierten Einrichtungen, wie im Rahmen des Programms „Sozialer Zusammenhalt“,[1] sind zwar wichtig, aber auch sie stellen nur einen Teil der Förderung von Nachbarschaft durch Soziale Arbeit dar. Hinzu kommen Community Ansätze (Meier et al. 2022), sozialraumorientiert arbeitende Einrichtungen wie die Familienzentren in NRW [2] oder auch Einrichtungen der Gemeinwesenarbeit [3]. Gemein ist all diesen unterschiedlich profilierten Einrichtungen, dass sie Möglichkeiten der Begegnung schaffen, sie aber nicht erzwingen können.

Denn der Kontakt zwischen Menschen, die sich gegenseitig in ihrer Rolle der oder des Nachbar:in wahrnehmen ist zwar verbunden mit einem erhöhtem Sozialvertrauen, aber ihn forciert herzustellen funktioniert in der Regel nicht und Sozialer Arbeit wird auch nicht das Mandat erteilt, dieses überhaupt zu produzieren. Soziale Arbeit kann Orte zur Begegnung schaffen, ob dies jedoch die Qualität der sozialen Beziehung beeinflusst, obliegt den Nachbar:innen. Dementsprechend steht Soziale Arbeit vor dem Dilemma einer abgewehrten Notwendigkeit der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Perspektivenabhängig ist dies eine Blockade in der Verbesserung der Verhältnisse am Ort (Stövesand 2019), der Förderung des gelingenden Alltags (Thiersch 1992) oder auch der Moderation von Machtverhältnissen durch Ressourcenstärkung (Staub-Bernasconi 2014).

Was Soziale Arbeit also in Bezug auf Nachbarschaft als Ressource des gesellschaftlichen Zusammenhalts in einer fragmentierten Gesellschaft (Kurtenbach/Strohmeier 2025) bleibt, ist die Förderung von Begegnung zwischen Nachbar:innen. Dafür braucht es sowohl der Stärkung bekannter Konzepte, wie Bereitstellung und Moderation dritter Orte, welche sich zu Treffpunkten der Nachbarschaft entwickeln können. Aber auch neue Ansätze, wie Arbeit in hybriden Räumen sind zu erproben und auszuweiten, da die alltägliche Kommunikation selbstverständlich digitaler wird und das Digitale im Alltag mittlerweile eingeschrieben ist (Hatuka et al. 2021). Ebenfalls braucht es der Entwicklung gesellschaftlicher Mittelpunktsorte, die in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen sind. Eine vielversprechende Möglichkeit dazu ist die Entwicklung von Schulen zu Community Zentren (El-Mafaalani et al. 2025). Das bedeutet, dass im Grunde ein Stadtteil-Campus entsteht, bei dem sowohl soziale als auch kulturelle Einrichtungen, aber auch Vereine und gesundheitsbezogene Einrichtungen ihren Platz finden und gemeinsam an der Gestaltung des Alltagsortes von Kindern und Jugendlichen mitwirken. Zugleich sind Community Zentren strukturell offen und bieten nach Möglichkeit auch Platz für Co-Working Spaces für Eltern und auch ein gastronomisches Angebot, wie, dass das Schulessen auch für andere Nutzer:innengruppen des Community Zentrums angeboten wird. Sie bieten aber auch den Kontext für nachbarschaftliche Begegnung, Engagement im Quartier und die Erfahrungen alltäglicher Gemeinsamkeiten.

5. Fazit

Nachbarschaft ist eine komplexe soziale Beziehung mit Besonderheiten und spezifischen Funktionen. Sie kann dabei als Ressource angesehen werden den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu erhalten oder zu fördern. Das ist vor dem Hintergrund sich abzeichnender Fragmentierungstendenzen durchaus hilfreich. Denn in Deutschland steigt das Misstrauen in den Staat und rechtsextreme Einstellungen dringen in die gesellschaftliche Mitte vor (Zick 2023), Netzwerke werden homogener (Teichler et al. 2023) und der Glaube an den Fortschritt wird zunehmend überlagert durch die Furcht vor Verlust (Reckwitz 2024). Allerdings zeigen empirische Befunde, dass diese pessimistischen Perspektiven in der Wahrnehmung der Menschen von ihrer Nachbarschaft nicht zutreffen. Hier ist die Zufriedenheit hoch, Kontakte auch heterogen und beispielsweise findet im lokalen digitalen Raum auch kaum Hate Speech statt.

Allerdings ist es kompliziert diese Ressource tatsächlich zu fördern. Hier weisen die Befunde darauf hin, dass es weniger Initiativen als Infrastrukturen braucht. Hierzu liegen auch eine Reihe von Befunden vor, dass dritte Orte sozialen Zusammenhalt befördern können. Allerdings sind solche in den letzten Jahrzehnten weniger geworden, was unterschiedliche Ursachen hat. Großorganisationen, wie Kirchen, Parteien oder Verbände, haben an Integrationskraft verloren und damit auch ihre Begegnungsorte. Dass solche Orte aber bedeutsam sind und wieder entwickelt werden müssen, wurde bereits erkannt. Dabei gibt es unterschiedliche Vorschläge, wie soziale Orte (Kersten et al. 2022) oder auch Community Zentren (El-Mafaalani et al. 2025). Soziale Arbeit ist dabei vielmehr Ermöglicher nachbarschaftlicher Beziehungen als unmittelbarer Produzent.

Die Nachbarschaftsforschung ist in der deutschsprachigen stadtsoziologischen Debatte ein dauerhaftes Thema und sie dokumentiert, wie sich das alltägliche Zusammenleben verändert und gesellschaftliche Strukturveränderungen verarbeitet werden. Dabei besteht noch weitereichender Forschungsbedarf, wie internationale Vergleiche im Verständnis von Nachbarschaft, die Frage in welchem Verhältnis Nachbarschaft konkret zu benachteiligenden Nachbarschaftseffekten steht oder wie Nachbarschaft bei der sozialen Quartiersentwicklung berücksichtigt werden kann und sollte.

Literatur

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Fußnoten

[1] https://www.staedtebaufoerderung.info/DE/Programme/SozialerZusammenhalt/sozialerzusammenhalt_node.html

[2] https://www.familienzentrum.nrw.de

[3] https://www.ost.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/soziale-arbeit/ifsar-institut-fuer-soziale-arbeit-und-raeume/oeffentliches-leben-und-teilhabe/atlas-der-gemeinwesenarbeit-deutschland-oesterreich-schweiz


Zitiervorschlag

Kurtenbach, Sebastian (2025): Nachbarschaft: eine komplexe Selbstverständlichkeit mit Potenzial. In: sozialraum.de (16) Ausgabe 1/2025. URL: https://www.sozialraum.de/nachbarschaft-eine-komplexe-selbstverstaendlichkeit-mit-potenzial.php, Datum des Zugriffs: 19.06.2025