Aufwachsen auf dem Land

Jugendperspektiven und lokale Transferprozesse im deutsch-schweizerischen Vergleich

Kathrin Amann, Nadine Burtschi, Ulrich Deinet, Johannes Lünenschloss, Christian Reutlinger

1. Einleitung

Obwohl das Stadt-Land-Gefälle als überholte Dichotomie erscheint, bleibt die Debatte um ungleiche Lebensbedingungen zwischen städtischen und ländlichen Räumen aktuell, insbesondere in Bezug auf Ökologie, Wohnen, Mobilität und digitale Infrastruktur (Beetz 2020; Grunert/Ludwig 2024). Inwieweit Konzepte, die vorrangig in urbanen Räumen entwickelt wurden, auf die Jugendarbeit in ländlichen Räumen übertragbar sind oder ob spezifische Rahmenbedingungen vor Ort eine eigenständige Entwicklung erfordern, ist auch eine Frage der Jugendforschung (Hillig 2020; Pfulg/Gilgen 2020; Stein/Scherak 2018).

Nach Angaben des Thünen-Instituts, der führenden deutschen Forschungseinrichtung für ländliche Räume, leben 57 % der deutschen Bevölkerung (ca. 47 Mio. Menschen) in ländlichen Regionen, die 91 % der Fläche Deutschlands ausmachen (Thünen-Institut 2024). Der Thünen-Landatlas 2025 schlägt eine Typologie vor, die „Ländlichkeit“ anhand der Faktoren Bebauung, land- und forstwirtschaftliche Fläche sowie räumliche Lage – insbesondere Nähe oder Entfernung zur nächsten Siedlungsgrenze – beschreibt. „Demnach zählen nicht nur Dörfer, sondern auch viele Klein- und Mittelstädte zu den ländlichen Räumen“ (Thünen-Institut 2024).

Ohne voneinander zu wissen haben zwei Forschungsinstitute – eines in Deutschland, das andere in der Schweiz – Jugendstudien in ländlichen Regionen durchgeführt. Durch bestehende enge Kontakte zwischen den Instituten wurden die Autor:innen dieses Beitrags auf die jeweils andere Studie aufmerksam. Sie stellten fest, dass die Untersuchungsgebiete – Jemgum im Landkreis Leer (Ostfriesland) und vier ländliche Gemeinden am Bodensee – strukturell ähnlich sind: Beide gehören zum ländlichen Raum, liegen aber in der Nähe von Ballungszentren und weisen sowohl kleinstädtische als auch ländliche Strukturen auf.

Die Studie in Ostfriesland wurde im November 2023 vom Institut für Sozialräumliche Praxisforschung und Entwicklung (ISPE e.V.) im Auftrag der Gemeinde Jemgum an Schulen und in Vereinen vor Ort durchgeführt. Die Untersuchung am Bodensee erfolgte zwischen November und Dezember 2022 durch das Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) im Auftrag der Jugendkommission von vier ländlichen Schweizer Gemeinden.

Da der Fokus der Kindheits- und Jugendforschung insbesondere auf der Situation Jugendlicher liegt, lag es nahe, die Ergebnisse der beiden Studien gegenüberzustellen – ohne jedoch einen direkten Vergleich zwischen Ostfriesland und der Bodenseeregion zu erheben. Dennoch zeigten sich bei der Analyse und Diskussion der Ergebnisse auffällige Parallelen hinsichtlich der Lebenssituation Jugendlicher, ihrer Wahrnehmung von Orten und Räumen in ihrem Lebensumfeld sowie ihrer Wahrnehmung von Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit.

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Bodensee-Studie und der Frieslandstudie miteinander verglichen. Dabei erfolgt die Betrachtung entlang thematischer Schwerpunkte.

Zusätzlich werden an einigen Stellen auch die Ergebnisse der Studie „Jugend im Ländlichen Raum Baden-Württembergs“ hineingenommen, die Vergleiche zwischen dem Aufwachsen in der Stadt und auf dem Land zieht, bei der insgesamt 1409 Jugendliche mittels eines Fragebogens befragt wurden, von denen 949 im ländlichen Raum leben und 460 in Städten (Antes et al. 2022); im Text sprechen wir von der «Baden-Württemberg-Studie).

Zunächst werden in Kapitel 2 die von den Jugendlichen genutzten Orte, Räume und Treffpunkte betrachtet. Es geht darum, welche Orte für sie eine besondere Bedeutung haben, wo sie sich aufhalten und welche Rolle diese Orte für ihre Identität und ihr soziales Leben spielen.

Kapitel 3 widmet sich der Frage, wie Jugendliche die vorhandenen Freizeitangebote wahrnehmen und nutzen. Hier wird untersucht, welche Angebote sie tatsächlich nutzen, welche sie als attraktiv oder unzureichend empfinden und welche Faktoren ihre Entscheidungen beeinflussen.

In Kapitel 4 steht das Thema Mobilität im Mittelpunkt. Es wird untersucht, inwieweit sich Jugendliche in ihrem Wohnumfeld frei bewegen können, welche Verkehrsmittel ihnen zur Verfügung stehen und welche Hindernisse sie dabei wahrnehmen.

Kapitel 5 beleuchtet die Einschätzungen der Jugendlichen zu ihrem Wohlbefinden in der Gemeinde. Es geht darum, wie sie ihre Wohnsituation erleben, ob sie sich wohl fühlen und welche Faktoren dazu beitragen bzw. ihr Wohlbefinden beeinträchtigen.

Kapitel 6 beschäftigt sich mit den Wünschen der Jugendlichen an die Angebote in ihrer Gemeinde. Dabei geht es nicht nur um ihre Erwartungen an die Kinder- und Jugendarbeit, sondern auch um weitergehende Angebote, die sie sich für ihr Lebensumfeld wünschen.

Abschließend gibt Kapitel 7 unter der Überschrift „Transfer, Empfehlungen, Ausblick“ einen Überblick über die im Rahmen der beiden Studien durchgeführten Transferveranstaltungen und -aktivitäten. Darüber hinaus wird diskutiert, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit transferiert werden können und welche Herausforderungen und Chancen dabei bestehen.

2. Orte, Räume, Treffpunkte – Einschätzungen junger Menschen zu ihrem Lebenswelten im Vergleich

In diesem Kapitel geht es um die Orte, Räume, Treffpunkte und Tätigkeiten von Jugendlichen in ihrer näheren und weiteren Umgebung. Die Einschätzungen der Jugendlichen wurden in beiden Studien zum einen mit Hilfe von Fragebögen bzw. Kurzinterviews erhoben, zum anderen wurde die so genannte „Nadelmethode“ eingesetzt (Krisch 2008, 95; Deinet 2009, 72): Die Nadelmethode ist ein qualitatives Verfahren zur Visualisierung und Bewertung bestimmter Orte und Plätze. Bei dieser aktivierenden Methode werden bestimmte Orte von den Jugendlichen mit verschiedenfarbigen Stecknadeln auf Karten markiert. Die Orte werden qualitativ bewertet und kommentiert (ebd.). Die Kommentare können z. B. die Aufenthaltsqualitäten eines Treffpunktes wiedergeben, konkrete Gründe nennen, warum bestimmte Orte aufgesucht oder gemieden werden, oder Aktivitäten beschreiben, die mit den Orten verbunden sind.

Die Befragung der jungen Menschen in den vier Bodenseegemeinden hat gezeigt, dass sie ihre Freizeit am liebsten in Gesellschaft von Freund:innen verbringen. Dabei wird deutlich, dass die Gemeinden nach Meinung der Jugendlichen nicht über die räumlichen Möglichkeiten verfügen, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Die jungen Menschen vermissen vor allem Orte, an denen sie sich unabhängig von Wetterbedingungen aufhalten können. Sie bemängeln sowohl das Fehlen geschützter Innen- als auch Außenräume, die gemütliche Sitzgelegenheiten bieten und ein ungestörtes Zusammensein ermöglichen. Insbesondere wünschen sie sich Rückzugsorte, an denen sie Musik hören und sich entspannen können, ohne von Erwachsenen gestört oder ermahnt zu werden. Neben allgemeinen Aussagen zur Qualität fehlender Räume werden die Bedürfnisse der Jugendlichen auch konkret benannt: Sie wünschen sich gastronomische Angebote wie Restaurants, Imbisse sowie Partys und Events. Darüber hinaus wären Sportmöglichkeiten wie ein Beachvolleyballfeld, ein Fitnessstudio, eine Reit- oder Trampolinhalle, ein Streetscooterpark oder ein Hallenbad von großem Interesse. Besonders häufig wird auch der Wunsch nach einem eigenen Jugendraum geäußert.

Auch in der untersuchten Gemeinde Ostfrieslands ist Peer-Kultur ein entscheidender Faktor, wenn es um die Bedeutung von Orten, Räume und Treffpunkte in der Freizeitgestaltung geht. Im Fragebogen ist so das Treffen von Freund:innen mit 50,9 % die von den befragten Jugendlichen am häufigsten genannte Freizeitaktivität und der Wohnort von Freund:innen ist mit 71,3 % der am meisten erwähnte Freizeitort. In der Nadelmethode werden viele Orte genannt, weil dort Peers wohnen und auch in den Gruppendiskussionen wird beinahe immer der Kontakt zu Peers mit erwähnt. Viele der weiteren genannten Aktivitäten stehen auch oft im Kontext des Peer-Kontakts, in die Kreisstadt Leer fahren Jugendliche mit Freund:innen oder sie spielen mit ihnen in einer Fußballmannschaft. Die Stadt Leer selbst wird als zweit häufigster Freizeitort genannt, die Jugendlichen schätzen hier die Einkaufsmöglichkeiten und Gastronomie, deren Ausbau sie sich in ihrer Heimatgemeinde wünschen. Wichtige Treffpunkte für die befragten Jugendlichen vor Ort sind die Häfen in den beiden Orten Jemgum und Ditzum ihrer Heimatgemeinde. Sie wünschen sich jedoch genuine Orte und Angebote für Jugendliche, dem Mangel daran begegnen sie etwa mit der Umnutzung der alten Ziegelei als „Jugendtreff“. Es äußern im Fragebogen 11,5 % der Jugendlichen den Wunsch nach einem Jugendzentrum oder anderen Orten für Jugendliche, und 10,3 % den Wunsch nach mehr Aktivitäten und Veranstaltungen für junge Menschen.

Sport, ob im Verein oder unverbindlich in der Freizeit betrieben, stellt für die befragten Jugendlichen eine zentrale Freizeitbeschäftigung dar, die meisten Befragten spielen Fußball. Gespielt wird oft auf einem Platz im Hauptort der Gemeinde ganz in der Nähe des Fußballvereins, welcher der meistgenannte Verein ist. Neben dem Fußballverein sind viele Jugendliche in der Jugendfeuerwehr oder in der kirchennahen Verbandsjugend organisiert. Hier schätzen sie Gemeinschaft zu erleben und gemeinsam zu kochen oder Filme zu schauen.

Das Angeln und auch der generelle Aufenthalt in der Natur spielen für die befragten Jugendlichen eine Rolle, auch wenn die Begeisterung dafür, im Fragebogen mit zunehmendem Alter abnimmt. Über die Tätigkeit des Angelns scheinen sie sich auch für Umweltbelange zu sensibilisieren.

2.1 Ergebnisse der Befragung mit der Nadelmethode (Ostfriesland)

Die befragten Jugendlichen wurden bei der Nadelmethode aufgefordert, auf einer dafür zur Verfügung gestellten Karte der verschiedenen Ortschaften der Gemeinde Jemgum und ihres Umlandes Orte, die ihnen gefallen mit einer grünen Stecknadel, Orte die ihnen nicht gefallen mit einer roten Nadel und Orte an denen sie sich in ihrer Freizeit oft aufhalten mit einer gelben Nadel zu markieren. Insgesamt wurden mit der Nadelmethode 62 Jugendliche befragt im Alter von 12-15 Jahren.

In der Quantität ergaben sich so folgende Markierungshäufigkeiten:

Grün – Positiver Ort 181
Rot – Negativer Ort 78
Gelb – Freizeitort 164
Gesamt 422

Umland

Die im Umland liegenden Orte, Bunde (9), Neermoor (3) und Weener (9) werden vor allem genannt im Zusammenhang mit Fussballvereinen und Schwimmbädern bzw. Seen. In Ditzumer Verlaat (10) sowie Bingum (9) haben durch den Einzugsbereich der Schule viele Jugendliche ihren Lebensmittelpunkt, so finden sich hier auch Schilderungen des Familienlebens. Die Kreisstadt Leer (19) besuchen die Jugendlichen gerne in ihrer Freizeit mit Freund:innen um dort in der Ems-Park Mall zu shoppen, ins Kino zu gehen oder im Hafen zu chillen. Die Hin und Rückfahrt mit dem Bus wird oft problematisch erlebt und als negativer Ort der Bahnhof identifiziert.

Jemgum

Der Ort Jemgum (13) selbst wird zwar als „schön“ erlebt, man habe dort alles, was man brauche, jedoch sagen Jugendliche auch „in Jemgum gibt es gar nichts“. Zentraler Treffpunkt scheint der Hafen (29) zu sein, hier kann man „abhängen und Musik hören“ und er wird auch als Rückzugsort geschätzt, um die Ems zu betrachten. Bei den älteren Befragten ist hier auch Alkohol ein Thema, was von den Jüngeren wiederum kritisiert wird. Auch der Soccer-Platz (21), ein über den DFB finanzierter Fussballplatz, wird als „Basic-Ort“ bezeichnet und genutzt um Freund:innen zu treffen, oder Fussball als Freizeitsport zu betreiben, der örtliche Verein SV Ems (19) grenzt direkt an das Areal. Die drei Spielplätze (insg. 12) werden auch als Treffpunkt erwähnt, jedoch als „komplett kaputt und dreckig“ beschrieben. Die Jemgumer Sekundarschule (16) wird mit 9-mal am häufigsten negativ markiert, da der Unterricht früh startet und die Jugendlichen teils weite Wege haben. Der einzige Supermarkt im Ort (13) wird in seiner Versorgungsrolle entsprechend als „gut zum Abhängen und Einkaufen“ wahrgenommen. Als Natur-Orte werden das Jemgumer Tief (10) sowie der Tote Weg (7), wo die Jugendlichen Fahrradfahren oder auch oft Angeln gehen, sowie der Deich bei Jemgum (6) als Rückzugsort genannt. Ausschliesslich negativ gesehen wird die Industriebrache der alten Ziegelei (6), diese sei ein „Schandfleck“ der Platz machen solle für ein Schwimmbad, ein Hotel oder weitere Pläne der Jugendlichen.

Der zweitgrösste Ortsteil der Gemeinde Jemgum Ditzum (8) wird besonders wegen des dortigen Hafens (16) als Ausflugsziel beschrieben, das Fischhaus wird geschätzt sowie andere Möglichkeiten und Sehenswürdigkeiten. Der hier ansässige Sportplatz und Sportverein (5) werden nur wenig genannt, es bestehet auch zum Befragungszeitraum im Jugendbereich keine Mannschaft. Die weiteren Ortsteile der Gemeinde werden unterschiedlich erlebt. Critzum (8) wird als Wohnort geschätzt und scheint eine intakte Dorfgemeinschaft zu haben, ebenso Midlum (4) das aufgrund des dortigen Reitstalls (3) auch als Freizeitort genannt wird. Hatzum (3) hingegen sei langweilig und die Autos verstopfen die zentrale Strasse der Gemeinde. Als beliebter Freizeitort im Sommer wird der nahe der A31 gelegene Badesee Soltborg (7) von den Jugendlichen genannt.

Folgende Darstellung fasst die Ergebnisse grafisch zusammen:

Die in der Nadelmethode in Jemgum markierten Orte

Abbildung 1: Die in der Nadelmethode in Jemgum markierten Orte (Quelle: Eigene Darstellung)

2.2 Ergebnisse der Befragung mit der Nadelmethode (Bodensee)

Bei der dort eingesetzten digitalen Nadelmethode (Dummer/Malcherowitz/Weck 2015) wurden die befragten Jugendlichen in einem ersten Schritt darum gebeten, für sie relevante Orte auf einem Kartenausschnitt von Google Maps, der die vier Gemeinden zeigt, zu markieren. Die Markierung erfolgt durch das Setzen eines Pins. Dem Pin musste jeweils ein Titel gegeben und eine Beschreibung hinzugefügt werden. Als Titel standen drei Symbole zur Auswahl, die eine erste Bewertung ermöglichten:

+ steht für einen Ort, an welchem du gerne bist, an dem du dich viel aufhältst und entspannt bist
- steht für einen Ort, an welchem du dich unwohl fühlst, an dem es oft zu Stress kommt, der verdreckt und unangenehm ist
* steht für einen Ort, der für dich/deine Freund:innen speziell, etwas Besonderes ist

Das Ziel der digitalen Nadelmethode war es, herauszufinden, welche Orte die befragten Jugendlichen in den Fokus nehmen und wie sie diese bewerten. Mithilfe des Online-Kartendienstes Google Maps konnten die Daten systematisch erfasst, visualisiert und ausgewertet werden. Dadurch wurden bislang verborgene Wahrnehmungen und Erfahrungen sichtbar gemacht. Die quantitative Auswertung der Nadelmethode ergab folgendes Bild:

+ 280
- 139
* 170
Anderes 54
Gesamt 643

Die Auswertung der qualitativen Beschreibung der Orte durch die Jugendlichen erfolgte zur Komplexitätsreduktion inhaltsanalytisch, indem diese kategorisiert und gruppiert wurden. Sie zeigt ein vielfältiges Bild der Wahrnehmung und Erfahrungen der befragten Jugendlichen an den von ihnen markierten Orten. Positive Orte wurden vor allem mit angenehmen Aktivitäten und Gefühlen in Verbindung gebracht. Besonders häufig nannten die Jugendlichen in den Beschreibungen Begriffe wie Essen (40 Nennungen), zuhause (37), Chillen (35) und Freunde (31). Diese Begriffe spiegeln Orte wider, an denen sie sich wohlfühlen, entspannen können oder soziale Interaktionen erleben. In Verbindung mit positiven Orten wurden zudem Aktivitäten wie Sport (21), Schwimmen (17) und Entspannen (13) erwähnt sowie die Begrifflichkeiten Sommer (11), Besuch im Verein (11) sowie Einkaufen und Treffpunkte (jeweils 10) verwendet, die zeigen, wie entsprechende Orte für Freizeitgestaltung und Gemeinschaft stehen.

Negative Orte hingegen wurden mit weniger erfreulichen Erfahrungen beschrieben. Besonders häufig wurde die Schule (20 Nennungen) als negativ wahrgenommen. In Verbindung mit negativ bewerteten Orten wurde häufig das Stichwort Stress (7) verwendet sowie in Verbindung mit spezifischen Orten, wie zum Beispiel dem Bahnhof, Aspekte wie Gestank, unfreundliche Mitarbeitende und ein generelles Gefühl des Unwohlseins (jeweils 4 Nennungen). Interessanterweise wurde auch das Zuhause (4) in einigen Fällen negativ bewertet, was auf mögliche Konflikte oder Belastungen hindeuten könnte. Bei den speziellen Orten, welche die Jugendlichen als besonders oder bedeutend beschrieben, stehen vor allem soziale und gemeinschaftliche Aspekte im Vordergrund. Freunde (20), Essen (21) und Zuhause (18) wurden hier ebenfalls häufig genannt. Orte, die für Chillen (18) und Schwimmen (11) genutzt werden, scheinen ebenso eine besondere Bedeutung zu haben. Weitere Beschreibungen umfassen Treffpunkte (11), Orte voller Erinnerungen (10), Spass (9) und Sport (9), was die Bedeutung von Freizeitaktivitäten und sozialen Interaktionen unterstreicht.

Im Anschluss an die Durchführung der Nadelmethode wurde die dabei entstandene Karte gemeinsam mit den befragten Jugendlichen diskutiert.

Die in der Nadelmethode in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee markierten Orte

Abbildung 2: Die in der Nadelmethode in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee markierten Orte (Quelle: Eigene Darstellung)

Auf dem Kartenausschnitt von Google Maps sind sämtliche Markierungen der Jugendlichen aus der Nadelmethode sichtbar (grün für positiv besetzte Orte, rot für negativ besetzte Orte, blau für Orte mit besonderer Bedeutung). Die Streuung zeigt, dass es stärker und weniger stark frequentierte Orte gibt. Ein eindeutiges Zentrum innerhalb der vier Gemeinden lässt sich aus Sicht der jungen Menschen nicht abbilden. Zudem sind kaum ausschliesslich positiv oder negativ bewertete Orte erkennbar.

Die Gruppendiskussionen ergaben drei zentrale Themen. Jugendliche äusserten zahlreiche Wünsche, darunter neue Angebote wie ein Hallenbad, Einkaufsmöglichkeiten, eine Schlittschuhbahn, einen Indoor-Pump Track, einen Skillspark und zusätzliche Grillstellen. Zudem wurde die Wiederaufnahme der offenen Turnhalle angeregt. Ein weiterer Schwerpunkt war der Bedarf nach einem Jugendraum mit Sofas, einer Küche, Spielmöglichkeiten und einer abschliessbaren WC-Anlage. Es wurden kontroverse Diskussionen über Öffnungszeiten, Aufsicht und den Konsum von Alkohol und Tabak geführt, wobei ältere Jugendliche eine Bar-ähnliche Einrichtung bevorzugten. Im Bereich der Kommunikation wurden Zeitungen und Gemeindewebseiten als ungeeignet empfunden. Stattdessen wurden eine jugendfreundliche, mobiloptimierte Website, Plakate und Briefe als Informationskanäle vorgeschlagen, wobei Briefe besonders positiv bewertet wurden.

3. Kenntnis und Akzeptanz von Jugendarbeit im ländlichen Raum durch Jugendliche

Bevor auf die Nutzung und Wirkung von Jugendangeboten eingegangen wird, stellt sich die Frage, inwieweit die vorhandenen Jugendangebote und Jugendeinrichtungen den Jugendlichen überhaupt bekannt sind und in einem zweiten Schritt auch genutzt werden und welche Erwartungen sie an die Angebote der Jugendarbeit haben.

In der Bodensee-Studie konnten die Jugendlichen verschiedene Aussagen zu Freizeitangeboten in ihrer Umgebung in einem Spektrum zwischen „stimmt“, „stimmt eher“, „stimmt eher nicht“ und „stimmt nicht“ bewerten. Über 60 % der Jugendlichen interessieren sich für Freizeitangebote in ihrer Umgebung. Diese sind auch 60 % der Jugendlichen bekannt. Bezüglich der Nutzung von Freizeitangeboten in ihrer Umgebung stimmen 46 % den Aussagen „stimmt“ oder „stimmt eher“ zu. 52 % der Befragten geben an, dass ihnen die Freizeitangebote in ihrer Umgebung gefallen.

Häufigkeit der Nennungen in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee zu Freizeitangeboten

Abbildung 3: Häufigkeit der Nennungen in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee zu Freizeitangeboten (Quelle: Eigene Darstellung)

In der Ostfriesland-Studie wurde explizit gefragt, ob Jugendliche Angebote für Jugendliche kennen und diese auch nutzen. 44 % der Befragten verneinen dies, 29 % kennen und nutzen Angebote für Jugendliche, 27 % kennen sie, nutzen sie aber nicht.

Häufigkeiten von Kenntnis und Nutzung von Angeboten für Jugendliche in und um Jemgum

Abbildung 4: Häufigkeiten von Kenntnis und Nutzung von Angeboten für Jugendliche in und um Jemgum (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Ostfriesland-Studie bietet auch einen Blick auf die Nutzung von Angeboten für Jugendliche differenziert nach Alter.

Nutzung von Angeboten für Jugendliche in und um Jemgum nach Alter, Angaben in Prozent

Abbildung 5: Nutzung von Angeboten für Jugendliche in und um Jemgum nach Alter, Angaben in Prozent (Quelle: Eigene Darstellung)

Im Hinblick auf das Alter der Befragten wird auch hier deutlich, dass die jüngeren Befragten eher angeben, kein Jugendangebot zu kennen, die älteren Jugendlichen aber häufig angeben, das geschlossene Jugendzentrum in Jemgum zu kennen und besucht zu haben.

Erstaunlich ist in beiden Studien die hohe Zahl der Jugendlichen, denen Angebote der Jugendarbeit gar nicht bekannt sind. Deshalb macht es an dieser Stelle auch Sinn, die Ergebnisse anderer Studien mit einzubeziehen.

In der Baden-Württemberg-Studie (Antes et al. 2022) wurde auch nach der Bekanntheit der Angebote am Wohnort gefragt. In der baden-württembergischen Studie gibt es auch einen Stadt-Land-Vergleich und Jugendhäuser bzw. Jugendtreffs kennen 42 % der Befragten im ländlichen Raum (56 % im städtischen Raum). 41 % der Befragten im ländlichen Raum kennen Jugendhäuser, Jugendtreffs nicht, im städtischen Raum sind es nur 25 %. Ähnliche Werte ergeben sich für Treffpunkte im Freien, speziell für Jugendliche oder auch andere
Räume wie Bauwagen etc.

Welche Angebote gibt es an deinem Wohnort, Baden-Württemberg, differenziert nach Stadt-Land

Abbildung 6: Welche Angebote gibt es an deinem Wohnort, Baden-Württemberg, differenziert nach Stadt-Land (Eigene Darstellung, Datenquelle: Antes et al. 2022, 30)

4. Unterwegs sein (können) – Die Bedeutung von Mobilität für junge Menschen

Die Mobilität der Jugendlichen spielt eine zentrale Rolle bei der Aneignung ihrer Umwelt, wie sie in beiden Studien beschrieben wird. Vor allem im ländlichen Raum ist es von entscheidender Bedeutung, dass Jugendliche sich zwischen verschiedenen Orten bewegen können, sei es innerhalb ihrer Gemeinde, zwischen Ortsteilen oder in Nachbargemeinden. Diese Mobilität ermöglicht es ihnen, unterschiedliche Räume zu erkunden und aktiv zu gestalten, was ein wesentlicher Bestandteil ihrer „Entwicklungsarbeit“ ist. Ohne vielfältige Mobilitätsformen wäre dieser Prozess der Raumaneignung kaum denkbar.

Dabei kann Mobilität heute nicht mehr nur als physische Fortbewegung verstanden werden. Ein flexibles und relationales Raumverständnis, wie es u. a. Martina Löw beschreibt, zeigt, dass sich physische und virtuelle Räume zunehmend überlagern (Löw 2001, 103). Die Nutzung sozialer Medien erweitert den Bewegungsradius junger Menschen und ermöglicht es ihnen, soziale Kontakte und Interaktionen unabhängig von räumlichen Distanzen aufrechtzuerhalten. So verschmelzen traditionelle Fortbewegungsarten mit digitaler Vernetzung zu einer neuen Form der Mobilität, die Claus Tully treffend als „Mobilisierung des Mobilen“ (Tully 2011) bezeichnete. Die Ergebnisse der im folgenden Kapitel vorgestellten Studien werden daher auch unter diesem erweiterten Mobilitätsbegriff interpretiert.

4.1 Mobilität Bodensee

Fast alle Befragten in der Bodensee-Studie (96 %) fühlen sich wohl, wenn sie in ihrer Umgebung unterwegs sind. Innerhalb der vier Gemeinden bewegen sich die meisten jungen Menschen mit dem Velo, zu Fuss oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Mehr als ein Drittel der Befragten gibt an, dass es Orte in ihrer Umgebung gibt, die sie gerne erreichen würden, aber nur schlecht erreichen können. Es wird mehrfach erwähnt, dass die Abgeschiedenheit der Gemeinde Langrickenbach die Mobilität beeinflusst."

Häufigkeit der Nennungen zur Aussage «Ich fühle mich wohl, wenn ich in meiner Umgebung unterwegs bin» in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee

Abbildung 7: Häufigkeit der Nennungen zur Aussage «Ich fühle mich wohl, wenn ich in meiner Umgebung unterwegs bin» in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee (Quelle: Eigene Darstellung)

Der Aussage «Es gibt Orte in meiner Umgebung, die ich gerne erreichen würde, aber nur schlecht erreichen kann» stimmt etwa ein Drittel der Teilnehmenden (35 %) zu.

Häufigkeit der Nennungen zur Aussage «Es gibt Orte in meiner Umgebung, die ich gerne erreichen würde, aber nur schlecht erreichen kann» in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee

Abbildung 8: Häufigkeit der Nennungen zur Aussage «Es gibt Orte in meiner Umgebung, die ich gerne erreichen würde, aber nur schlecht erreichen kann» in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee (Quelle: Eigene Darstellung)

Das Velo ist für alle Teilnehmenden das Hauptfortbewegungsmittel in ihrer Umgebung. Es fällt des Weiteren auf, dass 12-15-Jährige im Vergleich zu den älteren Jugendlichen vermehrt zu Fuss unterwegs sind. Die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen über ein Drittel der Teilnehmenden.

Häufigkeit der Nennungen zur Aussage «Wenn ich an bestimmte Orte in meiner Umgebung kommen möchte, gehe ich …» in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee

Abbildung 9: Häufigkeit der Nennungen zur Aussage «Wenn ich an bestimmte Orte in meiner Umgebung kommen möchte, gehe ich …» in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee (Quelle: Eigene Darstellung)

4.2 Mobilität Ostfriesland

Mit 48 % gibt fast die Hälfte der Befragten in Ostfriesland an, ihre Freizeit grösstenteils in der Nähe des Wohnortes zu verbringen. Im gesamten Gebiet der Gemeinde unterwegs sind 36 % der befragten Jugendlichen. Lediglich 16 % führen an, ihre Freizeit grösstenteils woanders zu verbringen. Es zeigt sich, dass eher ältere Jugendliche ihre Freizeit ausserhalb der Gemeinde Jemgum verbringen und diese eher männlich sind.

Freizeitorte der Befragten in und um Jemgum

Abbildung 10: Freizeitorte der Befragten in und um Jemgum (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Jugendlichen wurden auch gefragt, auf welche Art sie mobil sind, wobei auch Mehrfachnennungen möglich waren. Das Fahrrad wurde von 75,9 % der Befragten genannt, mithilfe des öffentlichen Personennahverkehrs, insbesondere mit Bussen, sind 42,9 % der Jugendlichen unterwegs. Das Auto – hier zumeist als Beifahrer*innen bei den Eltern – wird von 33 % angegeben. Zu Fuss sind 32,1 % unterwegs. Unter den von 17,9 % der befragten Jugendlichen genannten sonstigen Mobilitätsformen wurden Angaben wie Inliner-Fahren, Mofas oder Mopeds, E-Scooter oder auch Treckerfahren zusammengefasst.

Art der Nutzung von Verkehrsmitteln der Befragten in und um Jemgum

Abbildung 11: Art der Nutzung von Verkehrsmitteln der Befragten in und um Jemgum (Mehrfachnennungen möglich) (Quelle: Eigene Darstellung)

Deutlich wird, dass mit zunehmendem Alter die Erweiterung des Handlungsraumes eine grosse Rolle spielt und dabei fehlende Möglichkeiten der Mobilität Hindernisse darstellen und bemängelt werden.

Interessant ist, dass die Jugendlichen eine Vielzahl von Fortbewegungsmitteln nutzen und dabei stark auf den Personennahverkehr angewiesen sind, jedoch nutzen sie auch eigene Fortbewegungsmittel wie Fahrräder etc.

5. Einschätzungen zum Wohlbefinden junger Menschen in den Gemeinden

In diesem Kapitel geht es um das Wohlbefinden junger Menschen als Selbsteinschätzung ihrer Lebenssituation und Lebenszufriedenheit in ihren jeweiligen Lebenswelten. Der aus den Gesundheitswissenschaften stammende Begriff des „Wohlbefindens (Well-Being)“ spielt in den letzten Jahren auch in der Kindheits- und Jugendforschung eine immer grössere Rolle. Dabei geht es zum einen um die subjektive Einschätzung der befragten Jugendlichen, zum anderen aber auch um die Aspekte, die sie mit Wohlbefinden und Zufriedenheit in ihrer Umwelt verbinden. Die bereits abgefragten räumlichen Qualitäten von Orten, Räumen und Mobilitätsräumen stehen somit in direktem Zusammenhang mit der Frage nach dem Wohlbefinden.

Der Grossteil der 12-15-Jährigen und älteren Jugendlichen in der Bodensee-Studie fühlt sich sowohl im Dorf als auch im Freundeskreis und in der Familie wohl.

Orte des Wohlfühlens in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee

Abbildung 12: Orte des Wohlfühlens in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee (Quelle: Eigene Darstellung)

Gleichwohl zeigen sich Differenzierungen zur Lebenszufriedenheit je nach Geschlecht der Befragten.

Lebenszufriedenheit nach Geschlecht in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee

Abbildung 13: Lebenszufriedenheit nach Geschlecht in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee (Quelle: Eigene Darstellung)

Und auch in Bezug auf das Alter der Befragten zeigten sich Differenzierungen zur Lebenszufriedenheit.

Lebenszufriedenheit nach Alter in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee

Abbildung 14: Lebenszufriedenheit nach Alter in den vier ländlichen Gemeinden am Bodensee (Quelle: Eigene Darstellung)

In der Ostfriesland-Studie wurde das Wohlbefinden der Jugendlichen im Fragebogen nicht wie in der Bodensee-Studie direkt abgefragt, aber in den Gruppendiskussionen verstärkter thematisiert. Hier wird das Thema oft im Kontext des Zugangs zu Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten diskutiert. Einige Jugendliche würden sich hier mehr Möglichkeiten wünschen, anderen Jugendlichen wiederum scheint das Angebot in Relation zur Grösse der Gemeinde ausreichend: „dafür, dass Jemgum klein ist, hat es alles, was man eigentlich braucht“.

Um vorhandene Freizeitmöglichkeiten zu erhalten oder auch auszubauen wird auch häufiger die Idee vorgebracht, die Kooperationen zwischen den örtlichen Fussballvereinen und den Jugendfeuerwehren auszubauen. Eine solche Bündelung von Ressourcen könnte so verhindern, dass, etwa wie im Ortsteil Ditzum, Mannschaften aufgelöst werden müssen, da es so an Trainer:innen oder Mitspieler:innen mangelt. Hier gelte es zunächst alte stereotype ortsbezogene Feindschaften zu überwinden: „Ja, aber eigentlich waren vorher Jemgum und Ditzum die Feinde, weil die sind eigentlich gegeneinander. Aber es wäre auch cool, wenn wir uns mit dem Trainingsort abwechseln könnten“.

Die befragten Jugendlichen äußerten ein hohes Mass an Wohlbefinden in ihrer jeweiligen Gemeinde. Dies zeigt auch die Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, sich in ländlichen Räumen gut einzurichten und zurechtzufinden. Um einen Blick über bestehende Arrangements hinaus zu erhalten ist es sinnvoll, in einem weiteren Schritt nach den Wünschen der Jugendlichen zu fragen und mehr über die Differenzen zwischen den Aspekten des Wohlbefindens und den (unerfüllten) Wünschen und Erwartungen zu finden.

6. Welche Angebote wünschen sich Jugendliche in der Gemeinde?

In der Ostfriesland-Studie spielen die Wünsche und Erwartungen der Jugendlichen eine zentrale Rolle, da im Bürgerhaus ein neuer Jugendraum entstehen soll. Die Jugendlichen wurden daher gezielt gefragt, welche Angebote sie sich dort wünschen, um den Raum regelmäßig nutzen zu können. An Ausstattung des neuen Raumes wünschten sich 48,6 % eine gemütliche Sitzecke, 31,4 % eine Gaming-Konsole sowie 27,6 % einen Tischkicker. Zum Abschluss des Fragebogens konnten die Jugendlichen drei offene Wünsche an die Gemeinde äußern. Viele der Wünsche stehen hier im Kontext der Verbesserung bzw. Renovierung von öffentlichen Orten. So wünschen sich 20,7 % der Jugendlichen bessere Spielplätze, 17,2 % möchten erneuerte Straßen und 9,2 % wünschen sich die Beseitigung von Müll im öffentlichen Raum. Bezogen auf OKJA wünschen sich 11,5 % der Jugendlichen ein Jugendzentrum sowie 10,3 % mehr Angebote für junge Menschen. Die Wünsche fallen in Ostfriesland somit meist eher pragmatisch aus und beziehen sich auf die direkte Lebenswelt der Jugendlichen.

In der Bodensee-Studie wurde das Freizeitangebot aus einer breiteren Perspektive betrachtet. Neben einer allgemeinen Einschätzung, ob genügend Freizeitmöglichkeiten in der Region vorhanden sind – die Ergebnisse hierzu bleiben eher unspezifisch – wurden mit der Nadelmethode Treffpunkte auf Karten markiert. Zusätzlich wurden Gruppendiskussionen mit Jugendlichen durchgeführt, um deren Bedürfnisse genauer zu erfassen.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Jugendlichen vor allem Treffpunkte sowie gastronomische und sportliche Angebote wünschen. Während sie im Sommer Orte wie Seeufer, Grillplätze oder Pumptracks nutzen, fehlt es vor allem an geeigneten Orten für den Winter und bei schlechtem Wetter. Besonders hervorgehoben wurde der Wunsch nach einem Jugendraum als Rückzugs- und Aufenthaltsort. Dieser sollte mit Sofas, einer Küche, Spielmöglichkeiten wie Tischtennis oder Billard sowie abschließbaren Toiletten ausgestattet sein. Die Jugendlichen betonten, dass eine gemütliche und warme Atmosphäre besonders wichtig sei.

Hinsichtlich der Nutzung und Betreuung des Jugendraums gingen die Meinungen auseinander: Während sich einige Jugendliche eine autonome Nutzung ohne Aufsicht wünschen, befürworten andere eine teilweise oder verpflichtende Betreuung, um Konflikte zu vermeiden. Betont wurde auch die Notwendigkeit altersspezifischer Angebote, um den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Jugendgruppen gerecht zu werden.

Die Studie in Baden-Württemberg von Antes et al. (2022) untersucht die Unterschiede zwischen dem Aufwachsen in der Stadt und auf dem Land. Dazu wurden 1409 Jugendliche befragt – 949 aus ländlichen und 460 aus städtischen Regionen. Die Ergebnisse zeigen noch einmal die Unterschiede zwischen Stadt und Land. Während sich auch hier Jugendliche im ländlichen Raum über fehlende Treffpunkte und Freizeitangebote beklagen, finden sie im Vergleich zum städtischen Raum dennoch mehr Möglichkeiten, sich in ihrem Umfeld informell zu treffen.

Welche Freizeitangebote vermisst du an deinem Wohnort? Baden-Württemberg, differenziert nach Stadt-Land

Abbildung 15: Welche Freizeitangebote vermisst du an deinem Wohnort? Baden-Württemberg, differenziert nach Stadt-Land (Eigene Darstellung, Datenquelle: Antes et al. 2022, 31)

Die Ergebnisse der Studie aus Baden-Württemberg und unserer kleinen Studien am Bodensee und in Ostfriesland zeichnen ein ambivalentes Bild: Einerseits mangelt es Jugendlichen im ländlichen Raum an Treffpunkten, Einrichtungen und Angeboten. Andererseits scheint ihr sozialer Raum flexibler zu sein als in städtischen Gebieten, wo Begegnungsmöglichkeiten stärker reglementiert sind.

Berücksichtigt man, dass die Infrastruktur der Offenen Kinder- und Jugendarbeit im ländlichen Raum oft schwächer ausgeprägt ist als in städtischen Gebieten, erscheinen viele der Befunde nachvollziehbar. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land zeigen sich weniger in der Nutzung jugendspezifischer Angebote als vielmehr in allgemeinen infrastrukturellen Aspekten wie Einkaufsmöglichkeiten oder öffentlichen Treffpunkten. Auffällig ist auch, dass Angebote der Jugendarbeit – selbst wenn sie vorhanden sind – nicht selbstverständlich genutzt werden: Viele Jugendliche kennen die vorhandenen Angebote nicht oder nehmen sie aus unterschiedlichen Gründen nicht wahr. Dieses Muster zeigt sich sowohl im ländlichen als auch im städtischen Raum und verweist auf eine zentrale Herausforderung für die Gestaltung jugendgerechter Angebote.

7. Transfer, Empfehlungen, Ausblick

7.1 Transfer im Ostfriesland-Projekt

Die Ergebnisse der Studie in der Gemeinde Jemgum in Ostfriesland wurden im örtlichen Jugendhilfeausschuss präsentiert, über weitere daraus abgeleitete Schritte liegt dem ISPE leider nichts vor. Die Ergebnisse der im gleichen Zeitraum durchgeführten Kinderbefragung wurden den befragten Kindern in altersgerechter Art durch das Forschungsteam in den Schulen präsentiert. Die Kinder konnten hier im Sinne einer kommunikativen Validierung die Ergebnisse bewerten und kommentieren (Gormanns/Dittrich 2025). Eine vergleichbare Präsentation konnte für die Jugendbefragung in der Sekundarschule nicht umgesetzt werden.

7.2 Transfer im Bodensee-Projekt

Deutlich intensivere Transferschritte konnten in der Bodensee-Studie umgesetzt werden. Nachdem die Perspektiven junger Menschen der vier Bodensee-Gemeinden erhoben, analysiert und mit den Jugendkommissionen der Gemeinden diskutiert worden waren, bestand die nächste Aufgabe darin, diese Erkenntnisse an die politischen Entscheidungsträger:innen weiterzugeben. Ziel dieses Wissenstransfers war es, sicherzustellen, dass die gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis wirksam werden. Zu diesem Zweck lud die Jugendkommission 19 Vertreter:innen aus Kommunalpolitik, Schulsozialarbeit, Schulpflege und Kirche ein, um gemeinsam die Ergebnisse der Sozialraumanalyse zu reflektieren und daraus konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Handlungsempfehlungen

Grundlage der Diskussion am runden Tisch, der an einem Abend in Altnau stattfand, waren vier Handlungsempfehlungen, die die Forscher:innen auf Basis der erhobenen Daten formuliert hatten:

  1. Mobiler Treffpunkt: Jugendliche äußerten das Bedürfnis nach einem eigenen Raum in den Gemeinden. Ein mobiles Treffpunktangebot könnte eine niederschwellige und flexible Lösung bieten, die allen Anspruchsgruppen innerhalb der Gemeinden zugänglich ist.
  2. Bessere Informationsvermittlung: Zwei Drittel der befragten Jugendlichen gaben an, wenig über bestehende Unterstützungsangebote zu wissen. Dies legt nahe, dass die Kommunikation über vorhandene Angebote verstärkt und regelmäßig wiederholt werden sollte.
  3. Kommunikationskonzept: Ein solches Konzept könnte der Jugendkommission als Grundlage dienen, um den internen Austausch zu optimieren, eine einheitliche Kommunikation gegenüber relevanten Zielgruppen sicherzustellen und den Dialog mit Jugendlichen zu verbessern.
  4. Quick-Wins umsetzen: Durch die schnelle Umsetzung konkreter Ideen aus der Jugendbefragung kann die Jugendkommission zeigen, dass die Anliegen der Jugendlichen ernst genommen werden. Drei vorgeschlagene Maßnahmen waren: die Ausstattung der Grillstellen mit Witterungsschutz, die Aktivierung einer offenen Turnhalle und die Verbesserung der Beleuchtung der Fahrradstrecke am See.

In kleinen Arbeitsgruppen sammelten die Teilnehmenden zunächst Chancen und Herausforderungen der Handlungsempfehlungen und ergänzten sie mit ihren eigenen Perspektiven. In der anschließenden Diskussion zeigte sich die Notwendigkeit eines gemeinsamen Verständnisses zentraler Begriffe. So stellte sich beispielsweise die Frage, was genau unter einem «mobilen» Treffpunkt zu verstehen sei: Wie lange bleibt ein solcher Treffpunkt an einem Ort, und in welcher Form? Ist eine kontinuierliche Präsenz notwendig oder reicht ein flexibles Angebot?

Der eigentliche Mehrwert dieser Diskussion lag weniger darin, abschließende Antworten zu finden, sondern vielmehr darin, dass die Teilnehmenden sich intensiv mit den Bedürfnissen der Jugendlichen auseinandersetzten und versuchten, deren Perspektive nachzuvollziehen. Durch den interdisziplinären Austausch konnten zudem Erfolgs- und Hindernisfaktoren identifiziert werden, die für die weitere Arbeit der Jugendkommission wertvoll sind.

Handlungsschritte

Abschließend erarbeiteten die Teilnehmenden in Gruppen konkrete Handlungsschritte, die sie im Plenum vorstellten. Als zentrale Ergebnisse kristallisierten sich drei priorisierte Themen heraus, die die Jugendkommission weiterverfolgen soll:

  1. Stärkere Öffentlichkeitsarbeit: Insbesondere eine transparente Kommunikation des gesamten Prozesses gegenüber Jugendlichen, der örtlichen Bevölkerung und den Gemeinderäten.
  2. Umsetzung von Quick-Wins: Die zügige Realisierung erster konkreter Verbesserungen.
  3. Planung und Umsetzung eines mobilen Treffpunkts: Entwicklung eines tragfähigen Konzepts, das den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht wird.

Bedeutung des Wissenstransfers

Die Integration der Ergebnisse des runden Tisches in den Abschlussbericht der Sozialraumanalyse unterstreicht die Bedeutung des Transferprozesses sowohl auf inhaltlicher als auch struktureller Ebene. Neben den konkreten Handlungsempfehlungen für die Jugendkommission ergab sich ein weiterer positiver Effekt: die Vernetzung relevanter Akteur:innen der Kinder- und Jugendförderung sowie der Jugendpolitik.

Der Austausch ermöglichte es den Beteiligten, unterschiedliche Positionen kennenzulernen, gegenseitiges Verständnis aufzubauen und so die Zusammenarbeit langfristig zu verbessern. Durch solche Transferprozesse entstehen Synergien, die in zukünftigen Projekten genutzt werden können. Zudem stärkt die Vernetzung das gegenseitige Vertrauen, das eine wichtige Grundlage für eine nachhaltige und erfolgreiche Umsetzung gemeinsamer Strategien zur Förderung von Kindern und Jugendlichen bildet.

7.3 Resümee: Chancen nutzen, Zukunft gestalten

Der Vergleich der Studien aus Jemgum und der Bodenseeregion zeigt sowohl Unterschiede als auch erstaunliche Gemeinsamkeiten in den Lebensrealitäten von Jugendlichen im ländlichen Raum. Während die Jugendlichen in Jemgum stärker von eingeschränkten Mobilitätsmöglichkeiten betroffen sind und daher häufig auf informelle Treffpunkte oder private Räume ausweichen, zeigt sich in der Bodenseeregion ein stärkerer Einfluss der bestehenden Vereinsstrukturen. Dennoch eint beide Gruppen der Wunsch nach mehr jugendgerechten Räumen, wetterunabhängigen Treffpunkten und einem verbesserten Zugang zu Angeboten der Offenen Jugendarbeit.

Diese Erkenntnisse sollen als Ausgangspunkt für gezielte Maßnahmen dienen: Eine verbesserte Infrastruktur, flexible Angebote für Jugendliche, hybride Nutzungsmodelle für bestehende Räume sowie innovative Mobilitätskonzepte können dazu beitragen, die Lebensqualität junger Menschen nachhaltig zu stärken. Insbesondere die digitale Vernetzung bietet hier große Potenziale, indem sie Jugendlichen neue Formen der Selbstorganisation und Partizipation ermöglicht.

Die Studien aus Jemgum und vom Bodensee zeigen aber auch, dass Jugendarbeit nicht nur passgenaue Angebote schaffen, sondern auch die bestehenden Aneignungsprozesse der Jugendlichen stärker unterstützen sollte. Dies kann durch niedrigschwellige, mobile oder partizipative Konzepte geschehen, die sowohl informelle als auch institutionelle Strukturen miteinander verbinden. Digitale Plattformen ermöglichen es Jugendlichen, sich auszutauschen, Angebote zu koordinieren und aktiv an der Gestaltung ihrer Umgebung teilzunehmen.[1]

Der Schlüssel liegt in einer engen Zusammenarbeit zwischen Kommunen, Jugendarbeit und den Jugendlichen selbst. Nur durch einen offenen Dialog zwischen diesen Akteur:innen lassen sich innovative, hybride Lösungsansätze entwickeln, die sowohl den Bedürfnissen junger Menschen gerecht werden als auch die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume sichern.

Literatur

Antes, Wolfgang/Wenzl, Udo/Wichmann, Stefanie (2022) (Hrsg.): Jugend im Ländlichen Raum Baden-Württembergs. Aufwachsen – Mitgestalten – Leben. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler.

Beetz, Stephan (2020): Alltag in ländlichen Räumen. In: Becker, Sören/Naumann, Matthias (Hrsg.): Regionalentwicklung in Ostdeutschland. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg, S. 401–412.

Deinet, Ulrich (2009): Methodenbuch Sozialraum, Springer VS, Wiesbaden.

Dummer, Irene/Malcherowitz, Manuel/Weck, Jens (2015): Die Nadelmethode 2.0 als Werkzeug für Projektarbeit zu sozialräumlicher Partizipation und Medienpädagogik. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015. URL: https://www.sozialraum.de/die-nadelmethode-20.php, Datum des Zugriffs: 21.03.2025

Gerodetti, Julia/Fuchs, Manuel/Fellmann, Lukas/Gerngross, Martina/Steiner, Oliver (2021): Schweizer Studie «Offene Kinder- und Jugendarbeit». Ergebnisse der ersten schweizweiten Umfrage. Seismo Verlag, Zürich und Genf.

Grunert, Cathleen/Ludwig, Katja (Hrsg.): Jugend - Ländliche Räume - Peripherie(sierung). Theoretische und empirische Erkundungen regionaler Ungleichheiten. Springer VS, Wiesbaden.

Gormanns, Yvonne/Dietrich, Irene (2025): Wissenschaft und Praxis im Dialog: Ein interaktives Veranstaltungsformat für gelingenden Wissenstransfer mit Kindern am Beispiel des Projektes „Zukunft des Ganztags“. In: Fuchs-Rechlin, Kirsten/ Hanssen, Kirsten (Hrsg.): Vom Transfer zur Transformation – Strategien der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis in der Frühen Bildung. Beltz Juventa, Weinheim.

Krisch, Richard (2008): Sozialräumliche Methodik der Jugendarbeit. Aktivierende Zugänge und praxisleitende Verfahren. Juventa, Weinheim.

Hillig, Christiane (2020): Mobile Jugendarbeit im ländlichen Raum. In: Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. (Hrsg.): Praxishandbuch Mobile Jugendarbeit. Frank & Timme, Berlin, S. 391–401.

Löw, Martina (2001), Raumsoziologie, Suhrkamp, Frankfurt.

Pfulg, David/Gilgen, Samuel (2022): Entwicklung der Offenen Jugendarbeit im ländlich-alpinen Raum am Beispiel des Kantons Graubünden. In: Fuchs, Manuel/Gerodetti, Julia/Gerngroß, Martina (Hrsg.): Offene Kinder- und Jugendarbeit in der Schweiz. Springer VS, Wiesbaden. S. 421–439.

Tully, Claus J. (2011): Mobilisierung des Mobilen. Trends in der Jugendmobilität. Anmerkungen zur Veränderung im Mobilitätsverhalten. In: Der Nahverkehr. Öffentlicher Personenverkehr in Stadt und Region (29), 7-8, S. 12–15.

Thünen Institut (2024): Landatlas: https://www.bmel.de/DE/themen/laendliche-regionen/landatlas/landatlas_node.html, Zugriff 19.03.2025


Fußnote

[1] Der Leitfaden «Digitale Medien und Offene Kinder- und Jugendarbeit» des Dachverbands Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (DOJ) betont die Bedeutung digitaler Medien in der Jugendarbeit und bietet praxisnahe Empfehlungen für deren Einsatz. Erfolgreiche Beispiele wie das Schweizer Projekt «E-Space: Entwicklung digitaler Jugendarbeit» zeigen, wie durch die Vernetzung von Fachkräften, Jugendlichen und Wissenschaft die Digitalisierung der Jugendarbeit sinnvoll gestaltet werden kann.


Zitiervorschlag

Amann, Kathrin, Nadine Burtschi, Ulrich Deinet, Johannes Lünenschloss und Christian Reutlinger (2025): Aufwachsen auf dem Land. In: sozialraum.de (16) Ausgabe 1/2025. URL: https://www.sozialraum.de/aufwachsen-auf-dem-land.php, Datum des Zugriffs: 19.06.2025