Gesundheit und Gemeinschaft im Fokus
Eine lebensweltorientierte Bedarfs- und Bedürfnisuntersuchung in einem Bielefelder Quartier aus Sicht der transformationsorientierten Public Health
Kamil J. Wrona, Kolja Heckes, Florian Fischer, Hannes Breeder, Katharina Hellmich, Anne Pollmann, Marcel Siegler, Leona Aschentrup, Tim-Axel Nieke, Joanna Albrecht
1. Einleitung
Aufgrund ihres genuinen Fokus auf die Gesunderhaltung der Bevölkerung handelt es sich bei der Public Health um eine im Kern transformationsorientierte Disziplin in zweifacher Hinsicht. Einerseits zielt sie – im Sinne der Transformationsforschung (Wittmayer/Hölscher 2017) – auf das für eine Veränderung bestehender Ausgangslagen notwendige, miteinander eng verbundene System-, Ziel- und Transformationswissen. Im Kontext von Systemwissen geht es darum, neben bestehenden gesundheitsbezogenen Determinanten und Bedarfen auch Hürden und Potenziale für eine Veränderung der Gesundheit abträglicher Ausgangslagen zu identifizieren. Darauf aufbauend beinhaltet das Zielwissen hinsichtlich bestehender Bedarfe sowohl den größeren normativen Zielhorizont gewünschter Veränderung als auch daraus ableitbare und praktisch umsetzbare Vorschläge und Initiativen für Veränderungen.
Transformationswissen bezieht sich wiederum auf das praktische Handlungswissen, um bestehende Ausgangslagen in gewünschte zu überführen. Vor allem hinsichtlich bestehender Gesundheitsdeterminanten, Bedarfe, gewünschter Entwicklungen und praktischer Maßnahmen erscheint es notwendig, Bürger:innen als Expert:innen ihrer Lebenswelt und ihrer Gesundheit frühzeitig in die Wissensakquise einzubinden. Vor dem Hintergrund einer sozialraumorientierten Gesundheitsversorgung im Sinne von Community Health (vgl. WHO 1998) sollten die Bürger:innen diese zentrale Rolle auch erhalten um sowohl homogene als auch inhomogene Bevölkerungsgruppen über die geteilte gebaute Umwelt zu vereinen und somit den bedeutenden Schnittbereich von gebauter und sozialer Umwelt zu repräsentieren. Indem sie mittels partizipativer und transdisziplinärer Verfahren Bürger:innen beteiligt und auf deren Gesundheitsverhalten Einfluss nimmt, wirkt sie damit andererseits – im Sinne transformativer Forschung (Singer-Brodowski et al. 2021) – selbst als verändernde Kraft.
Um eine transformative Perspektive in der Public-Health-bezogenen Forschung und Praxis in kleinen sozialräumlichen Einheiten (z. B. Quartiere) zu stärken, leitet der vorliegende Beitrag diesbezüglich relevante Frage- und Problemstellungen – im Sinne von System-, Ziel- und Transformationswissen – aus Sicht von Bürger:innen ab. Hierfür wurde Bewohnenden eines Bielefelder Quartiers in einem wissenschaftlichen Rahmen die Möglichkeit gegeben, Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten und dabei Netzwerke innerhalb der Nachbarschaft zu stärken. Zu diesem Zweck wurde die World-Café-Methode (vgl. Brown/Isaacs 2005) im Rahmen eines im November 2023 im Bielefelder Quartier Kamphof durchgeführten Workshops mit dem Titel „Mitmischen – Mitreden – Mitmachen“ eingesetzt, mit dem Ziel einen Austausch über gegenwärtige und künftige Entwicklungen des Viertels sowie eine Vernetzung von Ideen und Wünschen für das zukünftige Zusammenleben anzuregen (AWO 2021). Dieser Workshop wurde durch das Quartiersbüro des AWO Kreisverbandes Bielefeld e. V. organisiert und in der Durchführung sowie Auswertung wissenschaftlich durch die Hochschule Bielefeld begleitet. Die inhaltsanalytische Auswertung des World Cafés nach Mayring (2019) wurde aus einer transformationswissenschaftlichen Perspektive durchgeführt, um Public-Health-bezogene Anliegen mit einer transdisziplinären Perspektive – also Offenheit für die Belange der Bürger:innen – herauszustellen.
Die hier vorgestellten Ergebnisse sind im Rahmen gemeinsamer Diskussionen von themenbezogenen Szenarien in einem Workshop zwischen Wissenschaftler:innen sowie Personen aus verschiedenen Hintergründen entstanden. Besonderer Dank gilt demnach allen Workshopteilnehmenden. Darüber hinaus bedanken wir uns bei der unterstützenden sowie kooperierenden Organisation AWO Kreisverband Bielefeld e. V.
2. Public Health im Sozialraum
Zur Gewährleistung der essenziellen Lebenswelt-, Sozialraum-, Beteiligungs- und Kooperationsbezüge einer sozialräumlichen Orientierung der Gesundheitsversorgung nimmt das Quartier und das damit verbundene Quartiermanagement eine zentrale Koordinations- und Steuerungsfunktion ein (Klemer-Preiß 2021). Das Quartier gilt als sozialer Raum, der sowohl von baulicher Infrastruktur als auch von gesellschaftlichen Interaktionsprozessen und Handlungsstrukturen beeinflusst und geprägt wird (vgl. MAGS NRW 2011; Löw 2001). Entsprechend sind die Antworten auf die Fragen – welche Vorstellungen und geäußerten Wünsche der Quartiersbewohnenden Bedürfnisse und welche Bedarfe sind – sehr kontingent und via stetiger Aushandlung im Wandel.
Das Quartiermanagement soll einen Beitrag dazu leisten, in Bezug auf die Stadtentwicklung die Grenzen zwischen den einzelnen städtischen Fachressorts und (nicht-) öffentlichen Akteur:innen, insbesondere jedoch zwischen der Verwaltung und den Bürger:innen, zu überwinden und gemeinsame Interessen herausarbeiten (vgl. Herrmann 2019). Hierzu gehören neben Handlungsfeldern wie Bildung, Integration und Teilhabe auch das Handlungsfeld Gesundheit. Allumfassend wird in der Public-Health-Praxis hierzu auf den Communityansatz der WHO (1998) verwiesen. Inhaltlich geht es um „eine bestimmte Gruppe von Menschen, die oft in einem bestimmten geografischen Gebiet leben, eine gemeinsame Kultur, Werte und Normen teilen und in einer sozialen Struktur gemäß den Beziehungen angeordnet sind, die die Gemeinschaft über einen bestimmten Zeitraum entwickelt hat. Die Mitglieder einer Gemeinschaft gewinnen ihre persönliche und soziale Identität, indem sie gemeinsame Überzeugungen, Werte und Normen teilen, die von der Gemeinschaft in der Vergangenheit entwickelt wurden und in der Zukunft geändert werden können. Sie zeigen ein gewisses Bewusstsein für ihre Identität als Gruppe und teilen gemeinsame Bedürfnisse und das Engagement, diese zu erfüllen“ (WHO 1998). Hieraus resultiert das Erfordernis einer partizipativ angelegten Arbeitsweise, die in der gesundheitsbezogenen Forschung und Praxis zunehmend berücksichtigt wird (Süß/Trojan 2020).
Public-Health-Interventionen im Sozialraum bzw. Quartier sollten somit besonders eng an der subjektiven Alltags- und Lebenswelt und den Konstruktionen der Menschen orientiert sein. Dabei betrachtet das sozio-räumliche Paradigma die Gesundheit der Individuen in enger Verbindung zu sozialen und räumlichen Kontexten. Es basiert auf der Annahme, dass der physische Raum, wie Quartiere, und die darin lebenden sozialen Gemeinschaften nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Stattdessen beeinflussen sie sich wechselseitig: Der Raum formt soziale Beziehungen und Strukturen, während soziale Interaktionen und kulturelle Praktiken den Raum prägen (Reibling 2021).
Aufgrund dieser Nähe müssten entsprechende Interventionen hinsichtlich (persönlicher) Bedürfnisse und (intersubjektiv und institutionell anerkannter) Bedarfe entscheidungs- und begründungsfähig sein. Ein vergleichsweise neuer Ansatz, um partizipative Veränderungsprozesse anzustoßen, ist die „Transition Arena“ (vgl. Hölscher et al. 2019). Eine Transition Arena kann als strukturierter Raum für eine vielfältige Gruppe von Akteur:innen beschrieben werden, in dem diese kritisch über ein aktuelles gesellschaftliches System nachdenken, dabei die derzeitigen Strukturen, Kulturen und Praktiken eines nicht nachhaltigen Status quo problematisieren und gleichzeitig einen Perspektivenwechsel hin zu einem nachhaltigeren und gerechteren zukünftigen Zustand anregen (vgl. Silvestri et al. 2022). In einem ko-produktiven bzw. ko-kreativen Prozess sollen so unter kollaborativen Einbezug der Perspektiven aller Stakeholder:innen gemeinsame Aktionen erarbeitet (vgl. ebd.), die Problemwahrnehmung geschärft, Lösungen proponiert, die eigene Rolle reflektiert und Verantwortlichkeiten bestimmt werden (vgl. Hölscher et al. 2019). Ein Beispiel für eine Transition Arena ist die im Kontext dieser Arbeit angewandte Workshopmethode des World Cafés nach Brown und Isaacs (2005). Im Rahmen der Stadtteilentwicklung wurde Sie bereits in anderen Städten bzw. Quartieren erprobt und dokumentiert (siehe weiterführend: Freie und Hansestadt Hamburg 2013; Bezirksamt Mitte von Berlin 2019).
3. Methodik
Das betrachtete Quartier wird durch vielfältige Prozesse der Raumbildung und -gestaltung geprägt. (vgl. Wehrheim 2015). Solche Prozesse entstehen durch das Zusammenspiel zwischen den Bewohnenden, administrativen sowie institutionellen Akteur:innen des Quartiers. Im Rahmen des durchgeführten World Cafés dient die empirische Erhebung als Momentaufnahme innerhalb eines dynamischen, reziprok-iterativen Prozesses. Dabei geht es um eine wechselseitige Bewegung, die sich fortlaufend wiederholt: Einerseits die (subjektive und intersubjektive) Aneignung des Quartiers durch die Bewohnenden, andererseits die (administrative) Steuerungsreaktion, die diese Aneignung beeinflusst. Die im World Café thematisierten und formulierten Bedarfs- und Bedürfnisäußerungen der Quartiersbewohnenden bilden einen solchen Prozess ab. Sie sind nicht statisch, sondern vielmehr prozesshaft, zugleich reaktiv und proaktiv. Diese Äußerungen stehen in einer ständigen Wechselwirkung mit der ‚Produktion‘ des Quartiers, die von der administrativen und institutionellen Ökologie ausgeht. Das World Café bildet somit einen methodischen Ansatz, um diese komplexen Dynamiken und gegenseitigen Abhängigkeiten in einem partizipativen Rahmen sichtbar zu machen.
Um die subjektiven Sichtweisen von Bewohnenden hinsichtlich eines Veränderungsprozesses im Quartier zu erfassen, wurde durch das Quartiersbüro des AWO Kreisverbandes Bielefeld e. V. eine Veranstaltung zur Umsetzung eines World Cafés in Anlehnung an Brown/Isaacs (2005) ins Leben gerufen. Um möglichst viele Bewohnende des Quartiers zu erreichen, erfolgte ein Aufruf zur Teilnahme an dem partizipativen Angebot unter dem Titel „Mitmachen – Mitreden – Mitgestalten“ über analoge und digitale Wege. Zum einen wurden gedruckte Poster und Flyer verteilt sowie eine Postkartenaktion durchgeführt. Zum anderen erfolgte die Streuung der Veranstaltungseinladung über E-Mail-Verteiler lokal vernetzter Akteur:innen im Stadtviertel. Zudem wurde die Veranstaltung auf der Internetseite der AWO-Quartiersarbeit im Kamphofviertel (ein im Umbruch innenstadtnahes, historisch als Arbeiterviertel gewachsenes Quartier in Bielefeld) sowie in zwei lokalen Zeitungen beworben.
3.1 Durchführung und Auswertung
Der Umsetzung des Workshops wurde an die World-Café-Methode von Brown/Isaacs (2005) angelehnt. Diese Methode ermöglicht es, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, „um gemeinsam zu denken und handlungsorientiertes Wissen zu schaffen“ (Brown/Isaacs 2007). Für die Durchführung eines World Café ist die Gestaltung eines gastfreundlichen Raums mit einer „einladenden und vertrauensvollen Umgebung“ (Brown/Isaacs 2007) besonders wichtig. Daher wurde ein, den Quartiersbewohnenden vertrauter Ort (ein Jugendzentrum) als Veranstaltungsraum ausgewählt.
Die Teilnehmenden teilten sich anschließend zufällig in kleine Tischgruppen von drei bis vier Personen auf, um in drei aufeinanderfolgenden Dialogrunden (jeweils ca. 20-30 Minuten) verschiedene Leitfragen, im Rahmen des World Cafés mit ihrer jeweiligen Tischgruppe zu diskutieren:
- Welche Ideen habe ich für die städtebauliche Entwicklung im Quartier?
- Welche Wünsche habe ich für das soziale Miteinander der Menschen im Quartier?
- Welche Traume habe ich für unser Leben und Wohnen im Quartier im Jahr 2030?
Dabei nahmen die Bewohnenden des Quartiers als Teilnehmende unterschiedliche Rollen (vgl. Brown/Isaacs 2007) ein, sodass bspw. die Rolle des „Café Gastgebers“ von dem Quartiersmanager des Kamphofviertels eingenommen wurde. Dessen Aufgabe bestand darin, über die Themen des Abends zu informieren, den Ablauf zu koordinieren, zu moderieren und als Ansprechpartner für Fragen zu fungieren. Des Weiteren gab es an jedem der drei Diskussionstische einen „Ideenbotschafter“, der als Tischgastgeber (in diesem Fall Studierenden der Hochschule Bielefeld) an dem Diskussionstisch verblieb und nach einem Tischwechsel die neuen Gäste empfing, um auf diesem Wege über die wichtigsten Informationen der vorangegangenen Runde zu informieren. Somit war es möglich, die Erkenntnisse aus den vorangegangenen Gesprächen mit in die neue Gesprächsrunde einfließen zu lassen.
Die Impulse der Tischdiskussionen, welche der Beantwortung der jeweiligen Frage dienen sollten, wurden schwerpunktmäßig von den Studierenden, die als „Ideenbotschafter“ fungierten, in Tischprotokollen/-plakaten pro Tisch und Plenumsdiskussion festgehalten. Alle Teilnehmenden waren dazu eingeladen, ihre Gedanken entweder mit Redebeiträgen oder durch das Aufschreiben von Ideen auf die Papiertischdecken in den Gesprächen und Diskussionen einzubringen. Durch die wiederholten Tischwechsel sollte ein dichtes Netz aus Gedanken, Ideen und Beziehungen entstehen sowie ein Gemeinschaftsgefühl unter den Teilnehmenden gefördert werden. Aufbauend auf den Ideen der anderen Teilnehmenden konnten somit weitere Perspektiven erschlossen und neue gedankliche Verknüpfungen angeregt werden. In einem anschließenden Plenumsgespräch nach den Gesprächsrunden wurden die kollektiven Erkenntnisse diskutiert, um diese zu transportieren und in neue Netzwerke zu initiieren.
Ausgewertet wurden die Daten nach den Grundmechanismen der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2019). Die Beobachtungsprotokolle dienten dabei als Instrument der Datenerhebung, sodass die Transkription während des Veranstaltungsprozesses in schriftlicher Form erfolgen konnte. So sollte die chronologische Abfolge und verbale sowie non-verbale Kommunikation der Teilnehmenden bestmöglich festgehalten werden. Die transkribierten Daten wurden anhand eines induktiven Verfahrens hinsichtlich zentraler Themen und Aussagen der Teilnehmenden codiert und auf wiederkehrende Muster geprüft. Zur Sicherung der Güte wurde eine Kontrollkodierung durch eine zweite und dritte Person durchgeführt. Etwaige Codierunterschiede wurden in gemeinsamen Diskussionen reflektiert und abgeglichen, was in Teilen zur Überarbeitung und Präzisierung einzelner Kategorien führte.Dieses Vorgehen entspricht dem Prinzip der theoretischen Sättigung im Sinne der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967).
4. Ergebnisse
Bei der partizipativen Entwicklung eines lebenswerten Sozialraums, in dem sich alle wohlfühlen, bedarf es Handlungen sowohl auf Mikro- als auch Mesoebene. Dabei sind insbesondere politische Entscheidungen auf Kommunalebene von großer Bedeutung. Aber auch die Mitglieder des Sozialraums an sich nehmen eine essenzielle Rolle ein. Am Beispiel des Bielefelder Kamphofviertels werden im Sinne des lebensweltlichen Wissens relevante Bedarfe und Bedürfnisse aufgezeigt und im Sinne des Zielwissens spezifische wie auch allgemeine Ideen zur Verbesserung des Sozialraums in einem partizipativen Prozess abgeleitet. Bei der Auswertung wurden folgende zentralen Themenbereiche und Ergebnisse identifiziert.
4.1 Sicherheit und Ordnung
Ein Schwerpunkt in Bezug auf Sicherheit und Ordnung ergibt sich durch ein Unsicherheitsgefühl im Kontext der Verkehrsinfrastruktur. Dabei können zu schnelles Fahren aber auch die Verkehrsführung sowie riskante Fahrmanöver insgesamt belastend sein. Hier ist das Engagement aller Agierenden innerhalb des Sozialraums von Relevanz, aber auch wurden Ideen zur Verbesserung der Verkehrslage auf kommunaler Ebene genannt, wie das Aufstellen von Geschwindigkeitsmessern zur Einhaltung der 30er Zone, verkehrsberuhigte Bereiche (wie Anlieger- und Spielstraßen) oder autofreie Sonntage.
Ferner wurde ein Bedrohungsgefühl im Alltag von den Workshopteilnehmenden durch verschiedene Aspekte deutlich. Der Handel und Konsum von illegalen Substanzen in einem Park sowie Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz wurden dabei von Befragten als problembehaftet wahrgenommen. Zudem wurde die Fußgängerbrücke zwischen Kamphofviertel und Boulevard (in der Nähe des Hauptbahnhofs) als Ort benannt, in dem Angst davor bestehe, bei Nacht durch den Park sowie über die Fußgängerbrücke zu gehen. Diesbezüglich wurden bauliche Maßnahmen gefordert, welche die Kriminalität erschweren sollen, wobei diese noch nicht konkretisiert wurden. Konkreter muss die Sicherheit zunächst auf kommunaler Ebene gewährleistet sein und notwendige Entscheidungen getroffen werden. Ferner könnte die Einbeziehung der Landesebene bezüglich des Einsatzes der Polizei von zentraler Bedeutung sein.
Sauberkeit deckt den dritten Schwerpunkt in der Kategorie Sicherheit und Ordnung ab. Hierbei wird von den Teilnehmenden ein Fehlen von ausreichend öffentlichen Mülltonnen, aber auch die Fehlnutzung von privaten Mülltonnen der einzelnen Häuser im Viertel genannt. Die Teilnehmenden äußern den Wunsch nach einer Müllreduktion und schlagen mehr öffentliche Orte der Müllentsorgung vor. Hinsichtlich der Sauberkeit im Viertel thematisieren die Teilnehmenden ebenfalls das Urinieren im Park. Das Aufstellen von öffentlichen sanitären Anlagen wird hier als Lösungsvorschlag besprochen. Gleichzeitig wird dabei aber auch die Angst vor der Zerstörung der Anlagen kommuniziert. Folglich wird angeregt, Sauberkeit im Sozialraum zu gewährleisten, z. B. mit dem Bereitstellen von Mülltonnen. Gleichzeitig wird auch betont, dass die im Raum lebenden und sich dort aufhaltenden Menschen mit für die Sauberkeit im eigenen Viertel zuständig sind.
4.2 Quartierskommunikation
Insbesondere die Partizipation an kommunalen Prozessen stellte einen zentralen Aspekt für die Teilnehmenden des Workshops dar. Die Bewohnenden des Viertels wünschen sich „mehr Kommunikation als auch Transparenz zwischen Bürger:innen und der Stadt“ (TN 3, Nr. 65). Es wird dabei von den Teilnehmenden betont, dass die Bewohnenden sich sehr für Veränderungen im Viertel interessieren und deshalb frühzeitig in Planungen einbezogen werden wollen. Dazu gehört vor allem, dass baubedingte Maßnahmen durch die Stadt konkret im Vorfeld kommuniziert werden sollen. Eine weitere Idee in Bezug auf partizipative Kulturarbeit ist ein „Mediator zwischen Anwohner:innen und Kulturtreibenden“ (TN 9, Nr. 42), damit Kulturveranstaltungen im Viertel harmonisch stattfinden können.Dabei ist eine Zusammenarbeit zwischen kommunaler Ebene und den Bewohnenden selbst entscheidend, da letztlich die Entscheidungen von der Stadt getroffen werden.
Im Workshopverlauf wurde über Informationsprozesse im Viertel diskutiert. Derzeit gibt es bereits viele unterschiedliche Kommunikationskanäle im Viertel, von denen aber keiner als zentraler Informationskanal etabliert ist. Daher wäre ein zentraler Kommunikationsort bzw. -kanal im Viertel wünschenswert, in dem alle Informationen zusammenlaufen. Das AWO-Quartiersbüro würde sich laut der Anwesenden als Ort hierfür eignen. Überdies erfordere zielgruppenkonforme Kommunikation Formate, die sowohl analoge als auch digitale Zugriffsmöglichkeiten bieten. Als weiterer Punkt wurde das Thema einer Stadtteilzeitung unter den Anwesenden besprochen, welcher jedoch heterogen bewertet wurde. Somit obliegt es der Stadt insbesondere einen zielgruppengerechten Kommunikationskanal aufzubauen, der sowohl digital als auch analog nutzbar ist.
4.3 Soziale Interaktionen
Die Workshopteilnehmenden äußerten verhältnismäßig häufig Bedürfnisse bezüglich „mehr soziale[n] Interaktionen“ bzw. „mehr gemeinschaftliche[m] Miteinander“ im Viertel. Insbesondere der Wunsch nach soziokulturellen Angeboten, z. B. speziellen Aktivitäten wie Quartiertreffs, kollaborativen Musikprojekten oder partizipativen Kunstprojekten, als auch allgemeinen Veranstaltungen wie Straßenfesten, Konzerten und Flohmärkten, wurden geäußert. Hierbei benennen die Teilnehmenden auch retrospektiv erfolgreiche Initiativen, wie eine Nachbarschaftswanderung mit wissenswerten Informationen zum Viertel, oder durchgeführte Kulturveranstaltungen. Dabei wurde der Wunsch deutlich, dass zum einen größere sozialkulturelle Angebote auf kommunaler Ebene gefördert werden, aber zum anderen auch die Bewohnenden selbst kleinere Feste oder Aktivitäten ins Leben möchten.
Ein Anliegen mehrerer Workshopteilnehmenden ist die Stärkung einer kollektiven Identität innerhalb des Viertels. So trägt eine teilnehmende Person bei: „Ich wünsche mir eine Teilkultur im Viertel, das ist für mich soziales Miteinander“ (TN 1, Nr. 102). Dabei wurden konkrete Vorschläge wie „shared economy“, wie gemeinsam gepflegte „Solidargärten“, Kleidertauschbörsen, öffentliche Bücherschränke oder Food-Sharing-Initiativen gegen Lebensmittelverschwendung genannt. Aus der Verdichtung der genannten Bedürfnisse nach mehr sozialer Interaktion ist darüber hinaus eine starke Berücksichtigung neu zugezogener Menschen, etwa in Form von „Starter-Paketen mit nützlichen Informationen“ (TN 8, Nr. 85) hervorzuheben. Ähnlich wie bei den sozialkulturellen Angeboten müssen gewisse Entscheidungen auf kommunaler Ebene getroffen werden. Jedoch liegt hier ein größerer Fokus auf den Menschen innerhalb eines Sozialraums, da bspw. Initiativen von Interessierenden selbst gegründet werden könnten.
4.4 Soziale Infrastruktur
In enger Verbindung mit sozialen Interaktionen finden sich Aussagen in Bezug auf soziale Infrastruktur, also analoge Orte im Quartier, wieder, die zu einer Verbesserung des sozialen Zusammenhaltes im Viertel beitragen können. In Bezug darauf, wo im Viertel Entwicklungspotenzial für soziale Infrastruktur vorhanden ist, benennen die Teilnehmenden verschiedene Orientierungspunkte und benennen dabei auch kritisch, dass zum Teil auch eine Aufwertung des Ortes selbst notwendig ist. Weitere Vorschläge richten sich auf die Entwicklung und Umnutzung brachliegender Flächen zu sozialen Begegnungsorten und die Stärkung des Jugendzentrums Falkendom als Ort für Kulturveranstaltungen. Insbesondere schon vorhandene aufgewertete Parks werden als wünschenswertes Vorbild für eine Aufwertung der sozialen Infrastruktur des Kamphofviertels benannt. Entscheidungen über die Aufwertung von Grünflächen und Wohlfühlorten innerhalb der Stadt und deren Umsetzung werden dabei von den Beteiligten der kommunalen Instanz zugewiesen.
Neben Vorschlägen mit konkretem Ortsbezug benennen die Teilnehmenden auch ortsunabhängige Wünsche, etwa „mehr Orte zum Verweilen“ (TN 3, Nr. 7), mehr Gastronomie (explizit als sozialer Treffpunkt benannt), mehr Spielflächen für Kinder und Jugendliche, oder auch ein Begegnungszentrum. Eine teilnehmende Person subsumiert, es bedürfe „mehr Treffpunkte[n], um als Viertel zusammenzukommen“ (TN 2, Nr. 6). Auch wird von den Beteiligten der Verantwortungsbereich der Kommunalpolitik benannt, ausreichend Raum zum Verweilen für die in dem Sozialraum lebenden Personen zu schaffen.
4.5 Städtebauliche Infrastruktur
Während des World Cafés kristallisierten sich drei zentrale Vorstellungen bzw. Wünsche an die städtebauliche Infrastruktur des Viertels seitens der beteiligten Bewohnenden heraus. Diesbezüglich wird sich zum einen der Bestandserhalt privater sowie öffentlicher Gebäude gewünscht. Als Problem tritt hervor, dass die Befragten eine Veränderung der baulichen Substanz durch die Industrie wahrnehmen. Sie scheinen dabei starke kulturelle Bezüge zum Viertel zu haben, da Gespräche über eine kreative Gestaltung und Restaurierung zur Veranschaulichung der Historie geführt wurden. Hierbei zeigten die Teilnehmenden eine hohe Bereitschaft aktiv daran mitzuwirken. Vorschläge wie die Installation von Kunstwerken und Informationstafeln sowie Wandgemälde wurden diskutiert. Dabei wurde die Idee geäußert, dass Bewohnende in Absprache mit der Stadt aktiv werden könnten, um so den Bestand des eigenen Viertels mit zu erhalten und aufzuwerten.
Der nächste maßgebende Punkt ist der Wunsch nach mehr Grünflächen im Quartier. Die Menschen im Viertel äußerten das Bedürfnis, sich im Grünen aufzuhalten und für Aktivitäten im Freien mehr nutzbare Fläche zur Verfügung gestellt zu bekommen. Dazu zählt auch der Aufenthalt im Freien mit Haustieren. Aktuell wird als problematisch wahrgenommen, dass unter anderem Hundekot von den Anwohnenden nicht ordnungsgemäß entsorgt wird. Die Teilnehmenden des World Cafés diskutierten als einen Lösungsansatz das Aufstellen von Hundekotbeutelspendern in unmittelbarer Nähe von Grünflächen. Hierdurch würde es zum einen den Bewohnenden selbst obliegen, Grünflächen sauber und ordentlich zu hinterlassen. Die Rahmenbedingungen sollten laut den Beteiligten jedoch auf kommunaler Ebene geschaffen und verabschiedet werden.
Besonders bauliche sowie verkehrstechnische Komponenten beeinflussen aus Sicht der Befragten die alltägliche Mobilität negativ. Hierbei werden besonders stark befahrene und enge Straßen als problembehaftet betrachtet. Um auch andere Gefahrenquellen zu vermindern, wünschen sich die Teilnehmenden mehr Möglichkeiten, sich sicher durch den Sozialraum zu bewegen. Darunter zählt, dass unter anderem Fahrradwege ausgebaut werden. Die Teilnehmenden machen sich Gedanken über alternative Mobilitätskonzepte. Diesbezüglich wurden Vorschläge wie Carsharing und ein autofreies Quartier bis 2030 besprochen. Um diese Vorhaben in die Realität umzusetzen, möchten die Teilnehmenden Kontakt zu Verkehrsplanungsbüros aufnehmen. Folglich müssen entsprechende infrastrukturelle Maßnahmen durch die Stadt selbst initiiert werden.
4.6 Versorgungsinfrastruktur
Ein letzter Punkt bezieht sich auf die Versorgungsinfrastruktur, welche die Verfügbarkeit von Dienstleistungen umfasst. Diesbezüglich wird ein besonderer Blickpunkt auf die infrastrukturelle Gesundheitsversorgung gerichtet, was durch die Äußerung „Wir bräuchten mehr Ärzte im Viertel“ (TN 9, Nr. 43) deutlich wird. So werden explizit Ärzt:innen gefordert, um den Zugang zu medizinischer Versorgung zu verbessern. Die Teilnehmenden des Workshops diskutierten ebenfalls über Aspekte des Alter(n)s und der Gesundheit. Wohnprojekte für junge und alte Menschen sowie Möglichkeiten des altersgerechten Wohnens wurden vorgeschlagen. Bei den Wohnprojekten sollen sich die Bewohnenden gegenseitig im Alltag unterstützen. Dies kann durch eine Vielfalt an Altersgruppen gewährleistet werden. Folglich soll ein besonderer Vorteil für Menschen geboten werden, die durch ihr Alter in ihrem Alltag eingeschränkt sind.
Ferner wurde die Versorgung durch andere Dienstleistungen dahingehend bemängelt, dass im Viertel nicht ausreichend Lebensmittelläden und Geschäfte vorhanden sind. Auch Bäckereien und Kneipen werden von den Bewohnenden vermisst. Das individuelle Gefühl besteht, eine lokale Versorgung wäre nicht (mehr) möglich. Relevante Entscheidungen diesbezüglich werden auf kommunaler und unternehmerischer Ebene gesehen, so dass entsprechende Veränderungen dort weiter diskutiert und bewegt werden müssten.
5. Diskussion
Die Ergebnisse des Workshops spiegeln die individuellen lebensweltbezogenen Bedürfnisse und Bedarfe der teilnehmenden Personen in Bezug auf den Sozialraum des Kamphofviertels wider. Aus der Analyse des vorliegenden Materials ergeben sich über die zuvor beschriebenen Ordnungskategorien hinaus zwei wesentliche Betrachtungswinkel in Bezug auf die eingehende Fragestellung. Es zeigt sich, dass für die Teilnehmenden des Workshops zu einer attraktiven Umwelt sowohl soziale als auch bauliche Faktoren relevant sind. Über den Bedarf nach Aufwertung des öffentlichen Raumes hinaus betonen die Teilnehmenden auch wahrgenommene Potenziale, um die soziale Umwelt im Viertel zu verbessern. Dies konkretisieren sie in Ideen für mehr soziale Interaktion. Entsprechende Vorschläge (z. B. Organisation eines Straßenfestes) bieten wichtige Ansatzpunkte für soziale Interventionen und Vernetzung im Viertel. Dies untermauert die Relevanz sozialer Faktoren für die Aufwertung der Attraktivität eines Viertels. Insofern zeigt sich hier die in vorangegangenen soziologischen Betrachtungen bereits aufgezeigte Problematik, dass Infrastrukturen zwar Teil soziologischer Untersuchungen sind, die soziale Komponente jedoch bislang eher als additive Eigenschaft zu den eher technischen bzw. baulichen Charakteristika von Infrastrukturen behandelt wird. Der räumliche Bezug von Infrastrukturen kann somit zu Verbindung aber auch zu Ausgrenzung führen. Über durch Infrastrukturen festgelegte Räume ergeben sich bestimmte soziale Beziehungsformen, sodass die Infrastruktur als ‚Drehpunkt‘ fungiert und somit soziale Wechselwirkungen fördern oder hemmen kann (Bärlosius 2019).
Im Rahmen des World Cafés haben die Teilnehmenden die Möglichkeit genutzt, ihre Ideen und Gedanken in einem kreativen und offenen Rahmen zu teilen und zu diskutieren, um neue Perspektiven und innovative Lösungen für die Gestaltung der Infrastrukturen innerhalb ihres Lebensraums (in Form des Quartiers) zu finden. Hervorzuheben ist, dass Teilnehmende einerseits konkrete Problemlagen im Viertel benannten, diese aber proaktiv mit möglichen Lösungsvorschlägen kommentierten und auch Bereitschaften sichtbar wurden, sich selbst aktiv einzubringen. Dies verdeutlicht bereits den Zusammenhang von System- und Zielwissen unter den Bewohnenden und deutet auf eine grundlegend bürgerschaftlich engagierte Haltung der Workshopteilnehmenden hin. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Anwesenden potenzielle Entwicklungsmaßnahmen artikulieren, jedoch scheinbar Hürden bestehen, welche eine Umsetzung erschweren: Einerseits ist die mittel- und langfristige Nutzungsplanung von Potenzialflächen (z. B. Brachgebiete und Grünstreifen) nicht vollumfänglich bekannt, andererseits fehlen Formate und Kanäle, um entsprechende Ideen einzubringen. Daraus ergibt sich sowohl ein Bedarf nach transparenter Kommunikation von Vorwissen in Bezug auf bauliche Entwicklungen als auch nach Partizipationsmöglichkeiten in städtebaulichen Entscheidungsprozessen. Als relevanten Schnittstellenakteur zwischen den Bürger:innen und der Stadt benennen die Anwesenden das Quartiermanagement der AWO und bestätigen damit dessen Wichtigkeit für die Stärkung der Bürger:innenbeteiligung.
In den Daten wird überdies erkennbar, dass Überlegungen zur städtebaulichen Umgestaltung nicht ausschließlich auf eine Steigerung der ästhetischen Attraktivität abzielen. Stattdessen nimmt die Verbesserung des gemeinschaftlichen Miteinanders eine prominente Stelle im Wunsch nach baulichen Maßnahmen ein, woraus ein Bedarf nach Orten zum Vernetzen zu schließen ist (z. B. Quartierstreffs, Solidargärten). Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass diese Überlegungen zu einem gewissen Grad ein Artefakt (durch Eigenschaften der Methode hervorgerufenes Ergebnis) der im Workshop bearbeiteten Frage nach sozialem Miteinander darstellen könnten.
Der Bedarf nach mehr Begrünung des Viertels und nachhaltiger Mobilitätsinfrastruktur (z. B. Erweiterung des Carsharing-Angebots, Ausbau von Radwegen) verdeutlicht, dass die Teilnehmenden ökologisch-nachhaltige Ansprüche an die Veränderung ihres Sozialraums stellen. Jene nachhaltigen Mobilitätsstrategien könnten einen Beitrag zur Verkehrsberuhigung erwirken und somit auch das allgemeine Sicherheitsgefühl im Viertel verbessern. Kategorieübergreifend dominiert die Frage, wer von den Beteiligten wie viel Verantwortung für die Umsetzung von Entwicklungsmaßnahmen und deren zugehörige Aktivitäten übernehmen sollte.
Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen totaler Autonomie der Bewohnenden und totaler Zuständigkeit durch professionelle Institutionen. Gemäß den Prinzipien der Sozialraumorientierung sollten Interventionen des Quartiermanagements der aktivierenden Arbeit und damit dem Empowerment der Bewohnenden Vorrang geben. Das Credo hierzu lautet: „So wenig professionelle Hilfe wie möglich, aber so viel wie nötig“. Die Ergebnisse des Workshops verdeutlichen die Richtigkeit der in integrierten Stadtentwicklungskonzepten antizipierten Entwicklungsfelder moderner Städte (z. B. Verbesserung des Sicherheitsgefühls, vgl. hierzu BMVBS 2007, 30) oder sozialverträglicher Stadtverkehr (vgl. ebd. 32ff.)) und konkretisieren diese für das Kamphofviertel in Bielefeld.
Die gewonnenen Erkenntnisse sind mit Blick auf die von Martina Löw beschriebene Soziologie der Städte von Relevanz, in welcher die Autorin die Paradoxie betont, dass eine globale Architektur dafür zu sorgen scheint, dass sich Großstädte immer ähnlicher werden, während es zugleich die Aufgabe der Stadtplanung sei, der jeweiligen Stadt ein ‚unverwechselbares Gesicht‘ zu geben. Dazu gehöre auch, die ‚Eigenlogik‘ und ‚Gefühlsstruktur‘ der Stadt und ihrer Bewohnenden zu berücksichtigen, um eine gelingende Stadtentwicklung zu ermöglichen (Löw 2010). Eine Betrachtungsperspektive und ein konkretes Interventionsfeld für dieses Spannungsfeld bietet dabei die Fokussierung auf Quartiere. Insbesondere auf dieser klein- und sozialräumlichen Ebene zeigen sich gestaltbare Wechselwirkungen verschiedener Komponenten innerhalb eines Raumes, durch welche soziale Räume innerhalb und jenseits der materiellen Welt entstehen und gemeinsam entwickelt werden können (Löw 2001).
Ein klassisches Moment in der Quartiersarbeit besteht darin, dass, nach offen partizipativen Sammlungsphasen (wie sie hier nun vorliegen), die vielfältigen „eingesammelten“ Vorstellungen und Wunschäußerungen der Anwohnenden im Abgleich mit etwa sozialrechtlichen, stadtplanerischen, sozialpolitischen oder pragmatischen Bezugspunkten aufgeteilt werden nach intersubjektiv anerkennenswerten und kollektiv geteilten Bedarfen (die dann bestenfalls der weiteren Umsetzung zugrunde gelegt werden) und eher partikularen subjektiven Bedürfnissen (die dem privaten Bereich zugeordnet werden). Soweit der klassische Ansatz. Transformativ wäre es aber, nicht anhand einer normativen Bezugsfolie zu entscheiden, was anerkennenswert ist – und was nicht –, sondern Ansätze zu identifizieren, wie die Systemebene so zu verändern wäre, dass Vorstellungen überhaupt erst anerkennungsfähig werden.
5.1 Methodische Limitationen
Die Einhaltung der Gütekriterien qualitativer Sozialforschung ermöglichte eine systematische und transparente Erschließung tiefergehender inhaltlicher Zusammenhänge in der Quartiersarbeit sowie eine Verdichtung komplexer subjektiver Perspektiven und Interaktionen der Teilnehmenden zu aussagekräftigen Kategorien. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2019) erwies sich in ihrer methodischen Klarheit und induktiven Flexibilität als besonders geeignet für die partizipative und transformationsorientierte Forschung. Sie ermöglichte die systematische Auswertung gemeinsamer Perspektiven im World Café und die Ableitung zentraler lebensweltlicher Bedarfe im Kontext der Quartiersarbeit der Teilnehmenden. Dadurch konnten praxisnahe Handlungsempfehlungen für das Quartiermanagement abgeleitet werden. Die zuvor ausgeführten Erkenntnisse unterliegen jedoch auch limitierenden Faktoren. In Bezug auf die Methode des World Cafés ist anzumerken, dass das Gesprächssetting im Gruppenformat von der Zusammensetzung der Gruppe aus aktiveren und weniger aktiven Teilnehmenden bestimmt wird. Anwesende können dem Gesagten nonverbal zustimmen (z. B. durch Nicken), oder in Form von Schreibbeiträgen auf den Papiertischdecken an der Diskussion teilnehmen. Beide Aspekte werden durch das angewandte Transkriptionsverfahren nicht vertiefend berücksichtigt, welches sich zuvörderst auf die getroffenen verbalen Aussagen der Teilnehmenden fokussiert. Da Beiträge im World Café bewusst aufeinander aufbauen sollen, statt die Relevanzsetzung der einzelnen Person umfassend darzustellen, sind rein quantifizierende Aussagen in diesem Auswertungsverfahren nicht sinnvoll. Eine Herausforderung in der konkreten Durchführung des World Cafés war die Doppelrolle der teilnehmenden Forscher:innen als Tischgastgebende und dokumentierende Person. Dadurch wurde einerseits die moderierende Rolle des Tischgastgebenden geschwächt und andererseits kann die Qualität der Gesprächstranskription negativ beeinflusst worden sein. Weiterhin kommt einschränkend hinzu, dass keine näheren Aussagen zur Zusammensetzung der Stichprobe getroffen werden können, da keine Sozialdaten erhoben wurden. Dabei könnte auch die Anfrage gestellt werden, inwiefern das Jugendzentrum des Falkendoms die erforderliche Niederschwelligkeit für alle Zielgruppen bietet und die Diversität im Viertel in der Planung des Workshops ausreichend berücksichtigt wurde und inwiefern die Zahl der Beteiligten zur Repräsentanz beigetragen hat. Nicht zuletzt sei darauf verwiesen, dass die im Workshop gestellten Fragen bereits vor Einsetzung der wissenschaftlichen Begleitung feststanden und nicht anhand theoriegeleiteter wissenschaftlicher Kriterien erarbeitet wurden.
6. Fazit und Ausblick
Der hier verfolgte transformationsorientierte Ansatz in der Public Health hat gezeigt, inwiefern partizipativ erhobenes Wissen über verschiedene Gesundheitsdeterminanten und deren Verhältnisse zueinander im Sinne der in der Transformationsforschung etablierten Unterscheidung von System-, Ziel- und Transformationswissen systematisiert und zur Ableitung von Transformationspotenzialen im Bielefelder Quartier Kamphof synthetisiert werden kann. Eine lebensweltorientierte Bedarfs- und Bedürfnisanalyse kann dabei unterstützen, die bisherigen Veränderungen durch die Stadtteilentwicklung im Kamphof zu bewerten und mögliche Schwächen aufzudecken. Durch den untersuchten Workshop ist es gelungen, das Engagement der Bewohnenden zu aktivieren und initiativ für das nachbarschaftliche Kollektiv tätig zu werden. In Folge des Workshops formierte sich eine Gruppe von Interessierten, die sich zu den Themen „Organisation eines Straßen-/ Quartierfestes“, „Verkehrsproblematik im Kamphofviertel“ und „Erhalt/Nutzungsoptionen für den Kotten (a. d. Heinrich-Koch-Straße)“ engagieren möchten (AWO 2023). Eine klare Kommunikation und das Einbeziehen der Bürger:innen in Entscheidungsprozesse können dabei entscheidend sein, um deren Engagement und Zufriedenheit zu fördern, insbesondere in städtischen Entwicklungsprojekten (Deusdad et al. 2024). Dafür werden Strukturen benötigt, um die Einbindung der Bewohnenden in den weiteren Entwicklungsprozess sicher zu stellen. Die Kommunikationsschnittelle zwischen Stadt und Anwohnenden sollte deshalb gestärkt werden. Der Umsetzungsstand von laufenden Entwicklungsprozessen sollte transparent in Richtung der Bewohnenden kommuniziert werden. Besonders die unklare Nutzung von Potenzialflächen könnte Ansatzpunkte für bürgerliches Engagement bieten.
Das Quartiermanagement erweist sich angesichts der beschriebenen Bedarfe in seiner Relevanz und sollte der Partizipation der Bewohnenden gemäß den zuvor beschriebenen Prinzipien der Sozialraumorientierung auch weiterhin einen großen Stellenwert beimessen. Um dies zu gewährleisten, sollten Maßnahmen getroffen werden, um die diversen Zielgruppen im Kamphof angemessen zu berücksichtigen. Hierbei könnte die Veröffentlichung von mehrsprachigem Einladungs- und Informationsmaterial dazu beitragen, Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen. Der Kontakt zum Jugendzentrum Falkendom könnte darüber hinaus Möglichkeiten bieten, die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen mit einzubeziehen. Auch der Kontakt zu anderen sozialen Akteur:innen und Institutionen sollte fortgesetzt und werden, um Zugänge zu den vielfältigen Milieus zu intensivieren.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Anwendung der World-Café-Methode im Rahmen der Stadtentwicklung und Quartiersarbeit/Sozialraumorientierung viele Ansatzpunkte für zukünftige Forschungen bietet. Wie sich am Beispiel des Kamphofviertels in Bielefeld erwiesen hat, könnte die Anwendung auch in anderen Sozialräumen dazu beitragen, die Partizipation der Bürger:innen zu fördern und die Entwicklung von Stadtteilen und Gemeinden zu unterstützen und so längerfristig an die Bedarfe der Bewohnenden anzupassen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Die Ethikkommission der Universität Bielefeld hat das Forschungsvorhaben nach den ethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e. V. und des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. geprüft und rückwirkend für ethisch unbedenklich befunden. Der Antrag ist unter der Nummer 2023-218 hinterlegt.
Fördererhinweis und Interessenskonflikte
Kamil J. Wrona, Leona Aschentrup, Joanna Albrecht und Marcel Siegler werden gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. Alle weiteren Autor:innen erhielten keine finanzielle Unterstützung für die Veröffentlichung dieses Artikels. Alle Autor:innen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte haben.
Autor:innenbeiträge
KJW, KH & FF Erstellung des Manuskriptentwurfs; KJW, MS, HB, KH & TAN Planung und Durchführung des Workshops; KH, FF, MS, LA, JA & TAN Inhaltliche Überarbeitung. HB, KH, AP & FF: Auswertung der Workshopergebnisse; KJW & JA Finalisierung; KJW & MS: Supervision und Projektverantwortung.
Literatur
AWO Kreisverband Bielefeld e. V. (2022): Mitmischen – Mitreden – Mitmachen im Kamphofviertel. Themen-Workshop am Samstag, 19.11.22, 16-19 Uhr im Falkendom. AWO, Bielefeld.
Barlösius, Eva (2019): Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste. Ein Beitrag zur Gesellschaftsanalyse. Campus Verlag, Frankfurt am Main.
Bezirksamt Mitte von Berlin (2019): World-Café zum integrierten Entwicklungskonzept für den Nahraum Bremer Straße. Online verfügbar unter: https://www.berlin.de/bamitte/aktuelles/pressemitteilungen/2019/pressemitteilung.782513.php Zugriff: 31.10.2024
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) (2007): Integrierte Stadtentwicklung als Erfolgsbedingung einer nachhaltigen Stadt. Hintergrundstudie zur „Leipzig-Charta einer nachhaltigen europäischen Stadt“ der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Berlin/Bonn.
Brown, Juanita/Isaacs, David (2005): World Café: Shaping our futures through conversations that matter. Berrett-Koehler, San Francisco.
Deusdad, Blanca/Djurdjevic, Milena/Hall, Karen A. (2024): Participation of older adults in the digital co-creation of long-term care services with the SoCaTel platform. In: International Journal of Care and Caring, online first, S. 1–21. https://doi.org/10.1332/23978821y2024d000000036 Zugriff: 05.05.2025
Freie und Hansestadt Hamburg (2013): Zukunftsbild Elbinseln 2013 – Offene Planungswerkstatt für Veddel und Wilhelmsburg. Online verfügbar unter: https://www.hamburg.de/contentblob/3752752/1d6e8a2a5c214509d433d05193f87b03/data/world-cafe-planungswerkstatti.pdf Zugriff: 31.10.2024
Glaser, Barney Galland/Strauss, Anselm Leonard (1967): The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research. Chicago, Aldine.
Herrmann, Heinz (2019): Soziale Arbeit im Sozialraum. Stadtsoziologische Zugänge. Kohlhammer, Stuttgart.
Hölscher, Katharina/Wittmayer, Julia M./Avelino, Flor/Giezen, Mendel (2019): Opening up the transition arena: An analysis of (dis)empowerment of civil society actors in transition management in cities. In: Technological Forecasting and Social Change, 145, S. 176–185.
Kremer-Preiß, Ursula/Mehnert, Thorsten (2017): Handreichung Quartiersentwicklung. Praktische Umsetzung sozialraumorientierter Ansätze in der Altenhilfe. medhochzwei Verlag, Heidelberg.
Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Löw, Martina (2010): Soziologie der Städte. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Mayring, Philipp/Fenzl, Thomas (2019): Qualitative Inhaltsanalyse. In: Baur, Nina/Blasius, Jörg (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Springer VS, Wiesbaden, S. 633–648.
Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) (2011): Moderne Sozialplanung. Ein Handbuch für Kommunen. Reibling, Nadine (2021): Soziologische Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i116-3.0 Zugriff: 05.05.2025
Silvestri, Georgia/Hebinck, Aniek/Wirth, Timo von/Mulders, Wouter (2022): Shared Green Deal Arena guidelines: Designing translocal, inclusive spaces for co-creation to achieve the EU Green Deal. Shared Green Deal, Cambridge.
Singer-Brodowski, Mandy/Holst, Jens/Goller, Alexandra (2021): Transformative Wissenschaft. In: Schmohl, Tobias/Philipp, Thomas (Hrsg.): Handbuch Transdisziplinäre Didaktik. Transcript, Bielefeld, S. 347–356.
Wehrheim, Jan (2015): Stadt – Quartier – Gesellschaft. In: Knabe, Johannes/Blandow, Robert/van Rießen, Anne (Hrsg.): Städtische Quartiere gestalten. Kommunale Herausforderungen und Chancen im transformierten Wohlfahrtsstaat. Transcript, Bielefeld, S. 21–40.
World Health Organisation (WHO) (1998): Health promotion glossary. WTO, Geneva.
Zitiervorschlag
Wrona, Kamil J., Kolja Heckes, Florian Fischer, Hannes Breeder, Katharina Hellmich, Anne Pollmann, Marcel Siegler, Leona Aschentrup, Tim-Axel Nieke und Joanna Albrecht (2025): Gesundheit und Gemeinschaft im Fokus. In: sozialraum.de (16) Ausgabe 1/2025. URL: https://www.sozialraum.de/gesundheit-und-gemeinschaft-im-fokus.php, Datum des Zugriffs: 19.06.2025